12.12.2013
Kurdistan-Irak: Selbstbestimmung ohne Umkehr
Blick über Sulaymaniyah in der Autonomen Region Kurdistan, einer der am schnellsten wachsenden Städte des Iraks. Foto: Jonathan Hackenbroich
Blick über Sulaymaniyah in der Autonomen Region Kurdistan, einer der am schnellsten wachsenden Städte des Iraks. Foto: Jonathan Hackenbroich

Die Kurden im Norden des Irak drängen mit Nachdruck nach Selbstbestimmung. Dabei gibt es zahlreiche Streitpunkte mit der irakischen Zentralregierung; zudem ist die Auseinandersetzung von dem sich verändernden regionalen Machtgefüge beeinflusst. Teil I einer zweiteiligen Analyse zu den Chancen und Schwierigkeiten einer Unabhängigkeit Kurdistan-IraksVon Annette Kammerer, Alexander Sacharow, Jonathan Hackenbroich und Niko Neumann.

In den vergangenen Jahren hat sich für die kurdische Bevölkerung im Nahen und Mittleren Osten etwas bislang Unvorstellbares ergeben – ein de-facto unabhängiger kurdischer Staat im Nordirak. Weitestgehend unbeachtet von westlicher Medienberichterstattung und im Schatten der arabischen Umbrüche haben irakische Kurden einen Weg in Richtung Selbstbestimmung eingeschlagen, der wegweisend für die kurdische Minderheit in den umliegenden Staaten Iran, Türkei und Syrien sein kann. Dabei ist die Liste an Streitigkeiten zwischen der kurdischen Regionalregierung und der Zentralregierung lang. Unausweichlich kommt daher die Frage auf, ob die Zukunft Kurdistan-Iraks tatsächlich auch weiterhin im föderalen Irak liegt oder eine Sezession früher oder später unausweichlich wird.

Kurdistan steht längst auf eigenen Füßen

Seit der Verabschiedung der neuen irakischen Verfassung im Jahr 2005 bestimmen die Kurden im Nordirak ihre Regierungsform unabhängig von der Zentralregierung in Bagdad. Von der Organisation der Wahlen bis hin zum eigenen Verfassungsgebungsprozess – das politische Leben in Kurdistan-Irak ist weitestgehend selbstbestimmt. Die entscheidende Basis für die Verwirklichung der Autonomie bildet das stabile Machtduopol aus Kurdischer Demokratischer Partei (KDP) und Patriotischer Union Kurdistans (PUK), welches sich nach Jahren des Streits herausgebildet hat.

Neben der politischen Selbstorganisation stützt sich der kurdische Erfolg aber auch auf den enormen Wirtschaftsaufschwung. Zuletzt wuchs die Wirtschaft gemessen am Pro-Kopf-Einkommen um über zwölf Prozent. Während sich die Sicherheitslage im Rest des Landes durch die sunnitisch-schiitischen Auseinandersetzungen zusehends verschlechtert, sind mittlerweile mehr als 2000 ausländische Unternehmen in Kurdistan-Irak aktiv. Die Hälfte von diesen stammt aus der Türkei und ist im kurdischen Öl- und Gassektor angesiedelt.

Dabei ist die kurdische Regionalregierung (KRG) mittlerweile dazu übergegangen, eigenständig Förderlizenzen für Öl und Gas an ausländische Unternehmen zu vergeben. Das betrifft auch Vorkommen, die in den Gebieten liegen, die zwischen der kurdischen Regionalregierung und der irakischen Zentralregierung umstritten sind. Jedoch musste die KRG für Ölexporte bisher LKW benutzen, da die Pipelines in die Türkei unter der Kontrolle Bagdads stehen. Dagegen wird in diesen Tagen die lang geplante Pipeline Erbil-Fishkhabour fertiggestellt, die ausschließlich über kurdisches Territorium verläuft und direkt an das türkische Pipelinesystem angeschlossen ist. Diese wird den Einfluss von Bagdad auf die Erdölexporte weiter einschränken. Langfristig ist ein Anschluss an das europäische Pipelinenetz denkbar. Mit einem anvisierten Tagesdurchsatz von bis zu 300 000 Barrel stellt die Pipeline daher einen wichtigen Schritt in Richtung der wirtschaftlichen Selbstständigkeit Kurdistan-Iraks dar.

Das Rückgrat des kurdischen Selbstbewusstseins ist die eigene Armee, die Peshmerga. Eine professionelle Armee, die nach eigenen Angaben über 190 000 Soldatinnen und Soldaten verfügt. Diese wachen zusammen mit der kurdischen Polizei und den Geheimdiensten über die kurdisch-irakische Grenze und verwehren zentralirakischen Sicherheitskräften den Zutritt in kurdisch kontrollierte Gebiete.

