14.08.2017
Homosexualität in Tunesien: „Du lebst unter ständigem Verdacht“
Mounir Baatour bei einer Demonstration gegen Analtests an Homosexuellen vor der Nationalen Ärztekammer Tunesiens. Foto: Shams - www.facebook.com/lgbtrightstunisia
Mounir Baatour bei einer Demonstration gegen Analtests an Homosexuellen vor der Nationalen Ärztekammer Tunesiens. Foto: Shams - www.facebook.com/lgbtrightstunisia

Mounir Baatour ist Vorsitzender von Shams, der ersten tunesischen Organisation, die sich für die Rechte von Homo-, Bi- und Transsexuellen einsetzt. Maximilian Ellebrecht hat ihn in seiner Anwaltskanzlei in Tunis zum Interview getroffen – ein Gespräch über Homophobie, Verfolgung, Männlichkeit und die Frage, was das alles mit dem Islam zu tun hat. 

Alsharq: Im vergangenen Jahr haben laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 974 Tunesier in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt, einen Schutzstatus bekamen lediglich acht von ihnen zugesprochen. Ihre Fluchtgründe sind unklar, aber dass es mit ihrer sexuellen Orientierung zu tun hat, liegt nahe. Herr Baatour, was treibt tunesische Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuelle (LSBT) in die Flucht? 

Mounir Baatour: Wir kennen einige Menschen, die wegen ihrer sexuellen Orientierung in Deutschland Asyl beantragt haben. LSBT erfahren in Tunesien gewaltsame Übergriffe, werden verhaftet und erhalten Todesdrohungen. In Deutschland haben die Gerichte einen von uns dazu verfassten Bericht als Beweis akzeptiert, dass die Asylbewerber in Tunesien verfolgt werden und haben ihnen Asyl gewährt. 

Historisch gesehen waren muslimische Gesellschaften doch weit toleranter gegenüber Homosexualität als der Westen. Im 19. Jahrhundert bereisten viele europäische Homosexuelle den Maghreb, um der Sittenstrenge Europas zu entfliehen. Doch während der Deutsche Bundestag nun die Ehe für alle beschlossen hat, sind in muslimischen Ländern homophobe Ansichten zur Norm geworden. Woher kommt das?

In Tunesien ist Homosexualität erst seit 1913 unter Strafe gestellt: Es waren die Franzosen, die den entsprechenden Paragraphen 230 einführten. Als sie Tunesien kolonisierten, brachten sie ihre Homophobie mit. Dann sind sie wieder abgezogen, doch die Homophobie blieb. Vor der Kolonialzeit gab es in Tunis sogar ein Schwulenbordell namens „Ali Waki“. Das war kein Geheimnis, doch die Sitten waren so liberal, dass die Menschen ein offizielles Bordell für Homosexuelle akzeptierten. 

Können Sie etwas genauer beschreiben, was es heißt, in Tunesien schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell zu sein?

In der tunesischen Gesellschaft herrscht wie gesagt eine allgemein sehr homophobe Stimmung. Die anfangs von mir erwähnten Fälle wurden über Facebook geoutet: Sie waren bei Facebook eingeloggt, ein Familienmitglied hat den Raum betreten, ihre Nachrichten gelesen und begriffen, dass sie schwul sind. Daraufhin erhielten sie Todesdrohungen. Meistens kommen der Hass und die Gewalt aus dem Kreise der eigenen Familie – von Brüdern und Schwestern, Eltern oder Cousins und Cousinen. Auch der Staat verfolgt LSBT – und die Zahl von Verhaftungen steigt an. Allein in den ersten sechs Monaten 2017 haben wir schon mehr als 40 gezälht. Dass Homosexualität zum Thema der öffentlichen Debatte geworden ist, hat die Situation für Betroffene nicht einfacher gemacht. Im Gegenteil: Es wird immer schlimmer. 

Seit dem Sturz Ben Alis haben islamistische Gruppierungen in Tunesien sehr an Einfluss gewonnen. Haben sich die Verhältnisse für Homosexuelle dadurch verändert?

  Ganz sicher. Die Gründung von Shams vor zweieinhalb Jahren haben die Islamisten in den Medien als „Abscheulichkeit“ kommentiert. Sie haben uns vorgeworfen, die tunesische Gesellschaft zu verderben und sagten, als muslimisches Land könnten wir Homosexuelle niemals akzeptieren. Den Islamisten nahestehende Imame haben in den Moscheen angefangen, gegen Homosexuelle zu wettern. Einige gingen soweit, die Todesstrafe einzufordern. Wir haben Videoaufnahmen von einem Imam, der bei einer Freitagspredigt dazu aufrief, Homosexuelle zu töten. Das hätte zu Zeiten Ben Alis niemand gewagt.

