16.10.2017
„Scramble for Syria“: Wettlauf für die Zeit nach dem IS
Streitkräfte der „Syrian Democratic Forces“ (SDF) verkünden am 09. September die Offensive auf Deir az-Zor. Foto: VOA/ Wikicommons, Public Domain (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Syrian_Democratic_Forces_announce_Deir_ez-Zor_offensive.jpg)
Streitkräfte der „Syrian Democratic Forces“ (SDF) verkünden am 09. September die Offensive auf Deir az-Zor. Foto: VOA/ Wikicommons, Public Domain (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Syrian_Democratic_Forces_announce_Deir_ez-Zor_offensive.jpg)

Im Osten Syriens stehen sich US-unterstützte Milizen und die syrische Armee inzwischen erstmals direkt gegenüber. Der Todesstoß gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien wird zunehmend zu einem Ringen um die besten Ausgangspositionen in einem Nachkriegs-Syrien – und birgt zugleich neue Risiken.

Bis zum türkischen Einmarsch in Idlib am 7. Oktober fanden in den vergangenen Monaten die maßgeblichen Entwicklungen im Syrienkonflikt in den südlichen und östlichen Provinzen des Landes statt. In der Grenzprovinz Deir az-Zor liefert sich das syrische Militär ein Wettrennen mit den US-unterstützten „Syrischen Demokratischen Kräften“ (SDF), einer kurdisch-arabischen Allianz, die vor allem von der syrisch-kurdischen YPG dominiert wird. Es geht um diejenigen Landesteile, die nach sechs Kriegsjahren noch zur Debatte stehen. Schlüsselpositionen in der erdöl- und erdgasreichen Provinz im Osten sollen demjenigen, der sie kontrolliert, einen Trumpf bei den Verhandlungen um eine Nachkriegsordnung in Syrien verleihen.

Seit Truppen des Regimes am 9. September nach der Einnahme von Teilen der Stadt Deir az-Zor vom westlichen Ufer aus den Euphrat überquerten, ist eine neue Konfliktdynamik entstanden. Erstmals stehen sich auf der Ostseite des Flusses die syrische Armee, regime-treue Milizen und US-unterstützte Kräfte der SDF direkt gegenüber. Der Islamische Staat (IS) ist als Puffer und gemeinsamer Feind zwischen beiden Seiten weitestgehend aufgerieben und hat sich flussabwärts in die grenznahen Städte Mayadin und Abu Kamal, nahe der irakischen Grenze zurückgezogen.

Eine Entwicklung mit Vorzeichen

Als im Juni dieses Jahres ein US-Jet ein syrisches SU-22 Kampfflugzeug nahe der Stadt Tabqa abschoss, westlich von Ar-Raqqa, war dies ein erster Hinweis auf eine Veränderung der Dynamik am Boden. Die SDF gaben an, das syrische Kampfflugzeug habe sie angegriffen. Sowohl Tabqa, als auch Ar-Raqqa werden inzwischen mehrheitlich von der kurdisch-arabischen Allianz gehalten. Das Pentagon bezeichnete den Vorfall als Verteidigungsmaßnahme. Russland verurteilte den Abschuss, über rhetorische Drohungen ging die Reaktion Moskaus nicht hinaus.

Bislang haben die SDF 90 Prozent der Stadt Raqqa vom IS zurückerobert. Am 14. Oktober meldeten Nachrichtenagenturen, dass rund 100 IS-Kämpfer dier Stadt verlassen hätten. Die wichtige IS-Hochburg steht kurz vor dem endgültigen Fall.

Innerhalb von zwölf Tagen schoss das US-Militär in Süd-Syrien bei Al-Tanf zwei Drohnen iranischer Produktion ab, die in den gesperrten Luftraum rund um die US-Basis eingedrungen waren, auf der US-unterstützte syrische Milizen trainiert werden. Diese bestehen aus ehemaligen FSA-Verbänden und werden unter dem Begriff „Vetted Syrian Opposition“ zusammengefasst.

