50 Jahre nach der Eroberung Ost-Jerusalems durch Israel ist ein intra-konfessioneller Streit zwischen liberalen, konservativen und ultra-orthodoxen Juden entbrannt. Dabei geht es nur vordergründig um den Zugang zur Klagemauer. Im Kern zur Debatte stehen israelische Politikdynamiken, der Einfluss internationaler Lobbygruppen und der Pluralismus innerhalb des Judentums.
Eigentlich hätte alles anders kommen sollen. Fünfzig Jahre nach dem Sechstagekrieg und der Eroberung Ost-Jerusalems durch Israel haben Kontroversen über das wichtigste Wahrzeichen des jüdischen Glaubens, die Klagemauer, einen neuen Höhepunkt erreicht. Der ultra-orthodoxen jüdischen Fraktion, die entscheidenden Einfluss auf Premierminister Benjamin Netanjahu ausübt, stehen liberale und konservative jüdische Gruppen gegenüber, die von einflussreichen amerikanischen und internationalen Lobbygruppen wie dem American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) und der Jewish Agency (JA) unterstützt werden. Somit verlaufen die Konfliktlinien um die Wahrzeichen der heiligen Stadt Jerusalem nicht nur zwischen Nationalitäten und Religionen, sondern auch innerhalb des jüdischen Glaubens.
Ein gespaltenes Judentum
Der Streit um die Klagemauer zeigt die drastischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen innerhalb des Judentums und zwischen den jüdischen Gemeinden in Israel und den USA. Liberale und konservative jüdische Gruppen akzeptieren zum großen Teil die Vielfalt innerhalb des jüdischen Glaubens und tolerieren, zum Beispiel, dass Frauen neben Männern an der Klagemauer beten. Für die ultra-orthodoxe jüdische Fraktion sind solche Gebetsrituale absolut tabu.
Dieser interkonfessionelle Streit droht der Netanjahu-Regierung zu schaden und bietet dabei einen tiefen Einblick in die israelische Politikdynamik. Am 25. Juni ordnete Premier Benjamin Netanjahu an, das sogenannte Klagemauer-Abkommen, das im Januar 2016 verabschiedet wurde, einzufrieren. Dieses Abkommen versprach eine Ausweitung des Abschnittes der Klagemauer, der nicht von der orthodoxen Fraktion unter Rabbiner Shmuel Rabinowitz verwaltet wird. Im Gegensatz zum Rest der Klagemauer, wo die oft strengeren Regeln der ultra-orthodoxen Glaubensrichtung gelten, können in diesem Abschnitt Männer und Frauen gemeinsam beten. Des weiteren sah das Abkommen ein interkonfessionelles jüdisches Komitee zur Verwaltung des nicht-orthodoxen Mauerabschnitts und einen geteilten Eingang für die orthodoxen und nicht-orthodoxen Mauerabschnitte vor.
Trotz andauernder Spannungen zwischen Juden und Muslimen um den Tempelberg, an dem auch die Klagemauer anliegt, gab es somit zumindest neue Hoffnungen für mehr Pluralismus in Bezug auf die Auslebung des jüdischen Glaubens. Bisher wurde das Abkommen jedoch noch nicht implementiert – vor allem aufgrund wachsender Kritik aus dem orthodoxen Lager. Dabei ist das geschlechtergetrennte Beten an der Klagemauer historisch gesehen eine relative Neuigkeit. So beteten Männer und Frauen im 19. und selbst im frühen 20. Jahrhundert gemeinsam an dem Ort.
Erst als das israelische Militär nach der Eroberung Ost-Jerusalems im Krieg von 1967 die Verwaltung der Klagemauer an das Ministerium für religiöse Angelegenheiten übergab, wurde eine Trennwand errichtet, die in den Folgejahren stetig wuchs. Ab diesem Zeitpunkt nahm auch die Kontrolle der ultra-orthodoxen Fraktion über die Klagemauer und die dort zulässigen Gebetspraktiken zu. Gleichzeitig bestanden liberale und konservative Gruppen weiterhin darauf, ihre eigenen Glaubensrituale an der Klagemauer auszuüben.
