Internationale Medien berichteten 24 Stunden am Stück von der Revolte in Tunis und vom Tahrir-Platz in Kairo. Dabei ging weitgehend unter, dass auch die marokkanische Bevölkerung zu Beginn des Jahres 2011 gegen den autoritären König Mohammed VI rebellierte. Mit einem geschickten Manöver sicherte der König sich und der ihn umgebenden Clique, den Makhzen, die Macht. "My Makhzen and Me", ein versteckt gedrehter Film, zeigt wichtige Momente im Kampf der Gruppierung des 20. Februar. Ein Einblick in die Widerstandsbewegung Marokkos anhand eines beeindruckenden Films von Nadir Bouchmousch.
Youness geht die Straße entlang, ein Stück Papier in der Hand. Es ist ein Brief von der Regierung: Alle nicht genehmigten Demonstrationen seien verboten. Youness ist wütend: "Wir haben niemanden um Erlaubnis gebeten, auf die Straße zu gehen und unser Recht auszuüben. Wir werden auch niemanden um dieses Recht bitten. Wir gehen und holen es uns," sagt er und wirft den Brief in den Mülleimer.
Schnitt. Youness steht in einer Menschenmenge, hinter ihm ein Mann mit Megafon. "Hört die Stimme des Volkes!", ruft der Mann. "Hört die Stimme des Volkes!", schreien Youness und die anderen, die mit ihm demonstrieren, und dann: "Die Makhzen müssen weg! Marokko ist mein freies Land!"
Die Makhzen, das ist die Clique um den marokkanischen König Mohammed VI. Sie bereichern sich auf Kosten der marokkanischen Bevölkerung und blockieren jede Reform in dem autoritär regierten Staat. Dabei hat Marokko Reformen dringend nötig: Beim Human Development Index rangiert das Land auf Platz 130, zwischen dem Irak und Nicaragua. Rund 50 Prozent der Jugendlichen besuchen laut einer Studie der Weltbank weder eine Schule, noch haben sie eine Arbeit. Und bei der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen landet Marokko auf Platz 136. Für Journalisten gibt es zahlreiche Restriktionen.
Rund die Hälfte der jungen Menschen in Marokko genießen weder Schulbildung noch feste Arbeit
Restriktionen, denen auch Youness Belghazi und seine FreundInnen ausgesetzt waren, als sie an dem Film "My Makhzen and Me" arbeiteten. So wurde ihnen etwa mit einer Anklage wegen "nicht genehmigtem Journalismus" gedroht. Doch sie drehten weiter. Entstanden ist dabei ein 40-minütiger Film, der ganz nahe dran ist an der Bewegung des 20. Februar, einer Koalition verschiedener Jugendgruppen, die an diesem Tag im Jahr 2011 in Massen gegen das Regime demonstrierten. Stilistisch interessant, regt der Film zum Nachdenken, aber immer wieder auch zum Lachen an. Gedreht hat ihn Nadir Bouchmousch, ein marokkanischer Filmstudent, der zu Beginn der Proteste im Februar 2011 gerade ein Auslandsstudium in San Diego / USA absolvierte. Nach seiner Rückkehr begab er sich auf eine Spurensuche in seinem Heimatland. Er befragte Straßenverkäufer, sichtete Youtube-Videomaterial und begleitete junge AktivistInnen in der Bewegung - wie Youness Belghazi, der damit sowohl Produzent als auch einer der Protagonisten des Films ist.
So sehr die Proteste im Februar 2011 in Marokko an der Weltöffentlichkeit vorbei gingen und alle Blicke sich nach Tunesien und Ägypten richteten, so sehr wurde anschließend von allen Seiten die reformwillige Haltung des marokkanischen Königs Mohammed VI hervorgehoben und gelobt. Kurz nachdem in Marokko landesweit mehr als 800.000 Menschen für sozio-ökonomische und politische Reformen protestiert hatten, wendete sich Mohammed VI mit einer Rede bereits eine Woche nach Beginn der Proteste an seine Bevölkerung. Ohne die Proteste direkt anzuerkennen, betonte er seine Bereitschaft zum nationalen Dialog und berief eine Kommission ein, die er mit der Erarbeitung einer Verfassungsreform auf Grundlage von Vorschlägen aus dem parteipolitischen und zivilgesellschaftlichen Feld in Marokko beauftragte.
Der König bot seichte Reformen
Die Bewegung des 20. Februar entschloss sich jedoch, anders als viele andere politische Kräfte im Land, zu einem Boykott des Reformvorhabens. Für sie stand die Einberufung der Reformkommission durch den König für eben jene anti-demokratischen Tendenzen, die die Protestierenden auf den Straßen von Rabat und Casablanca besonders kritisiert hatten. Artikel 19 der alten Verfassung bestimmte den König zum "Führer der Gäubigen, obersten Vertreter der Nation und Symbol ihrer Einheit". Diese Rolle gewährte dem König nicht nur uneingeschränkten politischen Einfluss, sondern übertrug ihm die Aufgabe, die traditionelle und kulturelle Einheit der marokkanischen Nation zu bewahren. Die DemonstrantInnen vom 20. Februar forderten nicht nur politische Teilhabe und Mitbestimmung, sondern stellten sich auch gegen den in der Verfassung festgelegten Freifahrtschein für den König. Viel Unmut richtete sich auch gegen seine Makhzen, die sich durch Patronage und Korruption an den Gütern des Landes bereichern konnten.
