In unserer Kolumne problematisiert Emine Aslan die Verhältnisse zwischen den Debatten nach den Nazi-Aufmärschen in Chemnitz, Köthen und Dortmund. Hierbei liegt der Fokus auf den medialen und politischen Debatten der vorangehenden Jahre – und im Zusammenhang damit auch mit zu kurz gekommenen rassismuskritischen Debatten im Anschluss.
Der deutsche Diskurs zu den Themen, mit denen ich mich beschäftige, hat mich schon immer fasziniert. Man kann weder hin- noch wegsehen. Immer mit einem leicht verwirrten bis entgeisterten Gesichtsausdruck. Mittlerweile gucke ich drei Mal, ob es sich bei einem Artikel nicht doch um eine Veröffentlichung im Postillon handelt. Immer häufiger ist dies aber nicht der Fall. In der Bundesreplik schafft man es tatsächlich, Neonazi-Aufmärsche als das zu benennen, was sie sind, und Hans-Georg Maaßen, Noch-Präsident des Verfassungsschutzes zunächst zu verharmlosen, um später nach langem Hin und Her seine Versetzung als Sonderberater im Bundesinnenministerium zu beschließen.
Die politischen Ausreden um diese Versetzung ließen auch nicht lange warten. Im Ruhestand hätte er für seine Bezüge bezahlt werden müssen, das hätte die Bürger*innen ebenso gestört, hieß es. Selbst diese Argumentation legt die Annahme nahe, dass es weniger um die realpolitischen Folgen von rechtsgesinnten Personen in hohen öffentlichen Ämtern geht, als um einen moralischen Widerspruch, der dem liberalen Mainstream der Gesellschaft aufstoßen könnte. Es geht hier jedoch auch darum, dass ein Mensch mit rechter Gesinnung ein hohes öffentliches Amt bekleiden darf, somit weiterhin staatliche Interessen repräsentiert, und Einblick in und Einfluss auf politische Entscheidungen haben wird.
Man muss sich die Signalpolitik und die damit verbundene Entfremdung und Dehumanisierung von People of Color in diesem Land einmal vor Augen führen. Entgegen der zahlreichen Kommentare, die ich hierzu im Netz bereits gesehen habe, sehe ich in diesem Kontext das Problem nicht allein in dem Privileg des „alten weißen Mannes“, sondern auch in erheblichem Maße in der Dehumanisierung von People of Color.
Neben dieser Signalpolitik sind auch die potentiellen Folgen für rassifizierte Menschen zu beachten. Die weitreichenden und traumatisierenden Folgen von rassistischen Verstrickungen in staatlichen sowie polizeilichen Ämtern ist in die Historie der Bundesrepublik eingeschrieben. Man kommt in dem Falle Maaßen nicht daran vorbei, an den NSU-Komplex zu denken. Oder an Andreas Temme, ehemaliger V-Mann, der damals in dem Kasseler Internet-Café gegenwärtig war, in dem Halil Yozgat vom NSU ermordet wurde. Jener Andreas Temme, der kurz nach dem Mord an Yozgat mit dem Geheimdienstbeauftragten Gerald-Hasso Hess telefonierte. In diesem Telefonat belehrte ihn Hess mit den folgenden Worten: „Ich sage jedem ja, wenn ihr wisst, dass sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren.“ Man kommt als PoC auch nicht daran vorbei, ein unfassbar widerliches Gefühl im Magen zu verspüren, wenn man die Meldungen über SEK-Beamte liest, die sich selbst „Uwe Böhnhardt“ nennen. Man kommt nicht daran vorbei, bei der kürzlich über #BlackLivesMatter Berlin publik gemachten rassistischen Polizeigewalt an einem Schwarzen Mann mit einem erdrückenden Gefühl in der Brust an Oury Jalloh zu denken. Und ich kann mir bereits ausmalen, wie die Polizei in Berlin diese rassistische Gewalt zu verharmlosen versuchen wird, indem der betroffene Mann erneut kriminalisiert wird.
Mit dem Wissen um Oury Jalloh möchte ich jedem Menschen, der sowas mitbekommt, dazu raten, einzuschreiten. By any means neccessary. Denn in gewissen Kontexten kann es ein Menschenleben kosten, dies nicht zu tun.