Mitte Mai und Anfang Juni bombardierten US-Flugzeuge schiitische Milizionäre, die entgegen mehrfacher Warnung den Sperrbezirk um die Oppositionseinheiten verletzt hatten. Das Gebiet von Al-Tanf steht unter dem Schutz einer Deeskalationszone. Das Regime fühlte vor, welchen Manöverspielraum es gegenüber den SDF besitzt, die USA zeigten auf: Bis hier hin und nicht weiter. Dass erstmals US-Kräfte auf die syrische Armee und die mit ihr verbündeten Milizen das direkte Feuer eröffneten, ließ Militärexperten aufhorchen.

Obwohl sie so klein sind, sind die Rebellenstellungen bei Al-Tanf ein Problem für Damaskus. Lange fürchtete das Regime, dass Al-Tanf einen Brückenkopf der Rebellen und der USA für Geländegewinne entlang der syrisch-irakischen Grenze darstellen könnte. Auch für die vom Regime kontrollierten Gebiete im Osten könnte Al-Tanf ein Problem darstellen. Al-Tanf liegt nur 100 Kilometer von Rebellenhochburgen nahe der Hauptstadt entfernt, für deren Eroberung das Regime Jahre gebraucht hatte.

Das Regime auf Expansionskurs

Die Abschüsse haben gezeigt, dass Washington punktuell gewillt ist, Damaskus zu konfrontieren. Ob sie Ausdruck einer konkreten US-Strategie für Syrien sind, das Regime und dessen Bewegungsspielraum in Sinne eines „Containtment“ eindämmen zu wollen, ist allerdings fraglich. Die militärischen Reaktionen der USA, zusammen mit den SDF, sind eher darauf zurückzuführen, dass die Trump-Regierung dem Pentagon mehr Handlungsbefugnisse am Boden verliehen hat. Unter Obama mussten auch kleine Entscheidungen „von oben“ abgesegnet werden.

Ein weiteres Argument gegen die Annahme, die USA verfolgten eine Eindämmungsstrategie: Das Regime gewinnt inzwischen wieder umfangreiche Gebiete zurück. Seit Juni kontrolliert Damaskus erstmals wieder sowohl Teile der syrisch-irakischen Grenze im Steppenland der Region Badiya, als auch in der Provinz Sweida im Süden, nahe der Grenze zu Jordanien. US-unterstützte Rebellenformationen wie die „Armee Löwen der östlichen Gebiete“ (arab. Jaish Usud al-Sharqiya) und die „Märtyrer Ahmad Al-Abdoo Brigade“ (arab. Qawwat al-Shaheed Ahmad al-Abdu)  wurden zuvor von den USA und Jordanien aufgefordert, sich aus den Gebieten nach Jordanien zurückzuziehen, was auf massive Kritik innerhalb der Rebellenformationen führte.

Mitte August hatte die Trump-Regierung die CIA-Unterstützung für Rebellengruppen in Syrien aufgekündigt. Damaskus gewinnt inzwischen in zunehmenden Maße Gebiete zurück, die es seit 2011 verloren hatte. Die Einnahme der syrisch-irakischen Grenze war nicht nur symbolisch bedeutend für Damaskus. So konnte das Regime auch die US-unterstützten Milizen in Al-Tanf von einem direkten Zugang zum nordöstlich gelegenen Kronjuwel Deir az-Zor abschneiden.

Deir az-Zor: Das Kronjuwel im Osten

Die ehemalige IS-Hochburg und die angrenzende gleichnamige Provinz gelten wegen ihrer Öl- und Gasfelder als das territoriale Kronjuwel im Osten Syriens. Deir az-Zor ist das Energiezentrum des Landes. Der IS verdankte die finanziellen Kapazitäten für den Unterhalt seines Kalifats zu großen Teilen den Öl-und Gasverkäufen aus dieser Region. Bereits im August, parallel zur Offensive des Regimes auf Deir az-Zor, kündigten die SDF an, in den kommenden Wochen vom nördlich gelegenen Ar-Raqqa ebenfalls auf Deir az-Zor vorstoßen zu wollen. Die Ankündigung kam, obwohl die Offensive gegen den IS in Ar-Raqqa nach wie vor nicht abgeschlossen ist.