Diese Befugnisse fallen zu Lasten der unteren und mittleren Bevölkerungsschicht, die die ökonomischen Auswirkungen dieser Entwicklungen immer mehr zu spüren bekommt. Während Preise für Lebensmittel und Transport seit Jahren stetig steigen, gab es einzig für die Angestellten im öffentlichen Dienst höhere Löhne. Von diesen Erhöhungen jedoch kamen im vergangenen Jahr 73 Prozent allein dreien Ministern zugute, die Mohammed VI selbst ernannt hatte. Eine schwere Trockenheit im Jahr 2011 sorgte gleichzeitig für einen Einnahmen-Rückgang im Agrarsektor und die Instabilität in der Region im Zuge des Arabischen Frühlings bescherte dem Tourismussektor Einbußen von rund 12 Prozent.
Gehaltserhöhungen für die Königs-Clique
Der Versuch des Königs, den sozioökonomischen Grundlagen der Proteste mit geringfügigen politischen Reformen zu begegnen, wurde von der Bewegung des 20. Februar als deutliches Zeichen dafür verstanden, dass der König und seine Vertrauten nicht zu umfassenden Umstrukturierungen bereit waren. Die Reform-Kommission stellte der Öffentlichkeit im Juni 2011 eine leicht abgeänderte Verfassung zur Abstimmung vor, die jedoch wenige Neuerungen mit sich brachte: Der Premierminister sollte nun durch die stärkste Partei im Parlament statt vom König ernannt werden, doch der König blieb weiterhin Dreh- und Angelpunkt gesellschaftlicher und politischer Belange. Die Verfassung wurde nach einem Referendum offiziell angenommen. Der Versuch des Königs, die Proteste zu delegitimieren, gewaltsam niederzuschlagen und mit wenigen Veränderungen im Wortlaut der Verfassung ruhig zu stellen, empfanden dieProtestierenden als Hohn. Zwar wurde der viel kritisierte Artikel 19 gestrichen, doch wurde sein Inhalt in den Artikeln 41 und 42 fast im gleichen Wortlaut erneut bekräftigt: "Der König ist der Führer der Gäubigen und Wächter des Islam (...) Der König ist der Vorsteher des Staates, sein höchster Repräsentant, Symbol nationaler Einheit, (und) Garant des Fortbestandes und der Kontinuität des Staates".
Die politischen Reformen haben damit keine weitreichenden Konsequenzen im Sinne der Protestbewegung des 20. Februar mit sich gebracht. Im Gegenteil scheint sich in vielerlei Hinsicht die ökonomische und soziale Krise in Marokko zu verschärfen. Diejenigen jedoch, die gegen diese Zustände weiterhin aufbegehren, sind zunehmend staatlicher Repression und Willkür ausgesetzt. Einschüchterung, Polizeigewalt und lange Haftstrafen sind die Mittel eines Regimes, das aus Angst vor der eigenen Bevölkerung auf die Techniken der Delegitimierung und Einschüchterung setzt.
Viele AktivistInnen in Marokko sind mit dieser ständigen Furcht vor Repression vertraut: "Man tötet die Angst in sich", sagt der Demonstrant Youness im Gespräch mit Alsharq. "Natürlich, wenn die Wasserwerfer und das Tränengas kommen, rennt man weg. Aber man gewöhnt sich an die Gewalt." Ständig seien er und die anderen Mitglieder der Bewegung des 20. Februar der Gefahr der Verhaftung ausgesetzt. "Die Regierung weiß, wer wir sind und wie wir arbeiten." Dennoch müsse der Kampf gegen die 2011 beschlossene Verfassung weitergehen: "Die neue Verfassung erwähnt den König einundsechzig Mal. Das Wort 'Volk' kommt nur einmal vor", kritisiert Youness. Ein Freund von ihm sagt in "My Makhzen and Me": "Angeblich haben 98 Prozent am Verfassungsreferendum teilgenommen, aber tatsächlich waren die Straßen voller Menschen, die diese Verfassung gar nicht wollten."
Der Film zeigt auch ein weiteres Problem der Protestbewegung: von der Regierung bezahlte Gegendemonstranten. Diese sogenannten "Baltajiya" blockieren die Protestierenden und sprechen sich gegen ihre Forderungen aus. Die Polizei kann sich so als Schutzmacht der Ordnung zwischen zwei verschiedenen Lagern inszenieren. Nach außen entsteht das Bild eines gespaltenen Landes und gesellschaftlichen Diskurses.
Die Bewegung des 20. Februar aber arbeitet weiter, denn ihre Forderungen haben bisher kein Gehör gefunden. "Es geht uns um sozialen Wandel, nicht um politischen," erklärt Youness. Es gehe darum, Bildung in die Bevölkerung zu tragen und politisches Bewusstsein zu schärfen. Im Film heißt es dazu: "Wir haben eines der schlechtesten Bildungssysteme der Welt! In der Schule lernen wir nur auswendig. Das Ergebnis sind Bürger, die nicht in der Lage sind, ihre Situation zu begreifen. Stattdessen leben sie in ständiger Angst und begeistern sich für Meinungen, die nicht einmal ihre eigenen sind!"
Die Bewegung verfolge dabei keine Ideologie, erklärt Youness: "Am Anfang hatten wir große Probleme mit Islamisten, das war eine riesige Kakophonie. Die wollten nicht, dass bei uns Frauen mitdemonstrieren, dabei waren anfangs mehr Frauen als Männer bei den Protesten!" Die Islamisten hätten sich dann jedoch von der Bewegung abgespalten. "Uns geht es nur um Menschenrechte, das ist alles."
Langsam gehe es voran. "Die Bewegung wächst," sagt Youness, "aber es braucht Zeit, wohl bis zu drei Generationen. Bisher sind marokkanische Bürger nicht in der Lage, ihre eigene Situation zu verstehen." Oder, wie es im Film am Ende heißt: "Der Kampf beginnt erst."
Weitere Informationen zum Film gibt es auf der offiziellen Website.
Den Film in voller Länge kann man unter diesem Link ansehen (auf Englisch und Arabisch).