Ein knappes Jahr vor den Parlamentswahlen hat sich die libanesische Regierung mehrheitlich auf ein neues Wahlgesetz verständigt. Auch wenn viele Details noch verhandelt werden müssen, zeichnen sich bahnbrechende Veränderungen ab. Zu den wichtigsten Neuerungen gehören eine parlamentarische Frauenquote von 10 Prozent, die Abschaffung des Wahlverbots für Militärangehörige und die Reservierung von zehn Parlamentssitzen zur Repräsentation der Auslandslibanesen. Die bedeutendste und zugleich umstrittenste Neuregelung ist jedoch die erstmalige Anwendung des Verhältniswahlrechts.
Um nachvollziehen zu können, warum das von der Regierung vorgeschlagene Verhältniswahlrecht ein so hohes Konfliktpotential birgt, müssen die Besonderheiten des libanesischen Wahlsystems betrachtet werden. Bisher wurde im Libanon ausschließlich das Mehrheitsprinzip angewandt. Demnach gewinnt der Kandidat ein Mandat, der unter allen Konkurrenten die meisten Stimmen erhält – unabhängig vom prozentualen Stimmenanteil. Das Mehrheitsprinzip ist nicht prinzipiell undemokratisch, es wird beispielsweise auch in Großbritannien oder den USA angewandt. Charakteristisch für das Mehrheitsprinzip ist, dass es wenig repräsentativ ist und nur den großen »Volksparteien« realistische Gewinnaussichten bietet. Würde etwa in Deutschland nur die Erststimme angewandt, mit der Direktmandate vergeben werden, gäbe es auch hier ein Zweiparteiensystem – die Zweit- beziehungsweise Parteienstimme basiert derweil auf dem Verhältnisprinzip.
Eine weitere Besonderheit im Libanon ist, dass pro Wahlkreis mehrere Kandidaten gewählt werden, weshalb sich ein Listensystem etabliert hat. Die einflussreichen Parteien erstellen dabei eine Kandidatenliste mit Parteianhängern, Unterstützern und lokalen Persönlichkeiten. Bei der Auswahl der Kandidaten einer Wahlliste werden klientelistische Abhängigkeitsverhältnisse kultiviert. Dabei wird politische Loyalität zu politischen Führern mit dem Zugang zu staatlichen Ressourcen »erkauft«. Der Wahlausgang steht dann in den meisten Wahlkreisen praktisch schon vor der Wahl fest.
Der politische Konfessionalismus garantiert trotz des Mehrheitsprinzips eine ausgeprägte Parteienpluralität im Libanon. In jedem Wahlkreis steht den jeweils vorherrschenden Religionsgruppen eine festgesetzte Anzahl von Mandaten zu. So wird gewährleistet, dass muslimische und christliche Gemeinschaften im Parlament stets paritätisch repräsentiert sind. Auch die Verteilung der 17 muslimischen und christlichen Konfessionen folgt einem bestimmten Proporz.
Hariri, Jumblatt und Geagea lehnen den Gesetzesvorstoß ab
An einer grundlegenden Reform des Wahlgesetzes wird schon seit der libanesischen »Zedernrevolution« gearbeitet, aus der das Parteienbündnis des 14. März hervorging. Nachdem Syrien 2005 die militärische Präsenz im Libanon beendet hatte und eine anti-syrische Regierung unter Fouad Siniora an die Regierung gekommen war, wurde eine mit Politikern, Wissenschaftlern und Juristen besetzte Kommission zur Reform des libanesischen Wahlrechts gegründet: die nach ihrem Vorsitzenden benannte Boutros-Kommission.
Im Mai 2006 veröffentlichte die Boutros-Kommission ihre Ergebnisse. Vorgeschlagen wurde ein duales System, das ähnlich wie in Deutschland Mehrheits- und Verhältniswahl kombiniert. Das für die Wahlreform zuständige Innenministerium wurde damals von Ziyad Baroud geführt, der als leidenschaftlicher Reformer gilt. Durchsetzen konnte Baroud die Wahlrechtsreform jedoch nicht. Mit seinem Rücktritt 2011 rückte die Umsetzung des Boutros-Plans in noch weitere Ferne.
Im vergangenen Jahr organisierte das pro-syrische Lager des 8. März dann eine neue parlamentarische Mehrheit gegen den damaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri. Hariris Einheitsregierung wurde daraufhin von einer Mehrheitsregierung des Lagers des 8. März unter Ministerpräsident Najib Mikati abgelöst. Neuer Innenminister wurde Marwan Charbel von der Freien Patriotischen Bewegung (FPM). Das am vergangenen Dienstag vorgestellte Wahlgesetz wurde von Charbel ausgearbeitet und spaltet nun die libanesische Politik. Zu den einflussreichsten Anhängern des Charbel-Plans gehören Staatspräsident Michel Suleiman, Ministerpräsident Najib Mikati, Parlamentspräsident Nabih Berri sowie die Regierungsparteien Hizbullah, FPM und Amal.