Und wie ist die Gesetzeslage aktuell?

Der Paragraph 230 des Strafgesetzbuchs bestraft Homosexualität mit bis zu drei Jahren Gefängnis. Die Paragraphen 210 und 226 stellen Transsexualität unter Strafe. Wenn ein Mann Frauenkleider anzieht, gilt das nach tunesischem Recht als Angriff auf die Sittlichkeit. Jährlich werden zwischen 60 und 100 Menschen auf Grundlage ihrer sexuellen Orientierung verurteilt. Ärzte führen einen Analtest durch, um festzustellen, ob ein Mann homosexuellen Geschlechtsverkehr hatte.  

Was ist eigentlich mit den Frauen?

Lesbische oder bisexuelle Frauen werden gleich doppelt diskriminiert: zunächst einmal, weil sie Frauen sind und dann wegen ihrer sexuellen Orientierung. Es ist allerdings weniger verpönt lesbisch zu sein als schwul. Viele heterosexuelle Männer haben erotische Fantasien über lesbische Frauen. Außerdem gibt es bei lesbischem Sex keine Penetration. Aus diesen Gründen gibt es insgesamt weniger Übergriffe gegen Frauen als gegen Männer. Auch verhaftet werden sie deutlich seltener: Im Durchschnitt trifft vielleicht gerade mal eine von 100 Verhaftungen das weibliche Geschlecht.

In der Regel haben es Männer also schwerer. Trotz dieser repressiven Umstände fliehen aber nicht alle tunesischen LSBT ins Ausland...

Ja, ich bin schwul und lebe noch immer in meinem Land. Aber das heißt nicht, dass ich meine sexuelle Orientierung offen leben kann. Du lebst unter ständigem Verdacht und musst achtsam sein. Du darfst dich nicht mit deinem Partner an öffentlichen Orten zeigen oder ins Hotel gehen. Das wäre sehr gefährlich, denn wenn du erwischt wirst, droht dir eine Gefängnisstrafe.

Wie ist es da möglich, sich offen für die Rechte von LSBT einzusetzen?

Ich verfasse Pressemitteilungen und verteidige Homosexuelle vor Gericht – als Anwalt kann mich von dieser Arbeit niemand abhalten, aber mein Privatleben ist eine ganz andere Geschichte. Da muss ich mich schützen. Wenn ich mit meinem Freund Zeit verbringe, dann tue ich das am liebsten in Frankreich. In Tunesien bleiben wir vor allem zuhause und meiden öffentliche Orte. Ich bin aber auch ein Sonderfall, denn meine Familie akzeptiert, dass ich schwul bin. Für die meisten anderen ist die Situation viel prekärer. Viele sind jung und haben kein eigenes Einkommen. Gleichzeitig sind sie davon bedroht, von ihren Familien verstoßen zu werden. Dann landen sie in der Straße: ohne Geld und ohne Job. Solche Fälle erleben wir bei Shams täglich.

Welche Rolle spielt der Islam dabei?

Im Islam gibt es keinen einzigen authentischen religiösen Text, der Homosexualität unter eine konkrete Strafe stellt. Erst vier oder fünf Jahrhunderte nach dem Propheten Mohammed argumentierten Religionsgelehrte, dass homosexueller Geschlechtsverkehr genauso verboten sei wie unverheiratete Sexualbeziehungen unter andersgeschlechtlichen Partnern. Konkrete Strafen haben die Gelehrten dann einfach erfunden: Sie sagten, man müsse Homosexuelle steinigen oder vom Dach eines hohen Gebäudes stoßen. Dass die tunesische Gesellschaft so konservativ ist, hat also nicht nur religiöse Gründe. Das hat auch viel mit kulturellen Traditionen und sozialen Rollen zu tun: Die gängige Vorstellung ist, dass Männer Frauen überlegen sind, dass Männer vögeln und Frauen gevögelt werden. Weil ein schwuler Mann diesem Bild nicht entspricht, löst er bei vielen Hass und Ekel aus. Dass er seinen Partner in sich eindringen lässt, verstehen viele Männer als Angriff auf ihre eigene Männlichkeit. Homophob zu sein, ist für sie ein Weg, ihre Männlichkeit zu reklamieren. 

Mit Religiosität hat das also gar nicht so viel zu tun?

Da geht es eher um Machismus als um religiöse Werte. Tunesier trinken Alkohol, sie gehen ins Bordell oder setzen Geld beim Glücksspiel. Bei all diesen Dingen sind ihnen religiöse Verbote vollkommen egal. Aber wenn es um Homosexualität geht, berufen sie sich plötzlich auf den Islam. In meinen Augen ist das Heuchlerei.

In Frankreich gibt es mit Ludovic-Mohamed Zahed einen schwulen Imam, der einen integrativen Islam predigt, der auch LSBT willkommen heißt. Was halten Sie davon?

