Traditionell wollen Ägypter_innen früh in ihrem Leben heiraten. Seit einigen Jahrzehnten jedoch verändert sich das Heiratsverhalten und in der Politik steigt die Angst vor der angeblich die Gesellschaft destabilisierenden Wirkung dieser „Ehekrise“. Dabei sind diese Entwicklung weniger Auslöser als vielmehr Symptom tiefgreifender sozioökonomischer Veränderungen.
Die Worte „Ägypten“ und „Ehekrise“ in Zusammenhang gesetzt, rufen Erinnerungen an die beliebten Ramadan-Schmonzetten arabischer Fernsehsender hervor, die jährlich neu aufgelegt werden. Tatsächlich jedoch bezeichnet der Begriff azma al-zawāğ (die Krise der Ehe bzw. Hochzeit) ein demographisches Phänomen. Dieses beschäftigt seit einigen Jahren sowohl die öffentliche Meinung als auch die nationale und internationale Wissenschaft und Presse – im Übrigen nicht nur in Ägypten, sondern in den meisten Ländern der Region. Dabei geht es um den Wandel der traditionellen Ehe-Institution bzw. des Heiratsverhaltens junger Menschen.
Manch einer mag diese Entwicklung in einem Land wie Ägypten – das nach wie vor mit Kinderheirat, Polygamie und anderen „rückständigen“ Traditionen in Verbindung gebracht wird – für positiv halten. Doch blickt man auf die zugrunde liegenden Ursachen und die daraus resultierenden Phänomene, wird ersichtlich, weshalb dieses Thema nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch Politiker_innen und Religionsgelehrte auf den Plan ruft. Seit einiger Zeit sind daher schon viele unterschiedliche Kreise damit befasst, einen Ausweg aus dieser – in ihren Augen – die Gesellschaft destabilisierenden „Krise“ zu erarbeiten.
Die traditionelle Hochzeit in Ägypten
Die Hochzeit ist das wohl wichtigste soziale Ereignis im Leben ägyptischer Männer und Frauen. Sie ist ein persönlicher, familiärer und gesellschaftlicher Imperativ und zudem die Pflicht eines jeden Muslims. Sie markiert den Übertritt ins Erwachsenenalter und stellt den einzig gesellschaftlich und religiös akzeptierten sowie rechtlich legalen Zugang zur Sexualität dar. Vor allem jedoch ermöglicht sie es jungen Ägypter_innen, finanzielle, emotionale und gesellschaftliche Unabhängigkeit von ihren Eltern zu erlangen, einen eigenen Haushalt und Familie zu gründen.
In Ägypten wird eine Ehe traditionell nicht zwischen zwei Individuen, sondern zwei Familien geschlossen und auch die Partnerwahl fällt meist aufgrund des familiären und sozialen Hintergrunds der Kandidat_in aus. Ist eine potentielle Verbindung gefunden, so treten die Familien in intensive Verhandlungen, welche bei erfolgreichem Ausgang einen detaillierten Ehevertrag hervorbringen, dessen Unterschreiben die offizielle Verlobung festlegt. Die Verlobungsphase beinhaltet eine Reihe regional unterschiedlicher Feste und Zeremonien und kann sich über einen unbestimmten Zeitraum hinziehen. Sie endet mit dem räumlichen Zusammenziehen des Paars. Eine staatliche Registrierung ist aus islamischer Perspektive nicht notwendig, in Ägypten jedoch vorgeschrieben.
Die Verhandlungen über den Ehevertrag werden als essentiell betrachtet, um eine erfolgreiche Ehe zustande kommen zu lassen. Sie dienen nicht zuletzt der vorherigen Absicherung der Braut, welche – trotz einiger jüngerer Reformen im ägyptischen Scheidungs- und Erbrecht – kulturell und juristisch bedingt die schwächere Position innerhalb der Ehe einnimmt. Der Ehe-Vertrag deckt zwei Komponenten ab: Erstens, die Rechte und Pflichten der Eheleute nach der Heirat und zweitens, den finanziellen und materiellen Beitrag, den jede Seite zur Eheschließung beisteuern muss.
In Ägypten wird eine Ehe erst vollzogen, wenn der zukünftige Haushalt des Paares materiell und finanziell ausreichend ausgestattet ist. Den Löwenanteil der anfallenden Kosten (Wohnung, Mobiliar, Hochzeitsfeier sowie der mahr (Morgengabe für die Braut)) tragen der Bräutigam und seine Familie. Eine Hochzeit ist ein massiver Kostenfaktor und die größte Investition im Leben vieler Ägypter_innen. Aus Sicht der Eltern soll dieser intergenerative Vermögenstransfer dem jungen Paar helfen, in ein erfolgreiches finanziell gesichertes Leben zu starten. Hintergrundgedanke ist dabei auch die eigene Altersvorsorge, denn mangels staatlicher Alternativen sind Ägypter_innen auf die Familie als soziales Sicherheitsnetz angewiesen.
