04.08.2014
"Eine Bankrotterklärung für den Journalismus", Teil zwei – Christoph Reuter zur Syrien-Berichterstattung
Demonstration pro-revolutionärer Aktivist_innen in Elend Kobani in der Provinz Aleppo im April 2012. Christoph Reuter zu internationalen Medien: "Wenn ich nach Lektüre gehen würde, so hätte ich das Gefühl, alle lokalen Räte seien zusammengebrochen und es gibt nur noch Chaos und Zustände wie in Somalia. Aber dann ist man drin und sieht, es gibt sie immer wieder oder es gibt sie immer noch." Bild: Freedom House / Flickr. CC-BY
Demonstration pro-revolutionärer Aktivist_innen in Elend Kobani in der Provinz Aleppo im April 2012. Christoph Reuter zu internationalen Medien: "Wenn ich nach Lektüre gehen würde, so hätte ich das Gefühl, alle lokalen Räte seien zusammengebrochen und es gibt nur noch Chaos und Zustände wie in Somalia. Aber dann ist man drin und sieht, es gibt sie immer wieder oder es gibt sie immer noch." Bild: Freedom House / Flickr. CC-BY

Spiegel-Korrespondent Christoph Reuter berichtet im Gespräch mit Alsharq en Detail über die Schwierigkeiten der Berichterstattung und Recherche zu Syrien sowie die Herausforderung, mit dominanten Diskursen zu brechen. Angesichts der mangelnden Differenzierungsbereitschaft in der Medienlandschaft sei die deutsche Berichterstattung zu Syrien gescheitert.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Journalismus-Serie. Alle Texte finden Sie hier. Teil 1 dieses Interviews ist hier nachzulesen.
Christoph Reuter ist mehrfach ausgezeichneter Autor und Nahostkorrespondent des SPIEGEL. Er hat als Kriegsberichterstatter aus Afghanistan und Irak berichtet. Zurzeit lebt er in Beirut und hat in den vergangenen Jahren regelmäßig aus Syrien berichtet.

Alsharq: Warum hat gerade das Massaker in Hula in unserem Verständnis so einen Stellenwert erlangt? Wenn wir heute in Deutschland über die syrische Revolution reden, dann ist Hula ein Thema. Daran wird bis heute festgemacht, ob Assad oder die Opposition kriminell sind.

Christoph Reuter: Es war das erste große Massaker, das relativ gut belegt war, da zeitgleich die UN-Inspekteure im Land und am nächsten Morgen in Hula waren. Dadurch haben sie den Aussagen der Überlebenden, dass hier ein Massaker stattgefunden hat, großes Gewicht und Glaubwürdigkeit verliehen. Die haben die Leichen gesehen und dann wurde automatisch davon ausgegangen, dass das Regime hier ein Massaker an einer Dorfbevölkerung verübt hat. Das war auch die Version, die alle Dorfbewohner erzählten. Dann hat das Regime zwei Wochen später mit relativ viel Mühe eine Nonne, gefälschte Zeugen aus der Umgebung und einen russischen Journalisten aufgeboten und sie mit Rainer Hermann, dem FAZ-Korrespondenten, zusammengebracht. Der hat sich in Damaskus diese Gesprächspartner zuführen lassen und die haben ihm erzählt, dass es die Terroristen waren. Das hat er dann so aufgeschrieben und danach hatte man in Deutschland, wo Ausgewogenheit ja gerne als Ersatz für Journalismus genommen wird, zwei Versionen: Die einen sagen so, die anderen sagen so.

Und dann kam auch noch der ehemalige Verlagsmanager Jürgen Todenhöfer, dem dieselben Zeugen zugeführt wurden. Insofern war das auf einmal eine deutsche Geschichte geworden, obwohl wir ja mit dem Massaker nichts zu tun hatten. Daraufhin sind mein Team und ich zwei Monate später unter ziemlich großen Mühen dahin gefahren und haben mit den Überlebenden, mit Familienangehörigen, mit Zeugen, die die Angreifer gesehen haben, geredet. Wir haben uns die Topografie angeschaut, die Wege: welche Gegenden unter Kontrolle der Scharfschützen der Armee sind und so weiter. Wir kamen zu dem Ergebnis, dass es keinen Grund zur Annahme gibt, dass die Zeugen oder Überlebenden lügen. Insofern war das eine Recherche, die wir sehr wichtig fanden, da es weltweit die Leute bewegte, was denn nun stimmte.