Die israelische Politikdynamik und internationale Lobbyisten
Der nun entflammte Konflikt über das Klagemauer-Abkommen und die Nutzung der Stätte ist beispielhaft für einen weiteren Trend in der israelischen Politik. Da keine Partei in der Knesset die absolute Mehrheit besitzt, ist Netanjahus regierende Partei Likud mit circa 23 Prozent der Abgeordneten von der Unterstützung ultra-orthodoxer und rechtskonservativer Parteien abhängig. Die daraus entstandene Koalition verfügt nur über eine knappe Mehrheit und kontrolliert lediglich 66 der 120 Sitze in der Knesset.
Zwar genießen diese Kleinparteien mit je circa fünf bis sieben Prozent in den Wahlen von 2015 nur begrenzte Unterstützung, doch schaffen sie es, die legislative Agenda zu dominieren, da die Likud auf ihre Hilfe angewiesen ist. So wurden beispielsweise staatliche Stipendien für ultra-orthodoxe Rabbinerschulen seit 2014 mehr als verdoppelt. Darüber hinaus wurden Ausnahmen für ultra-orthodoxe Juden in Bezug auf das akademische Kerncurriculum und die Wehrpflicht festgelegt.
Gleichzeitig werden ultra-orthodoxe Deutungshoheiten durch den Streit um ein strengeres Arbeitsverbot am Sabbat und ein strengeres Konversionsgesetz, das orthodoxen Rabbinern mehr Kontrolle über die Anerkennung konvertierter Juden gibt, aufrechterhalten. In dieses Muster, nach dem die Deutungshoheit der Ultra-Orthodoxen über viele Aspekte des jüdischen Glaubens bewahrt wird, passt auch das jüngste Einfrieren des Klagemauer-Abkommens.
Der Einfluss der orthodoxen Fraktion innerhalb Israels steht im Kontrast zu dem der meist liberal und konservativ eingestellten internationalen und amerikanischen jüdischen Organisationen wie AIPAC und der JA. Diese Dynamik spiegelt gravierende Unterschiede in der Auslegung des Judentums in Israel und den USA: So zeigte ein Bericht des Pew Research Centers, dass in den USA nur zehn Prozent der Juden sich selbst als orthodox identifizieren, während in Israel 22 Prozent diese Glaubenshaltung annehmen. 35 Prozent der amerikanischen Juden identifiziert sich als liberal, reform-orientiert, und 18 Prozent als nicht-orthodox, konservativ. Im starken Kontrast sehen sich nur drei Prozent der israelischen Juden als reform-orientiert und zwei Prozent als konservativ.
Diese Gegensätze erklären, warum das Einfrieren des Klagemauer-Abkommens einen Aufruhr in den USA verursachte, während in Israel vor allem die amerikanische Reaktion Aufsehen erregte. So vertreten die meisten amerikanischen jüdischen Organisationen eine pluralistische Haltung, die verschiedene Gebetspraktiken als legitim anerkennt. Diese Haltung ist teilweise durch den Status als religiöse Minderheit in den USA, die ein Interesse an allgemeiner religiöser Toleranz hat, bedingt. Im Gegensatz dazu ist der jüdische Glaube in Israel Mehrheitsreligion und somit nicht im gleichen Maße von religiösem Pluralismus abhängig.
Im Gegenteil dazu profitiert die ultra-orthodoxe Fraktion von der Monopolisierung des jüdischen Glaubens in Israel und wird darin aus politischen Gründen von der Likud gestärkt, die durch die Koalition mit den orthodoxen Parteien die Mehrheit im Knesset behält. Jüngstes Beispiel dieses Monopol-Anspruchs war eine 160 Namen lange Blacklist, mit der das orthodoxe israelische Staatsrabbinat ausländische Rabbiner denunzierte.
Eine Gefahr für Netanjahu
Netanjahus Regierung riskiert durch die jüngste Konfrontation mit den amerikanischen und internationalen jüdischen Lobbygruppen allerdings, sich selbst zu schaden. Das rechte politische Spektrum in Israel genießt grundsätzlich höheres öffentliches Vertrauen in seine Kompetenz in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik als die linksorientierten Parteien. Auch die amerikanischen Lobbygruppen stehen generell hinter der Außenpolitik der Likud.