Ich wundere mich immer wieder, wie schnell die „schleichende“ Entwicklung diese rassistischen Umstände normalisiert. Während ich bereits vor etwa zwei Jahren darüber nachdachte, wann wohl die politischen und medialen Diskurse um Muslim*innen in der Realpolitik, auf das damals noch so bizarr und unbegreifbar erscheinende, Niveau des staatlichen Rassismus in Frankreich sinken würde, hätte ich nicht gedacht, dass sich diese Debatten so schnell, so stark normalisieren würden.
Obwohl ich aufgrund meiner fehlenden Französischkenntnisse nur halb so viel vom staatlichen Rassismus in Frankreich mitbekam wie von anderen Ländern, war mir der staatliche Rassismus Frankreichs verhältnismäßig sehr stark sichtbar, weil er von den gut organisierten Aktivist*innen vor Ort international sichtbar gemacht wurde. Vor allem hinsichtlich kolonialer Logiken in dem staatlichen Umgang mit Personen of Color. Und hierzu zählt auch die politische Intervention in die Selbstbestimmung von muslimischen Frauenkörpern.
Es waren sehr gewaltvolle Bilder, die sich mir von diesen Diskursen immer wieder einprägten. Bilder von Polizisten, die an öffentlichen Stränden Frauen im Burkini gewaltvoll den Hijab vom Kopf zerrten, der Gedanke daran, dass sich Menschen, denen man alltäglich auf der Straße begegnet, die Polizisten überhaupt auf diese Frauen aufmerksam machten. Möglich war dies, weil sich entsprechende Verbote gesetzlich manifestiert hatten. Wir sind vielleicht noch nicht bei den extremen Ausmaßen der antimuslimischen Politik Frankreichs angekommen, doch die Diskurse, die in diesem Land geführt werden, die Besetzung der Sprecher*innenpositionen sowie die gestellten Fragen, sind ein signifikanter Marker dieser Entwicklungen. Selbst wenn diese Tendenzen sich zunächst noch hinter rechtspopulistischen Terre-Des-Femmes-Kampagnen, Lehrverbot für Frauen* im Hijab, und der rassistischen Diskriminierung von Frauen* in Burkinis in öffentlichen Schwimmbädern, oder einem Kopftuchverbot für Schüler*innen verstecken, so deutet die Forderung eines SPD-Spitzenkandidaten, das Kopftuch für unter 18-Jährige zu verbieten, auf die Richtung hin, in die Diskurse und damit zusammenhängend realpolitische Konsequenzen steuern.
In Chemnitz mobilisierten Nazis tausende von Menschen. Auf den Straßen griffen größere Gruppen Personen of Color an und jagten sie. Trotzdem sind die lautesten Stimmen jene, deren Aussagen sich auf einer Skala von „Fake News“ bis „Wir müssen den freiheitlich- demokratischen Staat schützen“ bewegen. Während Hans-Georg Maaßen die Realität der rassistischen Hetzjagden in Chemnitz in Frage stellte, dominierten als Gegenposition hierzu zwei Diskurse am lautesten: #WirSindMehr-Bekundungen und die Personifizierung des demokratischen Rechtsstaates. Der Schutz des Nationalstaates sowie die Aufrechterhaltung des weißen Selbstbildes tritt mit solchen Diskursen vor die gelebten Realitäten von Personen of Color.
Immer wieder ist nämlich zu beobachten, wie nach größeren rassistischen Skandalen Empörungswellen laut werden, die in ihrer Sinnhaftigkeit eher bei dem beschädigten Selbstbild von weißen Menschen ansetzen, als in einem nachhaltigen Akt der Solidarität mit PoC. Oft verdrängen diese #WirSindMehr-Bekundungen auch die rassistischen Erfahrungen, die PoC in Deutschland ihr ganzes Leben lang machen. Obwohl es wichtig ist, gesamtgesellschaftlich ein klares Zeichen zu setzen, glaube ich, dass dies mit der Wahl der richtigen Sprache und der richtigen Aktionen auch ohne Gaslighting von Schwarzen Menschen und PoC möglich ist. Die weiße Gesellschaft könnte also auch ein klares Zeichen gegen Rassismus setzen, dass die gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse sowie ihr eigene Verantwortung als „ passive nicht-Rassisten“ statt aktive anti-Rassisten anerkennt. Anzunehmen, dass ein imaginiertes „Wir“ den tatsächlich erfahrenen Rassismus von PoC überwiegt, fühlt sich eher wie ein Schlag in die Magengrube an, und trägt langfristig bestenfalls dazu bei, dass die nächsten Rassismus-Erfahrungen wieder darüber verharmlost werden, dass sich doch so viele Menschen zu #WirSindMehr bekannt hatten.