Was ist für Dich der Unterschied bezüglich Deiner Berichterstattung über Syrien im Vergleich zum Irak oder Afghanistan vorher? Geht es Dir auch darum, eine „Sache“ zu unterstützen? In einigen Deiner Artikel hast du ja auch schon empfohlen, Solidaritätsgruppen wie „Adopt a Revolution“ zu unterstützen.

Das sind zwei unterschiedliche Stränge. Die Berichterstattung darf davon nicht beeinflusst sein. Wenn wir eine FSA [Freie Syrische Armee]-Brigade erleben, die ihre Gefangenen foltert, wenn falsche Anschuldigungen erhoben werden, wenn Dörfer bombardiert werden, dann schreiben wir das auch.

Aber ich glaube, dass diese Leute ihrer Regierung oder ihrem Regime den Kampf erklärt haben – erst den friedlichen Widerstand und dann den Krieg –, weil sie Gerechtigkeit wollen und die Freiheit, sich als Bürger zu fühlen. Das ist ein berechtigtes Anliegen, im Gegensatz zum Anliegen des Regimes, dieses Land weiterhin als seinen Privatbesitz zu beherrschen. Insofern ist diese Revolution ethisch begründet. Auf der kommentierenden Ebene unterstütze ich sie also.

Du warst in letzter Zeit recht häufig in nahen Zeitabständen in Syrien. Inwiefern hat sich die Situation jedes Mal geändert?

Also bis Sommer letzten Jahres war es so, dass wir drei bis vier Stunden auf türkischer Seite waren, noch kurz Leute getroffen haben, Gepäck eingelagert haben, was wir nicht mitnehmen wollten – und dann fuhr man rein. Es war normal geworden. Das änderte sich dann ab August, als klar wurde, dass ISIS [ISIS benannte sich mittlerweile in IS, Islamischer Staat, um, Anm. d. Red.] immer mehr Gebiete kontrolliert.

Ihr seid also immer über den Norden rein, oder auch über den Süden?

Nein, nie über den Süden. Wir sind Experten geworden für alle Grenzen. Irak ging, haben wir aber nie gemacht. Jordanien haben wir versucht, zu unserer großen Überraschung war es aber vollkommen unmöglich. Diese Grenze ist ähnlich gesichert wie die israelische. Niemand kommt rüber, ohne dass der jordanische Geheimdienst sein OK dazu gibt. Wir haben es über fünf verschiedene Wege versucht: über den Militärrat von Daraa, über einen Liaison-Kontakt zum jordanischen Geheimdienst, über den jordanischen Geheimdienst selbst und über einen – wie wir dachten, unabhängigen – Schmuggler und dann noch über Verwandte unseres damaligen Rechercheurs. Jedes Mal hieß es: „Es klappt, gebt uns zwei Tage“. Und nach einer Woche oder so hieß es dann: „Nein, geht nicht, kein Ausländer darf rein.“ Libanon ging, solange man eben noch nach Qalamon, also Yabrud und Zabadani, nach Syrien hinein konnte.

Insofern bleiben im Moment nur die Türkei und der Irak. Irak gestaltet sich jedoch schwierig, nur unter recht großen Gefahren gelänge man bis Deir az-Zor. Aber dort ist ISIS an vielen Orten präsent, und das wäre für uns zu gefährlich. Oder nach Qamishli, aber da kann man auch von der türkischen Seite hin.

Es war in der Tat ein ungewisses Gefühl, im April wieder reinzugehen, ohne zu wissen, was sich alles verändert hat.

Was hat sich denn verändert?

Gar nicht so viel, wie wir dachten. Die zweite Reise war insofern anders, als die PYD [syrischer Ableger der PKK] den Anspruch einer dem Assad-Regime ähnlichen Form der Totalkontrolle aufgebaut hat. Sie wissen genau, was bei ihnen passiert. Oder wie es der Pressezuständige ausdrückte: „Ihr müsst nur ein Taschengeld mitbringen, alles andere organisieren wir.“

Selbst in Qamishli wäre es vielleicht leichter, verschiedene Gruppen zu treffen. Aber in Kubani, der kleinen kurdischen Enklave weiter westlich, war es ein bisschen bizarr. Da die dort allerdings umzingelt sind von ISIS und sich in der Tat einen sehr ehrlichen und mörderischen Kampf mit denen liefern, fällt das dann nicht so ins Gewicht. Denn wenn man umzingelt ist von Leuten, die einen umbringen wollen, haben basisdemokratische Debatten nicht die oberste Priorität. Die kämpfen da im Moment ums Überleben. Es war spannend, aber sehr anders als alles, was wir in Idlib, in Aleppo oder Hama erlebt hatten, wo man spätestens am zweiten Abend das Gefühl hatte, man weiß, worum es geht. Wer gegen wen was hat. Was schief geht, wer schmuggelt. Da wird letztlich über alles geredet.