 Islamischer Staat / Da’esh. Quelle: Southfront.org Gebietskontrolle um die Stadt Deir ez-Zor (roter Punkt in Bildmitte) Mitte Oktober 2017: Rot: Gebiet der syrischen Regierung. Gelb: SDF. Schwarz: Islamischer Staat / Da’esh. Quelle: Southfront.org

 

Dass die SDF Einheiten  aus einer laufenden Offensive abzogen zeigt, wie bedrohlich sie eine Einnahme der Provinz Deir az-Zor durch das Regime betrachten. Entsprechend überrascht war die Reaktion, als das syrische Militär bereits am 3. September die westlichen Ausläufer der Stadt erreichte. Nur sechs Tage später meldete das Regime, man habe den zweiten Belagerungsring der Dschihadisten um den Militärflughafen der Stadt, auf der Westseite des Euphrat, erreicht. Nach den Erfahrungen langwieriger Operationen gegen den IS in Mossul und Ar-Raqqa kam die nahezu vollständige Einnahme der Stadt binnen weniger Tage überraschend.

Nur drei Tage nach Bekanntgabe der Offensive am 9. September meldeten die SDF am 12. September, die nördlichen Ausleger der Provinzhauptstadt auf der Ostseite des Euphrats erreicht zu haben. Bislang hatte der Fluss als Demarkationslinie zwischen der syrischen Armee und den SDF gegolten. Die Geschwindigkeit, mit der die SDF eine Landbrücke nach Deir az-Zor genommen hatten, verdeutlichte die Alarmstimmung auf Seiten der Allianz.

Entgegen der Ankündigung, parallel zum Vorstoß auf Deir az-Zor auch die östlichen Teile der Provinz vom IS einzunehmen, eilte das SDF in einer Stoßbewegung auf das Stadtgebiet auf der östlichen Seite des Euphrat zu. Zu groß war die Sorge, das syrische Militär könnte noch vor dem eigenen Erreichen der Stadt den Fluss überqueren und sich den östlichen Gasfeldern nähern. Spätestens hier wurde deutlich, dass der Sieg über den IS nur noch das sekundäre Ziel darstellt. Dieser hatte sich zuvor längst an die syrisch-irakische Grenze zurückgezogen. Die Sorge der SDF war berechtigt. Am 19. September kam die Meldung, dass syrische Regimekräfte bei Mazlum, nördlich von Deir az-Zor, das Westufer des Euphrat erreicht haben.

 Rr016, Wikicommons, Public Domain Militärbewegungen der syrischem Armee (rot) und der SDF (gelb) westlich und östlich des Flusses Euphrat bei der Stadt Deir az-Zor. Stand 09. Oktober 2017 Quelle: Rr016, Wikicommons, Public Domain

 

Nervosität auf beiden Seiten

Mit der Überquerung des Flusses stieg das Risiko einer direkten Konfrontation. Bereits am 16. September meldeten die SDF, sie seien östlich des Euphrat von russischen Kampfflugzeugen beschossen worden. Die Bilanz: sechs verwundete SDF-Soldaten. Das russische Verteidigungsministerium dementierte den Angriff und gab an, an besagtem Tag lediglich flüchtige IS-Kämpfer angegriffen zu haben, die sich in die syrische Wüste absetzen wollten.

Die bislang ausbleibende militärische Koordination zwischen dem russischen Militär und den SDF am Boden birgt weiteres Eskalationspotenzial. Die unmittelbare Nähe zueinander weckt auch in Moskau Nervosität. Es folgten Warnungen von russischer Seite, wonach man gewillt sei, den Beschuss eigener Truppen durch die SDF im gleichen Maße zu beantworten. Bereits zweimal sollen russische Spezialeinheiten in den Reihen der syrischen Armee in Deir az-Zor von der Allianz beschossen worden sein. Auch Moskau zeigt sich defensiv, es wird beteuert, lediglich bei feindlichem Feuer aus den Reihen der SDF zu reagieren.