Gerade die Fassade des nicht rassistischen, weißen Europäers als Bewahrer der Menschenrechte schlechthin, bröckelt in den letzten Monaten immer mehr. In diesem Land wurde tatsächlich darüber diskutiert, ob man Menschen auf dem Mittelmeer überhaupt vor dem Ertrinken retten sollte. Faktisch werden keinerlei staatliche Rettungen angeboten, sondern die Flucht nach Europa zunehmend kriminalisiert und verunmöglicht. Zivilgesellschaftliches Engagement und private Seenotrettung stellen somit die einzige reale Alternative zum Tode dieser Menschen dar. Vor dieser Realität kann jede noch so intellektualisierte Debatte um „private Seenotrettung“ sich nicht vor dem Dilemma retten, eine faktisch zutiefst moralische Frage zu sein.
Denn alles will der liberale Europäer diskutabel wissen, auch Menschenleben. Nur die Legitimität von nationalen Grenzen und Gesetzen nicht. Ein Sinnbild des perfekten Bürgers[1], der zuerst Bürger, dann Mensch ist. „Wir“ müssen vorrangig die Demokratie schützen, nicht jene Menschen, die entweder schon so lange in diesem Land Bürger*innen dritter Klasse sind, dass sie dem „freiheitlich demokratischen Rechtsstaat“ nicht mehr vertrauen können - jedenfalls nicht mit ihrem Leben. Oder jene, die noch nicht lange genug hier sind, um einzuordnen, wie tief strukturell und institutionell die Gegenwart dieses Landes mit seiner Vergangenheit zusammenhängt. Vor allem, weil dieser Selbstanspruch noch lange nicht radikal genug hinterfragt wird, um anzunehmen, dass sich eine breite politische und öffentliche Auseinandersetzung als nachhaltig erweisen könnte. Aber auch, weil normalisierte Gesetze und Regelungen in regelmäßigen Abständen zum Tod der kriminalisierten und deshalb nicht als schützenswert empfundenen Menschen führen. An den Außengrenzen, auf dem Mittelmeer, in der Gefängniszelle nach dem Racial Profiling, auf offener Straße, wo auch immer sich institutionelle Macht zu manifestieren vermag.
Wer schützt Menschen, die zur Zielscheibe von Rassismus werden?
Die Frage, die es sich vor dem Hintergrund von Chemnitz, Köthen, Dortmund und, und, und… also wirklich zu stellen gilt ist: Wie kann Deutschland zukünftig präventiv gegen rechten Terror vorgehen?
Welche Gelder werden hierfür mobilisiert, welche Projekte ins Leben gerufen, und mit wem werden diese Stellen entsprechend besetzt? Wie kann gewährleistet werden, dass Chemnitz und Köthen nicht folgenlos an den medialen und politischen Debatten vorbeiziehen? Und damit ist nicht gemeint, dass Politiker*innen sich empören. Das ist das Allermindeste. Dafür sollte sich keine Person of Color dankbar schätzen. Anstatt in diesem politischen Klima von Rassismus und Faschismus weiterhin über Kopftuchverbote zu diskutieren, sollte der Verfassungsschutz als institutionalisierte Gewalt noch viel fundamentaler hinterfragt werden. Es scheint noch immer kein breites Verständnis darüber zu herrschen, dass genau solche stigmatisierenden Diskurse über Muslim*innen einen Beitrag zur Normalisierung von rassistischer Gewalt leisten. Denn weder der von den Grünen geforderte institutionelle Neustart des Verfassungsschutzes, noch die von den Linken vorgeschlagene Alternative in Form eines staatlichen Forschungsinstitutes wird rassifizierten Menschen in Deutschland per se einen Schutz vor der gewohnten rassistischen Instrumentalisierung politischer Macht garantieren können. Ganz zu schweigen von der katastrophalen Debatte darüber, gewisse Funktionen des Verfassungsschutzes an die Polizei zu übertragen.