Was hat sich verändert?
Allgemein ist der gesellschaftliche Stellenwert der Hochzeit in Ägypten nach wie vor unangefochten hoch, doch hat sich das Heiratsverhalten junger Ägypter_innen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts drastisch gewandelt. Dies wird nicht nur subjektiv von der Bevölkerung so empfunden, sondern auch durch diverse nationale und internationale Studien belegt.
Diese bestätigen nicht nur den Anstieg des Heiratsalters, sondern auch eine Reihe weiterer Veränderungen: Beispielsweise, dass eine wachsende Zahl von Männern und Frauen bis ins mittlere Alter oder sogar darüber hinaus ledig bleibt – ob aus eigener Entscheidung oder nicht; dass mehr und mehr junge Paare sich auf Kosten des patrilokalen Mehrfamilienhaushalts für einen neolokalen Nuklearhaushalt nach der Hochzeit entscheiden; dass es Brüche mit der traditionellen Wahl von Heiratspartnern gibt und die weit verbreitete Form der Verwandtenheirat im Abnehmen ist; dass die Hochzeitskosten zu einem größeren Anteil von der Familie der Braut oder sogar der Braut selbst getragen werden.
Allerdings treffen diese Trends in erster Linie auf die urbane Mittelschicht zu, weniger auf die auf dem Land ansässige und bzw. oder sozioökonomisch benachteiligte Bevölkerungsschicht. Insbesondere bei Frauen wächst das Heiratsalter proportional zu ihrem sozialen Stand, sodass die Verheiratung Minderjähriger (in Ägypten ist das Mindest-Heiratsalter seit Juni 2008 für Männer wie Frauen 18 Jahre) noch immer vorkommt.
Gründe für den Wandel
Der Wandel von Agrar- zu Industriewirtschaft sowie die Öffnung zu globalen Einflüssen haben die kulturellen Strukturen der ägyptischen Gesellschaft nachhaltig verändert. Ägypten befindet sich inmitten einer demographischen Übergangsphase, deren Folgen unter anderem die Absenkung der Geburtenrate, der Ausbau des Gesundheits- und Bildungswesens, die Verringerung der geschlechterspezifischen Alphabetisierungskluft sowie die gesellschaftliche und rechtliche Verbesserung der Situation der Frau sind.
Aufgrund des extremen Rückgangs der Sterberate erlebte Ägypten zu Beginn des demographischen Wandels eine Bevölkerungsexplosion, welche zur Herausbildung einer so genannten „Youth Bulge“ führte, dem überproportionalen Anteil Jugendlicher an der Gesamtbevölkerung. Der Zensus von 2006 ergab, dass 40 Prozent der Ägypter zwischen 10 und 29 Jahren alt sind.
Der Prozess des demographischen Wandels ist dynamisch, seine Merkmale beeinflussen und erschaffen sich gegenseitig und schließen Monokausalität aus. So ist auch das veränderte Heiratsverhalten junger Ägypter eine Folge dieser demographischen Veränderungen und stößt wiederum andere Veränderungen innerhalb der Gesellschaft an.
Als direkte Ursachen für das wandelnde Verhalten in Bezug auf Heirat und Familiengründung werden meist der generelle Wandel der traditionellen Wertekonzepte durch externe kulturelle Einflüsse sowie die wachsende Integration von Frauen in das Bildungssystem und – jedoch weniger bedeutsam – in den Arbeitsmarkt genannt. Die Hauptursache jedoch, da sind sich Wissenschaftler und Ägypter_innen selbst einig, ist wirtschaftlicher Natur: Steigende Lebenshaltungskosten in Kombination mit hoher Arbeitslosigkeit machen es für junge Menschen immer schwieriger, ausreichend Kapital anzuhäufen, um die für eine Hochzeit geforderte Summe aufzubringen.
Ökonomische und gesellschaftliche Auswirkungen
In Umfragen, welche die Kernprobleme ägyptischer Jugendlicher aus deren Sicht sowie der Sicht der Eltern behandeln, werden stets die finanziellen Hürden vor der Hochzeit ganz zu Beginn genannt. Die Akkumulation der geforderten Mittel dominiert die finanziellen Sorgen und sozialen Strategien von Individuen, Paaren, Eltern und der erweiterten Familie – und dies möglicherweise schon Jahre im Voraus. Die Hochzeit steht im Zentrum aller wirtschaftlichen Entscheidungen und ihre finanzielle Priorität kann zu Ungunsten anderer Lebensbereiche ausfallen und die Verarmung oder Verschuldung der Eltern und anderer Familienangehöriger zur Folge haben. Junge Männer sind gezwungen, Zweitjobs anzunehmen oder der besseren Gehälter wegen für einige Zeit ins Ausland zu migrieren. Junge Frauen zieht das Bedürfnis oder die Notwendigkeit, sich an den Kosten zu beteiligen, vermehrt auf den Arbeitsmarkt, wobei einer Studie zufolge viele von ihnen ihre Arbeit aufgeben, sobald die benötigte Summe beisammen ist.