Sowohl nach dem Abschuss des syrischen Flugzeugs bei Tabqa, als auch nach Beschuss in Deir az-Zor reichten russische Warnungen bislang aus, um die Lage im Zaum zu halten. Die Einnahme des Conoco-Gasfelds auf der Ostseite des Euphrat durch die SDF könnte die Lage jedoch verschärfen. Das Regime hat bereits die Stadt Tabqa mitsamt dem Staudamm an die SDF verloren, der einen Großteil Ost-Syriens mit Strom versorgt. Ein Verlust des Conoco- und Al-Omar Gasfelds wäre für Damaskus höchstwahrscheinlich nicht akzeptabel. Letzteres ist das größte Gasfeld in Syrien und elementarer Bestandteil für einen künftigen wirtschaftlichen Wiederaufbau des Landes.

Unklar bleibt nach wie vor, ob die Gasfelder nach der Einnahme tatsächlich unter Kontrolle der SDF verbleiben würden. Sie wären ein Trumpf, den die YPG bei Verhandlungen mit dem Regime für Zugeständnisse im kurdisch-geprägten Norden des Landes einsetzten könnte, auch gegen einen möglichen Widerstand des US-Verbündeten. Mit der steigenden Präsenz türkischer Truppen in der Provinz Idlib seit dem 08. Oktober, nahe der Stadt Afrin, die sowohl von der syrisch-kurdischen YPG, als auch von der Türkei beansprucht wird, hat der Osten des Landes für die YPG zusätzlich an strategischem Wert gewonnen.

Neue Realitäten

Lange Zeit waren die Anti-IS Operationen der SDF und der USA weit vom Kampfgeschehen des syrischen Militärs entfernt. Nach der Sicherung der Achse Damaskus-Homs-Aleppo durch das Regime löste sich die klare geografische Trennung zunehmend auf. Mit der Einnahme von Sweida und den anhaltenden Operationen in Deir az-Zor rückt das Regime an für die USA strategisch sensible Gebiete heran, wie die syrisch-irakische Grenze oder grenznahe Gebiete zu Jordanien.

Die Aushandlung der Deeskalationszonen im Zuge der Astana-Verhandlungen hat das Regime in die Lage versetzt, die zuletzt überdehnten syrischen Armeeeinheiten neu formieren zu können. Mitte August meldete Al-Jazeera mit Verweis auf das russische Verteidigungsministerium, dass das Regime in den zurückliegenden zwei Monaten das von ihm kontrollierte Gebiet verdoppeln konnte. Parallel dazu haben sich die SDF nach den Siegen gegen den IS in Ar-Raqqa und Tabqa zur zweitgrößten Territorialmacht in Syrien entwickelt. Die syrisch-arabische Allianz kontrolliert inzwischen 22,5 Prozent des syrischen Territoriums.

Je mehr der IS von der syrischen Landkarte verschwindet, desto mehr wird deutlich, dass die SDF zusammen mit den USA nicht nur die Dschihadisten zurückdrängen will, sondern zugleich die eroberten Gebiete gegen eine Übernahme des Regimes halten. Der Todesstoß gegen den IS wird Mittel zum Zweck im Ringen um Ausgangspositionen über eine syrische Nachkriegsordnung.

Washington räumt der Zerschlagung des IS zwar nach wie vor politische Priorität ein, stellt jedoch inzwischen selbst in Syrien eine Ordnungsmacht dar, entgegen der ursprünglichen Intention der Trump-Regierung, sich nicht zu tief in den Konflikt hineinziehen zu lassen. So hatten die USA in den Verhandlungskonferenzen von Astana zuletzt nur eine beobachtende Position. Die Richtungsentscheidungen für Syrien kamen aus Moskau, Teheran und Ankara.

Die bislang verfolgte US-Strategie, erst den IS zu zerschlagen und sich anschließend um die Lösung des Syrienkonflikts zu kümmern, scheitert zunehmend an der Realität. Sowohl Damaskus, als auch Moskau sehen in einem Sieg über den IS in Syrien mittlerweile auch einen Sieg im Bürgerkrieg. Die jüngsten Aussagen des syrischen Außenministers Muallem vor den Vereinten Nationen in New York über einen nahenden Sieg, sowie der Neustart der Wirtschaftsmesse in Damaskus vergangenen Monat sind Zeichen eines zunehmenden Selbstvertrauens des Regimes, den Konflikt in naher Zukunft zu gewinnen.