Doch Israels religiöse Innenpolitik (mit seinen Ausnahmen für ultra-orthodoxe Juden im Schulsystem und Militärdienst und den Angriffen der ultra-orthodoxen Juden auf andere Glaubenshaltungen) verursachte selbst bei amerikanischen Lobbygruppen, die seit über 50 Jahren loyale Unterstützer des Landes sind, einen Aufschrei gegen die Konzentration des jüdischen Glaubens im ultra-orthodoxen Staatsrabinat.
Es ist unwahrscheinlich, dass die internationalen jüdischen Gemeinden ihre materielle Unterstützung für Israel aufgrund der aktuellen Streitigkeiten spürbar reduzieren werden. Dennoch ist gut möglich, dass strenge Kritik an Netanjahus Entscheidungen von einflussreichen Stimmen aus den USA – wichtigster Verbündeter und Garant der Sicherheit Israels – dem öffentlichen Vertrauen in die Likud schaden könnte. So kritisierte neben der Jewish Agency auch der amerikanische Kongressabgeordnete Jerrold Nadler den Beschluss, das Klagemauer-Abkommen einzufrieren, als eine Beleidigung aller jüdischen Gemeinden. Der Immobilienmogul und Philanthrop Ike Fischer suspendierte sogar seine finanzielle Unterstützung für Israel und seine Teilnahme an AIPAC. Auch der amerikanische Sondergesandte für Israel, David Friedmann, bestätigte, dass eine wichtige jüdische Organisation beabsichtige, ihre Unterstützung für Israel zu überdenken.
Solch scharfe Kritik von traditionellen Verbündeten bezeugt die zunehmenden Reibungen zwischen den liberaleren Werten der jüdischen Gemeinden in den USA und der israelischen Koalition zwischen Likud und den ultra-orthodoxen Parteien. Die Erosion der Einheit innerhalb der jüdischen Gemeinde wurde unlängst selbst vom israelischen National Security Council als Verlust eines strategischen Sicherheitsvorteils eingeschätzt. Falls diese Unstimmigkeiten auch vom israelischen Volk als Sicherheitsrisiko eingestuft werden, beispielsweise weil es das Bündnis mit den amerikanischen Partnern infrage stellt, könnte dies eine weitere Herausforderung für die Regierung Netanjahus darstellen.
Mehr religiöse Toleranz – aber wie?
In diesem Zusammenhang stellten sich die Fragen, was aus dem Klagemauer-Abkommen wird, und wie mehr religiöse Toleranz am Tempelberg gefördert werden kann. Letzteres scheint unter der Likud Regierung ausgeschlossen. Trotz Netanjahus Beteuerungen, dass einige Teile des Klagemauer-Abkommens lediglich eingefroren wurden, um den Rest der Vereinbarung voran zu bringen, scheint es nach achtzehn Monaten Stagnation unwahrscheinlich, dass das Abkommen bald umgesetzt wird.
Somit bleibt nicht-orthodoxen Juden und Verfechtern von mehr religiöser Toleranz am Tempelberg nur der indirekte Weg, durch nichtöffentlichen Lobbyismus und Anpassungen in der bürokratischen Praxis ihre Ambitionen durchzusetzen. Wie mehrere israelische Politiker zugegeben haben, ist es oft einfacher, politische Veränderung durch sich langsam entwickelnde, informelle Regeln zu erreichen. Dieser informelle Weg bietet jedoch weder die Sicherheit noch die Anerkennung, die ein Gerichtsurteil oder eine Gesetzesänderung mit sich bringen würde, und dürfte somit kaum als zufriedenstellend erachtet werden. Des weiteren gehören etwa sechs Prozent kleineren Splittergruppen an, während sich 30 Prozent mit keiner Glaubenshaltung identifizieren. In Israel sehen sich 50 Prozent als orthodox und 2 Prozent einer kleineren Splittergruppe angehörig. 41 Prozent identifizieren sich mit keiner Glaubenshaltung.
Eine andere Version dieses Artikels erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung Israel.
Ebenfalls in dieser Serie erschienen:
Alsharq-Serie „1967: 50 Jahre danach.“ Eine Art Vorwort.
Die Vorgeschichte: Wie es 1967 zum Krieg zwischen Israel und seinen Nachbarn kam
Die Kampfhandlungen: Wie Israel 1967 seine Nachbarn überrumpelte
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