Die kurdische Politik untermauert das Streben nach Unabhängigkeit

Während die Kurden in der Türkei erst seit Erdogans „Demokratiepaket“ an Privatschulen auf Kurdisch unterrichten dürfen, ist die Förderung der eigenen Sprache für irakische Kurden bereits Realität. Bezeichnenderweise wächst eine Generation von Kurden im Nordirak heran, die als zweite Fremdsprache nicht mehr Arabisch, sondern Englisch lernt. Längst ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Sprachbarrieren die kurdische Partizipation in Bagdad erschweren.

Die zunehmend politische, wirtschaftliche und kulturelle Unabhängigkeit schlägt sich nicht zuletzt auch in der starken Rhetorik von Masoud Barzani nieder, dem Präsidenten Kurdistan-Iraks. Barzani bedient sich regelmäßig anti-irakischer Stimmungsmache und droht mit erhobenem Zeigefinger gegenüber Bagdad, das Volk über eine Unabhängigkeit entscheiden zu lassen. Betrachtet man den Ausgang des letzten Referendums im Jahr 2005, bei dem eine überwältigende Mehrheit von fast 99 Prozent der Wahlbeteiligten für ein unabhängiges Kurdistan votierte, dann ist der Ausgang einer erneuten Volksentscheidung bereits absehbar. Zusehends herrscht in der Gesellschaft die Ansicht vor, dass eine Sezession lediglich eine Frage der Zeit sei.

Auch die diplomatischen Beziehungen der KRG verdeutlichen zusehends, dass es sich bei Kurdistan-Irak mittlerweile um einen de-facto Staat handelt. Deutsche Politiker reisen immer häufiger zuerst nach Erbil und erst danach nach Bagdad. In Russland und bemerkenswerterweise auch in der Türkei wird Barzani bereits wie ein Staatspräsident behandelt. Die neue außenpolitische Rolle Kurdistan-Iraks spiegelt sich nicht zuletzt in einem diplomatischen Affront vom August 2012 wider. Damals reiste der türkische Außenminister Ahmet Davotuglu nach Erbil, ohne Bagdad einen Besuch abzustatten oder seinen Besuch in Bagdad auch nur anzukündigen.

Irak, ein gescheiterter Staat?

Auch die gesamtirakische Sicherheitslage wirkt sich auf das Verhältnis zwischen KRG und Zentralregierung aus. Seit der Einführung der Verfassung von 2005 verstärken sich die zentrifugalen Kräfte, welche den Irak auseinanderzureißen drohen und einen Bürgerkrieg auslösen könnten. Das von den USA eingeführte System der Machtteilung auf Basis von Konfessionszugehörigkeit stärkt religiöse und ethnische Parteien gegenüber säkularen und gemäßigten Kräften in der irakischen Politik. Der autoritäre Regierungsstil des Premierministers Nouri al-Maliki und ein allgemeiner Macht- und Vertrauensverlust der Zentralregierung spalten die Lager zudem.

Der politische Alltag wird von einem sunnitisch-schiitischen Konflikt dominiert, der Parallelen in anderen Staaten der Region findet. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Sicherheitslage in den vergangenen Monaten dramatisch verschlechtert und die Zahl der Bombenattentate zugenommen hat. Die fatale Sicherheits- und Menschenrechtslage führen dazu, dass Unternehmen zusehends nur noch in den verhältnismäßig sichereren kurdischen Teil investieren. Ein Umstand, der den kurdischen Bestrebungen natürlich entgegen kommt.

Die Liste der Streitpunkte mit Bagdad bleibt lang

Während die kurdisch-irakische Regierung ihre Rechte kontinuierlich ausweitet, bleibt das Verhältnis zum Zentralirak angespannt. Für die wohl größten Spannungen sorgt die Statusfrage umstrittener Gebiete. Im westlichen und südwestlichen Teil des Iraks gelegen sind diese zum Brennpunkt einer identitätsstiftenden Auseinandersetzung geworden. Grund dafür sind die politisch motivierten Ansiedlungen von arabischen Irakern in den 1980er Jahren, als von dort rund 300 000 Kurden vertrieben wurden.

Obwohl die Gebiete außerhalb der 2005 vertraglich festgelegten Grenzen der autonomen Region liegen, machen die Kurden aus ihrem Anspruch auf die aus ihrer Sicht traditionell kurdischen Gebiete keinen Hehl. Untermauert wird ihr Anspruch dabei durch die Präsenz der Peshmerga. Diese kontrolliert einen erheblichen Teil der Gebiete seit 2003.