Ich bin säkular eingestellt. Auch unsere Organisation Shams hat das Selbstverständnis, unsere Arbeit nicht mit religiösen Debatten zu vermischen. Trotzdem begrüße ich den Ansatz von Ludovic-Mohamed Zahed. Viele homosexuelle Muslime haben ein schlechtes Gewissen. Sie sind innerlich zerrissen zwischen dem Bedürfnis, ihre Sexualität auszuleben und dem Bedürfnis, ihren Glauben zu praktizieren. Mit der Botschaft „Ihr könnt gleichzeitig Muslime und homosexuell sein“ sein, erleichtert er ihr Leben ungemein und hilft ihnen, sich selbst zu akzeptieren statt sich zu hassen. Psychologisch betrachtet halte ich das deshalb für einen guten Lösungsansatz.

Was unternimmt die Organisation Shams, um LSBT in Tunesien zu helfen? 

Wir machen auf Übergriffe, Verhaftungen und Verurteilungen aufmerksam, indem wir im Land und international darüber berichten. Das sind Organisationen wie die EU, der UN-Menschenrechtsrat oder in Deutschland beispielsweise die Bundestagsfraktion der Grünen, die uns unterstützt. Außerdem informieren wir LSBT über ihre Rechte, zum Beispiel hatten wir vor zwei Jahren eine Kampagne zur Aufklärung über die Verweigerung von Analtests. Außerdem leisten wir juristischen Beistand und organisieren Anwälte, um LSBT vor Gericht zu verteidigen. Für emotionale Notleiden haben wir eine telefonische Beratungshotline eingerichtet und neuerdings geben wir auch eine Zeitschrift heraus: das Shams Mag. Darin berichten wir über die Situation von Homosexuellen in Tunesien und der gesamten arabisch-islamischen Welt. Unser Hauptziel ist und bleibt aber die Entkriminalisierung von Homosexualität in Tunesien: Dazu haben wir einen Gesetzesentwurf im Parlament eingereicht. Er wurde abgelehnt, deshalb wenden wir uns nun an das Verfassungsgericht und fordern, den Paragraph 230 des Strafgesetzbuchs für verfassungswidrig zu erklären.

Warum ist der Paragraph Ihrer Meinung nach verfassungswidrig?

Paragraph 21 der tunesischen Verfassung besagt, dass alle Tunesier vor dem Gesetz gleich sind und niemand diskriminiert werden darf. Die Paragraphen 23 und 24 garantieren den Schutz der Privatsphäre und den Schutz personenbezogener Daten. Nichts von alledem ist damit vereinbar, eine sexuelle Orientierung strafrechtlich zu verfolgen. Im Übrigen widerspricht der Paragraph 230 auch internationalen Konventionen, die Tunesien ratifiziert hat.

Sie haben das Shams Mag erwähnt, das Ihre Organisation seit kurzem herausgibt. Schon 2011 hatten einige Aktivisten ein Online-Magazin namens Gayday gestartet. Sie gerieten jedoch schnell ins Visier der islamistischen Ennahda-Partei, die aus den damaligen Wahlen als stärkste Kraft hervorging. Wie wurde Ihre Zeitschrift aufgenommen?

Da gibt es einen wichtigen Unterschied: Gayday wurde von Einzelpersonen herausgegeben. Wir sind hingegen eine gesetzlich anerkannte Organisation und haben das Recht, eine Zeitschrift herauszugeben. Weder die Islamisten noch die Regierung haben auf unser Magazin reagiert.

Und die Öffentlichkeit?

Teils so, teils so. Die Homophoben beschimpfen uns wie üblich, während sich schwulen- und lesbenfreundliche Menschen über die Zeitschrift freuen.

Shams gibt es mittlerweile seit zweieinhalb Jahren. Welche Bilanz ziehen Sie?

Eine durchaus positive Bilanz. Wir haben unsere Anliegen in die Medien gebracht und zum Thema der gesellschaftlichen Debatte gemacht. Tunesische Medien verwenden heute nicht mehr das arabische Wort shaz, was „pervers” heißt, sondern mithli, was „homosexuell” bedeutet. Das ist ein großer Fortschritt. Außerdem hat Shams vor kurzem die Medaille der Stadt Paris verliehen bekommen. Das zeigt, dass wir eine wichtige Arbeit machen.

Vielen Dank für das Gespräch.  

 

Maximilian hat in Leipzig, Amman und London Politik, Arabisch und internationale Entwicklung studiert. Er lebt in Leipzig, arbeitet mit Geflüchteten und schreibt nebenher als freier Autor. Bei dis:orient betreut er seit 2020 die Kolumne „Des:orientierungen“ und ist unter anderem Teil des Social-Media-Teams.