Ebenso sollten wir die Frage diskutieren, wie dies von „unten“ erreicht werden kann, da sich die Zivilgesellschaft keinen Gefallen tut, wenn sie auf die „Rettung“ durch Vater Staat oder Mutti Merkel hofft. Durch diese Selbst-Infantilisierung können einem auch ein Haufen organisierter Nazis auf den Straßen und in staatlichen Ämtern die Diskurshoheit wie einen Lolli aus der Hand reißen.
Wie ist damit umzugehen, dass muslimische zivilgesellschaftliche Organisationen bereits mit vagen Vermutungen als fundamental und problematisch kriminalisiert werden, während Hans-Georg Maaßen uns nicht hätte deutlicher machen können, wie er sich ideologisch verortet? Denn die sich immer wieder ereignenden rassistischen Angriffe, die mit ihnen verstrickten politischen und medialen Debatten sowie der Umgang damit, senden ein Zeichen und hinterlassen ein Gefühl bei rassifizierten Menschen in Deutschland. Diese Diskurse machen deutlich, wo die Prioritäten liegen.
Ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat ist nämlich nichts wert, solange er auf Kosten von rassifizierten und entrechtlichten Menschen handelt. Er wird früher oder später immer wieder ins Wanken geraten. Empörung und Empathie, die erst innerhalb der eigenen nationalen Grenzen und auch dann nur in den sichtbarsten Extremfällen erfolgt, ist ausschließlich am eigenen Frieden, selten aber an globaler Gerechtigkeit interessiert. Wenn wir aber staatliche Gewalt tolerieren, um die Staatsgewalt zu „schützen“, anstatt die Fehler und Lücken in diesem System offenzulegen und eine antirassistische, feministische, soziale Politik voranzutreiben, um marginalisierte Menschen zu schützen, werden auch meine Kindeskinder sich mit ihrem Chemnitz konfrontiert sehen, ohne auf einen erfolgreichen Umgang in der Vergangenheit zurückgreifen zu können. Dann wird es weiterhin tabuisiert werden, sich rassistischer staatlicher Gewalt, etwa Abschiebungen, gewaltvolles Racial Profiling, vehement zu widersetzen, weil die rassistischen Verstrickungen der Staatsgewalt nicht als solche erkannt werden.
Immer wieder werden Muslim*innen und geflüchtete Menschen nach ihrer Loyalität zum Grundgesetz gefragt. Doch wie steht es mit unserer Loyalität dem Menschsein gegenüber, wenn doch die „Alle Menschen sind gleich“, und „ich sehe keine Farben“-Phrasen umhergeworfen werden, sobald struktureller und staatlicher Rassismus öffentlich adressiert wird? Wir kommen nicht daran vorbei, das politische Kalkül hinter der rassistischen Hetze anzuerkennen, denn wer „sex sells“ versteht, muss auch „racism sells even more“ verstehen. Rechter Populismus war schon immer ein lukratives Geschäft für Politiker*innen und Autor*innen. Das Geschäft mit der islamfeindlichen und rassistischen Hetze bringt Leuten wie Alice Schwarzer, Thilo Sarrazin, Zana Ramadani und vielen anderen seit Jahren diskursive Aufmerksamkeit und Geld. Wir beobachten und benennen seit Jahrzehnten die Effekte dieser hegemonialen Diskurse. Vermutlich ist das der einzige Grund, weshalb ich noch immer schreibe, obwohl ich der Überzeugung bin, dass alles in dieser Richtung bereits gesagt wurde.
Und wie oft werden wir noch über diese Themen reden müssen, bis sich radikale Veränderungen auf diskursiver und realpolitischer Ebene verzeichnen lassen? Bis wir also die Legitimität von institutionalisierter Macht im Verfassungsschutz und bei der Polizei anzweifeln, anstatt immer wieder die politischen Gesinnungen und Emanzipation von Muslim*innen und/oder anderen PoC zum Bestandteil fremdbestimmter Debatten zu machen? Wie viel Faschismus verträgt Europa, um sein „aufgeklärtes“, „humanistisches“ Gesicht zu wahren? Und könnt ihr das rausfinden, ohne unser Leben zu bedrohen? Die Resultate dieser sich stetig wiederholenden rassistischen Diskurse erleben wir als Personen of Color nämlich auf der Straße, in Bildungseinrichtungen, und auf jeglicher institutioneller Ebene, die einem noch einfallen mag.
[1] Hier wurde bewusst nicht gegendert, um sichtbar zu machen, dass der weiße Mann als gesellschaftliche Norm gedacht wird.