Doch junge Menschen wenden auch andere Strategien an, um die finanziellen Hürden zu umschiffen und tragen damit weiterhin zum Wandel der traditionellen Ehe bei. So ist der Trend des symbolischen mahr auf dem Vormarsch. Einige junge Männer wiederum wählen ihre Partner nicht mehr wegen des passenden sozialen Hintergrunds aus, sondern weil diese aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters oder der niedrigeren sozialen Stellung keinen hohen mahr verlangen können oder sich mehr an den Hochzeitskosten beteiligen müssen. Der „Marktwert“ ägyptischer Frauen sinkt mit dem Alter und die Angst vor der sozialen Stigmatisierung als „alte Jungfer“ setzt sie unter Druck, möglichst früh und, falls notwendig, den ersten zahlungsfähigen Mann zu heiraten.
Als Gegengewicht steht jedoch der durch den kulturellen Wandel ausgelöste Zugewinn an Autonomie der Frauen in der Partnerwahl und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung durch Bildung und Arbeit. Das Ergebnis ist eine steigende Zahl von Frauen, die sich bewusst dazu entscheidet, nicht den Erstbesten zu heiraten und dafür sogar in Kauf nimmt, dauerhaft unverheiratet zu bleiben.
Das beste Beispiel hierfür ist die Pharmazeutin und Bloggerin Ghada Abdelaal, welche seit 2006 in ihrem satirischen Blog ʿāyiza itgawwiz (Ich will heiraten – 2008 auch als Buch in mehreren Sprachen erschienen) ihre vergebliche Suche nach einem passenden Ehemann schildert sowie das Heiratsverhalten der ägyptischen Mittelklasse kritisiert. Darin schreibt Abdelaal:
„Die Zahl der unverheirateten Frauen ist gestiegen, und es sind heute mehrere Millionen, die noch auf einen Bräutigam warten. Diese Frauen müssen lernen, sich selbst zu achten, nach Erfolg auf einem andern [sic!] Gebiet zu suchen und ihr Leben zu geniessen [sic!]. Vor allem dürfen die Unverheirateten nicht denken, dass das Leben noch nicht begonnen hat! Und die Gesellschaft muss aufhören, in der jungen Frau nur die Braut zu sehen." [1]
Neben dieser neuen „Sorte“ alleinstehender Frauen gibt es jedoch noch ein weiteres gesellschaftliches Phänomen, das durch das steigende Heiratsalter ausgelöst wird – und dessen Folgen die politische und religiöse Obrigkeit wohl vor allem dazu verleitet haben, die „Ehekrise“ auf ihre Agenda zu setzen.
Während die Hochzeit den Übergang zum Erwachsenen-Status markiert, ziehen junge Ägypter_innen erst nach der Heirat von zu Hause aus, erlangen Unabhängigkeit und die Möglichkeit zur vollen gesellschaftlichen Partizipation. Doch durch das steigende Heiratsalter sind junge Menschen gezwungen, ihren Kinder-Status bis weit über ihr zwanzigstes Lebensjahr beizubehalten und zwar mit all seinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Einschränkungen. Das Phänomen des hinausgezögerten Übertritts ins Erwachsenenalter, von Wissenschaftlern als „Wait Adulthood“ bezeichnet, ist eine Quelle der Unsicherheit, Sorge und Frustration für junge Menschen und stürzt sie in eine Identitätskrise.