Arabische und türkische Vertreter stehen dem äußerst kritisch gegenüber. Sie werten es als Versuch der Gebietseinverleibung. Ein für 2007 anberaumtes Referendum hätte Klarheit schaffen sollen. Jedoch wurde die Durchführung immer wieder auf Grund von Streitigkeiten zwischen der KRG und Zentralregierung über das Verfahren verschoben. Die kurdische Regierung drohte auf Grund der Blockade bereits mit der einseitigen Durchführung des Referendums, zögert bisher jedoch noch, ihrer Rhetorik Taten folgen zu lassen.

Der Zwist erstreckt sich dabei auch auf Verteilungskämpfe um Erdöl und Gas, welches überwiegend in der kurdischen Region, aber auch in den umstrittenen Gebieten um Kirkuk zu finden ist. Nach dem Scheitern der in der Verfassung festgeschriebenen Abstimmung zwischen Bagdad und Erbil zur Vermarktung der Erdöl- und Erdgasvorkommen im Jahre 2007, gingen die Kurden in die Offensive. Seitdem vergeben sie eigenständig Förderlizenzen für Ressourcen in Gebieten, für welche ihnen formell die Befugnisse fehlen. Als Antwort hierauf wird Druck an anderer Stelle auf die KRG ausgeübt: Da alle ins Ausland führende Pipelines durch die Zentralregierung kontrolliert werden, fließen Einnahmen aus dem Öl- und Gassektor zunächst in vollem Umfang an Bagdad. Ursprünglich war eine Gewinnbeteiligung von 17 Prozent an die KRG ausgehandelt worden. Al-Maliki, sich seines mächtigen Instruments bewusst, zögert Zahlungen bei Streitigkeiten zwischen Erbil und Bagdad immer häufiger hinaus oder überweist eine geringere Summe an die KRG. Das Drohpotential dieses diplomatischen Druckmittels schwindet jedoch zunehmend, da die fast fertiggestellte Erbil-Fishkhabour Pipeline außerhalb der Kontrolle Bagdads verläuft.

Erschwerend kommt hinzu, dass die kurdische Teilhabe an zentralirakischen Entscheidungsprozessen auf ein Minimum zurückgegangen ist. Nach dem Bruch der Erbiler Erklärung aus dem Jahr 2010, welche die Verteilung wichtiger Posten zwischen kurdischen, sunnitischen und schiitischen Parteivertretern regelt, kam es zum Zerwürfnis zwischen Barzani und dem irakischen Premierminister al-Maliki.

Die Situation kann jeder Zeit eskalieren

Zum Bruch und einer Eskalation könnte es vor allem bei der Statusfrage des ressourcenreichen und historisch bedeutsamen Kirkuk kommen. Entsprechend risikobehaftet ist die Lage, zumal seit geraumer Zeit keine Aussicht auf eine Einigung besteht. Gleichwohl wäre eine Eskalation der Lage nicht im Interesse der kurdischen Parteien. Denn sowohl die PUK als auch die KDP sind sich der verheerenden Konsequenzen für die kurdische Autonomie bewusst, sollte es zu einer Sezession kommen.

Unter Nahostexperten wird dabei zunehmend strittiger, wie regionale Kräfte in der Region auf eine unilaterale Unabhängigkeitserklärung Kurdistan-Iraks reagieren würden. Galt vor zwei Jahren noch die sofortige Grenzschließung durch die Türkei und Syrien als sicher, ist deren Verhalten heute kaum mehr vorhersehbar.

Aber auch Bagdad fürchtet eine Eskalation des Konflikts. Ein Sieg über ein unabhängiges Kurdistan wäre angesichts der militärischen Stärke der Peschmerga keinesfalls gesichert. Dass sich beide Regierungen der Folgen einer Unabhängigkeit bewusst sind, zeigt die immer wieder entschiedene Verhinderung einer militärischen Eskalation im letzten Moment. Mehrmals standen sich seit 2008 Peshmerga und die irakische Armee in den umstrittenen Gebieten gegenüber – außer vereinzelten Schusswechseln kam es dabei jedoch nie zu ausgedehnten gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Folglich wird deutlich: Das Verhältnis zwischen Zentral- und Regionalregierung ist explosiv, das Szenario einer gewaltsamen Eskalation allgegenwärtig und die Liste an ungelösten Problemen lang. Derzeit scheinen Kosten-Nutzen-Kalkulationen beider Streitparteien unabsehbare Entwicklungen noch verhindern zu können. Es werden jedoch zunehmend Handlungszwänge geschaffen, sei es durch die starke Unabhängigkeitsrhetorik Barzanis oder der sich weitenden wirtschaftlichen Kluft zwischen KRG und Zentralregierung, die eine Unabhängigkeitserklärung unausweichlich machen könnten.

Der zweite Teil findet sich hier.

Die AutorInnen studieren Internationale Beziehungen (BA) in Dresden. Ihre Analyse basiert auf Interviews mit VertreterInnen u.a. des Auswärtigen Amtes und des Center Middle East/North Africa an der Humboldt-Viadrina School of Governance.

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