Wie geht man damit um als Journalist, dass man in große Teile des Landes nicht reinkommt und deswegen nicht über sie berichten kann? Die Informationsquellen reduzieren sich, muss man sich auf die staatliche Nachrichtenagentur SANA verlassen? Was machst du, um eine Idee davon zu bekommen, was etwa in den belagerten Gebieten, in die du ja nicht reinkommst, passiert?

Skype ist eine großartige Erfindung, weil man mit Leuten sprechen und sie dann auch noch zum großen Teil sehen kann. Was sehr anders ist, als wenn man mit ihnen mailen würde. Denn man bekommt ihren Gesichtsausdruck mit, wenn sie etwas sagen, man hört ihre Stimmenlage. Man hört, wie sie auf Fragen reagieren. Der Subtext eines Gespräches wird über Skype vermittelt. Dann gibt es Leute, die wir früher schon mal getroffen haben, als sie noch ausreisen konnten. Oder es sind gute Bekannte von Leuten, die wir sehr gut kennen, sodass man eine gewisse Gewähr hat, dass der einem jetzt keinen totalen Blödsinn erzählt. Außerdem reden wir mit mehreren Menschen über dieselben Vorkommnisse. Aber natürlich wissen wir nicht so genau, wie es wirklich drinnen ist. Wir gucken uns sehr viel mehr Videos an. Nach Daraa etwa konnten wir nicht, aber wir hatten das Gefühl, das wir halb Daraa in fünf verschiedenen Orten in Jordanien getroffen hatten. Insofern kriegt man schon ziemlich viel mit, selbst wenn man nicht selber dagewesen ist. Die schwierigsten Gegenden sind in der Tat Homs und die Vororte von Damaskus, wo Leute nicht mehr rauskonnten.

Du bist ja jetzt auch in „befreiten“ Gebieten unterwegs gewesen. In unseren englisch-/deutschsprachigen Medien wird die Lage zurzeit vor allem so dargestellt, dass Assad die Oberhand hat und gewinnt. Die Assadschen Diskurse werden in unseren Medien oft als neutral aufgenommen. Wie ist es für Dich, wenn du im Land bist - ist das Bild dann für dich komplizierter oder einfacher?

Es ist frustrierend. Bei Afghanistan oder Irak hatte man das Gefühl, es gibt keine so klare Parteinahme. Weder hatte man das Gefühl, eine der beiden Seiten ist einem sonderlich sympathisch, noch gab es in den englisch-/deutschsprachigen Medien eine so klare Bereitschaft, manipulierten Berichten Glauben zu schenken. Wenn ich nach Lektüre gehen würde, so hätte ich das Gefühl, alle lokalen Räte seien zusammengebrochen und es gibt nur noch Chaos und Zustände wie in Somalia.

Aber dann ist man drin und sieht, es gibt sie immer wieder oder es gibt sie immer noch. Man kann sich auch noch durch das Land bewegen. Zumindest im Norden. Die Leute sind noch nicht völlig barbarisiert. Und viele Dinge sind anders als das, was berichtet wird. Aber das Problem ist: Es gibt eine hohe Bereitschaft, SANA zu glauben.

Was sind die Methoden des Regimes, seine Diskurse so effektiv einzubringen?

Das Regime betreibt seine Propaganda unablässig und auch auf relativ elegante und elaborierte Weise. Sie vermelden Nachrichten nicht unbedingt selbst, sondern sie schicken christliche Priester oder Nonnen vor und andere Würdenträger. Sie lassen ihre Meldungen über russische oder iranische Auslandssender laufen, über die sie dann wieder in Deutschland ankommen, oder etwa von AP (Associated Press) übernommen werden – die aber dann nicht nachgraben, ob das denn auch tatsächlich so stimmt. Bei Ma´alula war das wunderbar zu sehen: Es gab mehrere Checkpoints am Stadtrand von Ma´alula, von denen aus sunnitische Dörfer beschossen wurden. Dann wurden diese Checkpoints angegriffen, sonst nichts. Das Regime verbreitete, die Kirchen seien geschändet worden. Aber es brauchte Tage, bis sich in den deutsch- und englischsprachigen Medien durchsetzte, dass das überhaupt nicht stimmte. Und das geschah auch nur, weil es Leute gab, die mit den Nonnen vor Ort telefoniert hatten, die sagten, dass in dem Ort nichts angegriffen worden sei.