Nach dem Sieg der dschihadistischen Hayat Tahrir al-Sham HTS (ehemals Al-Nusra) über die salafistische Ahrar al-Sham in der Deeskalationszone von Idlib gibt es abseits des dschihadistischen Spektrums kaum noch Akteure auf Rebellenseite, die dem Regime gefährlich werden können. Die HTS ist vom Waffenstillstand der Deeskalationszonen ausgenommen und wird weiterhin durch russische und syrische Kampfflugzeuge angegriffen. Eine regionale Eindämmung oder Zerschlagung der Dschihadisten in der Provinz kann als sehr wahrscheinlich angenommen werden.

Erste Anzeichen dafür liefern die türkischen Truppenverlagerungen am Wochenende des 7. Oktober. Türkisch-unterstützte Teile der Freien Syrischen Armee, darunter die „Hamza-Brigade“, die bereits bei der türkischen Operation „Euphrat Shield“ gegen die YPG in Nordsyrien aktiv war, hat in Idlib Stellung bezogen. Die genauen Motive der Operation sind noch nicht völlig klar. Analysten vermuten jedoch, dass die syrisch-kurdische Präsenz im benachbarten Afrin die treibende Motivation der Türkei hinter der aktuellen Kampagne in Syrien darstellt.  

Ein strategisches Dilemma

Je mehr der IS schwindet, umso mehr werden die SDF zum zentralen Hindernis gegen Assads verkündeten Anspruch, ganz Syrien zurückerobern zu wollen. Weitere Vorfälle wie diejenigen in Al-Tanf und Tabqa könnten sich auch in Ost-Syrien ereignen, indem auch dort das syrische Militär seinen Bewegungsspielraum gegen die SDF austesten wird. Eine Aufgabe der von den SDF eroberten Gebiete im Osten Syriens wäre in Washington nicht leicht politisch zu vermitteln, würde man damit eine entscheidende Möglichkeit aus der Hand geben, im syrischen Nachkriegsprozess doch noch eine gestalterische Rolle spielen zu können.

Die amerikanische Syrienpolitik steht vor einem strategischen Dilemma. So will Washington einerseits den von ihm viel kritisieren iranischen Einfluss in Ost-Syrien und der Region möglichst geringhalten. Andererseits weiß die Trump-Regierung, dass eine dauerhafte SDF-Präsenz in der Provinz Deir az-Zor politisch nur schwer zu begründen und militärisch schwer zu halten ist.

Die Mehrheit des Trump-Kabinetts ist kritisch gegenüber den Aktivitäten Irans, sowohl im Irak, als auch in Syrien eingestellt. Eine Aufgabe des Gebiets im Osten würde das Szenario einer direkten Landverbindung zwischen Teheran, Bagdad und Damaskus nur umso wahrscheinlicher machen. Der Zeitpunkt ist denkbar kritisch. So droht US-Präsident Trump aktuell damit, dem Iran einen Verstoß gegen den Geist des Atomabkommens zu attestieren und die nuklearbezogenen Sanktionen gegen Teheran nicht weiter auszusetzen. Trump erklärt damit das Atomprogramm zum politischen Hebel, um die Aktivitäten der iranischen Revolutionsgarden und Al-Quds Einheiten in Syrien und Irak eindämmen zu wollen. Ein freiwilliger Rückzug aus dem Osten Syriens wäre nur schwer zu erklären, sofern Moskau zusammen mit Damaskus kein politisches Entgegenkommen liefert.

Am 6. Oktober kündigte Washington eine weitere Verschärfung seiner Iran-Strategie an. Erschwerend kommt hinzu, dass mit jedem Quadratmeter, den der IS in Syrien verliert, die rechtliche Grundlage der US-Intervention in Syrien schwindet. Der US-Einsatz gegen die Terrormiliz wird gegenwärtig noch unter dem Antiterror-Mandat geführt, das vom US-Kongress nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erlassen wurde. Zwar könnte Washington die weiteren Aktivitäten in Syrien mit der anhaltenden Existenz des Al-Qaida Ablegers Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in Idlib begründen, allerdings konzentriert sich die HTS-Präsenz auf die Deeskalationszone in Idlib. Im Osten des Landes operiert die Gruppierung nicht. Wie ein möglicher iranischer Landkorridor durch Syrien verlaufen könnte, sehen Sie auf der Seite von Stratfor.com.