Eine direkte Folge der – insbesondere sexuellen – Frustration beschreibt die Anthropologin Diane Singerman:
„Wirtschaftswissenschaftler sagen, wenn der Preis einer Ware ansteigt und die Nachfrage gleich stark bleibt […], dann wird der Markt zum Ausgleich einen billigeren Ersatz schaffen. Wenn junge Menschen […] sich eine traditionelle Hochzeit nicht leisten können, so finden sie andere, gesellschaftlich vielleicht weniger akzeptierte Wege zur Interaktion mit dem anderen Geschlecht. In Ägypten haben wir immer mehr, wenn auch indirekte Belege für den Anstieg von alternativen Ehe-Formen.“
Singerman spielt dabei insbesondere auf die so genannte ʿurfī-Ehe an, eine nicht registrierte und staatlich somit nicht anerkannte Form der Partnerschaft, welche gewohnheitsrechtliche und religiöse Legitimität genießt. Als meist zeitlich begrenzter Ausweg aus dem Dilemma zwischen materiellen Beschränkungen und gesellschaftlichen Zwängen hat die ʿurfī-Ehe in den vergangenen Jahren in Ägypten einen bemerkenswerten Aufstieg erlebt, insbesondere in Studentenkreisen. Da sie nicht staatlichen Regelungen unterliegt, ist sie nicht selten Quelle rechtlicher und gesellschaftlicher Streitigkeiten, insbesondere im Falle von Schwangerschaft. Die ʿurfī-Ehe ist Teil einer seit Jahren in der ägyptischen Öffentlichkeit geführten Debatte über Sexualität, Geschlechterrollen und Moralvorstellungen und wird insbesondere von religiöser Seite als Bedrohung wahrgenommen.
Es gibt eine weitere Art, wie sich die Frustration der Jugendlichen als gesellschaftliche Reaktion manifestiert und in einem extremen Ausmaß konnte diese Reaktion in den Aufständen des so genannten „Arabischen Frühlings“ beobachtet werden: Das steigende Heiratsalter und die damit verbundenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ursachen und Folgen waren nicht nur einer der Hauptauslöser für die Proteste, die zu den politischen Umbrüche führten, sondern diente auch als Zündstoff, da insbesondere junge unverheiratete Männer risikofreudiger sind als ihre verheirateten Pendants. Das zeigte Miriam Marks in einer 2011 veröffentlichten Studie auf, die den Zusammenhang zwischen Junggesellentum und riskantem politischem Aktivismus bei jungen Ägyptern untersuchte. Angesichts dieser Entwicklungen ist es nicht verwunderlich, dass auch die Politik sich durch die gesellschaftlichen Auswirkungen des wandelnden Heiratsverhaltens bedroht fühlt.
Die „Ehe-Krise“ als Barometer für sozioökonomische Unsicherheit
Doch ist der Wandel der Ehe-Institution nun, wie ägyptische Politiker befürchten, tatsächlich eine Bedrohung für die Stabilität der Gesellschaft? Wohl kaum. Vielmehr kann man sie als Symptom eines bereits stattfindenden weitreichenden sozioökonomischen Transformationsprozesses bezeichnen, in dessen Folge traditionelle Normen und Werte im Allgemeinen in Frage gestellt werden.
Und: Laut der ägyptischen Historikerin Hanan Kholoussy ist es auch nicht das erste Mal, dass der Begriff der „Ehekrise“ mit derlei Entwicklungen in Zusammenhang gebracht wird. Bereits in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dominierten Sorgen über eine angeblich wachsende Anzahl junger mittelständischer Männer, die den Junggesellenstatus ins mittlere Alter beibehielten, die Diskurse der Öffentlichkeit. Die kollektive Sorge über diese „Ehe-Krise“ war weitaus größer als die, über die realen Probleme der britischen Vorherrschaft oder der drohenden Weltwirtschaftskrise. Die Debatten verschwanden in den dreißiger Jahren, als Ägypten mehr Souveränität und die Bevölkerung mehr Optimismus erlangt hatten.
So ist die damalige wie auch die derzeitige “Ehekrise” eine Art Barometer für sozialen Fortschritt, politisches Wohlbefinden und wirtschaftliche Gesundheit des Landes und zugleich eine Plattform für Debatten über Materialismus, Privatisierung, gesellschaftliche Sitten, Arbeitslosigkeit, Geschlechterrollen, Islamismus und die Leistung der Regierung.
Fußnoten:
[1] Abdelaal, Ghada: Ich will heiraten! [2007]. Basel: Lenos Verlag 2010, S. 27.
Referenzen:
Hasso, Frances Susan: Consuming Desires. Family Crisis and the State in the Middle East. Stanford: Stanford University Press 2010.
Hoodfar, Homa: Between Marriage and the Market. Intimate Politics and Survival in Cairo. Berkeley: University of California Press (1997) (Comparative Studies on Muslim Societies).
Human Development Project (Hg.): Egypt Human Development Report (2010).
Kholoussy, Hanan: For Better, For Worse. The Marriage Crisis that made modern Egypt. Stanford: Stanford University Press (2010).
Population Council (Hg.): Survey of Young People in Egypt (2011).
Rashad, Hoda / Osma, Magued / Roudi-Fahimi, Farzaneh: Marriage in the Arab World.
Singerman, Diane / Ibrahim, Barbara: “The Costs of Marriage in Egypt. A Hidden Variable in the New Arab Demography.” In: Cairo Papers in Social Sciences Nr. 21.1/2 (2001), S. 80-116.