Das Gleiche gilt für ISIS. Es gibt extrem wenige Berichte in der deutschsprachigen Presse darüber, dass ISIS bis Mitte Juni vom Regime nie angegriffen worden ist und sie im Prinzip gemeinsam Krieg führen, bis hin zu zeitlich und örtlich choreographierten Bewegungen. Die Luftwaffe bombardiert eine FSA-Stellung, Minuten später greift ISIS an. Das Regime und die destruktivsten Fanatiker ergänzen sich wunderbar im Kampf gegen die restlichen Rebellen. Die deutschsprachigen Medien berichten entweder gar nicht mehr oder fahren halt immer wieder auf der Schiene der Ausgewogenheit im Sinne „die einen sagen das, die anderen sagen das - und man kann es leider nicht überprüfen“, was eine Bankrotterklärung ist für den Journalismus.

Wie erklärst Du Dir das? Bei der Twitter-Kampagne #SaveKessab haben wir zuletzt gesehen, dass Orientalismus hier eine große Rolle spielt. Wie kommt es, dass das in Deutschland so einfach akzeptiert wird?

Zum einen, weil es aus den Erfahrungswerten eine bestimmte Reserviertheit gibt gegenüber allem, was sunnitisch, bärtig und bewaffnet ist. Die paar Partikel, die ein deutsches Publikum kennt, sind die Shabab in Somalia, das sind die Taliban, das sind im Zweifelsfall noch pakistanische Väter, die ihre Töchter steinigen. Man hat das Gefühl, die syrischen Aufständischen werden für alles, was irgendwie sunnitisch ist, haftbar gemacht. Dazu kommt, dass der arabische Frühling lange her ist und das folgende Chaos schon sehr lange dauert. Die Aufmerksamkeitsspanne des deutschen Publikums, was solche Länder angeht, ist gering. Dann hat man das syrische Regime, das genau diese wunde Stelle kennt und sie immer wieder ansticht und füttert mit den Horrorbildern. Sei es #SaveKessab, wo zum Teil Bilder aus einem amerikanischen Horrorfilm der 1980er-Jahre verwendet wurden oder Bilder von Opfern der Luftwaffenbombardements des Regimes selbst. Dazu kommen die Berichte von deutschen, syrischen oder libanesischen Christen, die in Deutschland auftreten und dann sagen: „Wir haben das von unseren Verwandten gehört.“ Die glauben zum Teil vielleicht, was ihnen die Verwandten erzählt haben; diese kennen es aber selber nur aus dem Fernsehen. Es gibt auch das Narrativ, dass Christen im Nahen Osten verfolgt werden, was im Irak ja auch gestimmt hat, aber das Assad-Regime füttert das nach Kräften. Das fällt dann auf fruchtbaren Boden. Und nachdem man Leute drei Jahre lang aufs Grausamste verfolgt und bombardiert hat, hat man jetzt Leute wie jenen Subkommandante aus Homs, der einem Hisbollahi die Leber – das Herz war es, glaube ich, nicht – rausschneidet und so tut, als ob er reinbeißt. Man hat ein großes Rauschen in Syrien – wo sich für jede Melodie ein paar Töne finden lassen. Die sind nicht repräsentativ, aber sie sind auch nicht falsch. Man kann sagen, ja dieser syrische Rebell ist ein Kannibale. Aber es gab nur einen! Man findet Belege und die Frage ist, was macht man dann daraus. Und zu sagen, es ist aber nicht repräsentativ, oder die Dschihadisten, die jetzt da sind, die waren vor zwei Jahren nicht da, als das Regime oder Herr Todenhöfer schon behauptet haben, es seien alles Ausländer – das ist ein Maß an Differenzierung, das so gut wie unvermittelbar ist in einem Konflikt, der leider – so hat man das Gefühl – sowieso fast niemanden mehr interessiert.

Vielen Dank für das Gespräch!