Eine Sicherung der syrischen Badiya-Steppe im Grenzgebiet zum Irak, sowie der Provinz Deir az-Zor, um versprengte IS-Kämpfer in der irakischen Provinz Anbar daran zu hindern nach Syrien einzusickern, wäre argumentativ gegen Damaskus und Moskau schwer durchzusetzen, da der IS über kein festes Territorium mehr verfügt und zunehmend asymmetrisch kämpft. Sowohl Damaskus, Moskau als auch Teheran kritisieren die US-Präsenz in Syrien ohnehin seit langem als völkerrechtswidrig. In einem Schreiben an den UN-Generalsekretär Anfang August bezeichnete das syrische Außenministerium die Präsenz der internationalen IS-Allianz im Land als illegal und forderte die UN dazu auf, die Allianz für Syrien aufzulösen, da sie ohne Genehmigung der Führung in Damaskus gebildet worden sei.

Es ist anzunehmen, dass Washington den Verbleib im Osten als Teil seiner Strategie erklären könnte, den iranischen Einfluss in der Region eindämmen zu wollen. Dies würde der weiteren Präsenz im Osten zwar den alibihaften Überbau einer Strategie verleihen, schiebt die eigentlichen Fragen, welchem Akteur welche Einflusszone in Syrien zugesprochen wird, jedoch nur auf.

Der Osten als strategische Verhandlungsmasse?  

Ohne eine umfassende Syrien-Strategie wird es voraussichtlich nur eine Frage der Zeit sein, bis die SDF Gebiete im Osten an das syrische Militär abgeben müssen. Die SDF verfügen nicht über die Kapazitäten sowohl Ar-Raqqa, Tabqa, als auch die weitläufigen Wüstengebiete im Osten des Landes zu sichern. Zumal die, mehrheitlich von der syrisch-kurdischen YPG dominierten, SDF eigene Interessen besitzen, die nicht deckungsgleich mit denen der USA sein müssen. Die SDF operieren im Osten außerhalb von Gebieten, in denen sie traditionell Rückhalte durch die dortige Bevölkerung genießen.

Ferner sieht die YPG in der Türkei einen größeren Gegner als im Iran oder dem syrischen Regime in Damaskus. Bereits im März hatte die YPG unter russischer Vermittlung Gebiete in Nord-Syrien von ihr kontrolliertes Territorium mit dem Assad-Regime getauscht, um türkische Truppen von einem Vorstoß auf die Stadt Manbij abzuhalten. Sollte die YPG ähnliche Vorhaben im Osten des Landes im Auge haben, um mit dem Regime Kompromisse für den kurdisch-geprägten Norden auszuhandeln, könnte dies einen Bruch mit den arabischen Teilen innerhalb der SDF zur Folge haben.

Die jüngsten türkischen Vorstöße nach Idlib könnten diese Ideen bei der YPG noch verstärken. Eine Schwächung der SDF durch interne Meinungsverschiedenheiten wäre ein Geschenk für Moskau und Damaskus. Erste Angebote den Osten zur Verhandlungsmasse zu erklären sind bereits vorhanden. So kursieren Gerüchte über russische Vorschläge Einflusssphären nach Ende des IS in Syrien festzulegen. Russisch-unterstützte Kräfte würden den Osten zugesprochen bekommen, US-unterstützte Kräfte wiederum Gebiete im Süden nahe der israelisch-kontrollierten Golanhöhen und der jordanischen Grenze.

Mit jedem Meter, den der IS in Syrien verliert, steigen die Fragen, wie es in Syrien nach Ende der Terrormiliz weitergeht. Antworten gibt es bislang nur unzureichend und die Zeit arbeitet für das Assad-Regime. 

 

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Artikel von Alexander Möckesch