Saad Hariri ließ umgehend erklären, dass das vorgeschlagene Wahlgesetz inakzeptabel sei, sich gegen die Hälfte des libanesischen Volkes richte und nur den Interessen der Hizbullah diene. Samir Geagea von den oppositionellen Lebanese Forces bezeichnet das vorgeschlagene Verhältniswahlrecht als unfair, es stärke die Parteien des Lagers des 8. März. Geagea fordert seit jeher möglichst kleine Wahlkreise, um eine gerechte Repräsentation zu gewährleisten. Der Charbel-Plan sieht derweil nur 13 Wahlkreise vor – fast halb so viele wie das aktuelle Wahlrecht. Ablehnung kommt aber nicht nur von Seiten der Opposition. Auch die zur Regierungskoalition gehörende Progressive Sozialistische Partei (PSP) des Drusenführers Walid Jumblatt stellt sich kategorisch gegen eine Verhältniswahl.
Offenere Wahlausgänge und neue Bündnisse
Doch welche Auswirkungen hätte die Einführung der Verhältniswahl auf das politische System tatsächlich, und wie erklärt sich der große Protest? Warum sehen sich manche als Gewinner, anderer als Verlierer einer solchen Wahlrechtsreform?
Generell ist das Verhältniswahlrecht demokratischer, weil es Minderheiteninteressen stärker berücksichtigt. Kleinere, alternative Parteien hätten bei der Verhältniswahl eine realistische Chance, Kandidaten unabhängig von den dominierenden Kräften ins Parlament zu bekommen. Auch parteiunabhängige Kandidaten, wie lokale Würdenträger, hätten eine viel höhere Chance ins Parlament einzuziehen, ohne sich einem einflussreichen Parteiführer anbiedern zu müssen. Allein diese Aussicht kann alteingesessenen Klientelparteien nicht gefallen.
Zum zweiten würden Wahlergebnisse in vielen Wahlkreisen weniger berechenbar. Bislang stehen die Ergebnisse in den meisten Wahlkreisen schon vor dem Wahlgang fest, so dass sich der Wahlkampf auf die wenigen wirklich umkämpften Wahlkreise fokussiert. Um den entscheidenden Prozentpunkt vor der Konkurrenz zu liegen, werden zur Abstimmung sogar Tausende Auslandslibanesen auf Parteikosten in den Libanon geflogen (und mit vorgedruckten Wahlscheinen versorgt).
Bei einer Verhältniswahl wären alle Wahlkreise umkämpft, der Wahlausgang offener. Außerdem könnten Parteiführer in ihren Hochburgen nicht mehr allen Kandidaten ihrer Wahlliste ein Mandat garantieren. Es würde zwangsläufig zu einem Wettstreit um die ersten Listenplätze kommen, was parteiinternen Zwist auslösen könnte.
Das Verhältniswahlrecht würde letztlich den undemokratischen Klientelismus der dominierenden Parteien zwar nicht abschaffen, aber doch empfindlich beschneiden. Das scheinen PSP und das Lager des 14. März mehr zu fürchten, als Hizbullah, Amal und FPM.
Beispiel Schuf-Gebirge: Bisher gewinnt in diesem drusisch-dominierten Gebiet die von Walid Jumblatt aufgestellte Wahlliste praktisch immer die einfache Mehrheit. Das Schuf-Gebirge kann Jumblatt daher seit jeher wie ein Alleinherrscher kontrollieren. Würde aber die Verhältniswahl angewandt, könnte Jumblatt sein Stammland wohl nicht mehr allein vertreten, sondern müsste den einen oder anderen Abgeordneten aus dem Schuf-Gebirge anderen Kräften überlassen. Langfristig könnten sich so alternative politische Kräfte etablieren und ein Gegengewicht zu Jumblatts PSP bilden.
Ein großer Schritt hin zu einem demokratischeren Wahlsystem
Andererseits ergeben sich für alle Parteien, einschließlich der PSP, neue Möglichkeiten, auch außerhalb ihrer Hochburgen Mandate zu gewinnen. Während beispielsweise in Tripoli und Saida Vertreter des 14. März Mandate abgeben müssten, könnte das Parteienbündnis im Bekaa-Tal und im Südlibanon der dort dominierenden Hizbullah Mandate streitig machen. Jumblatt, Geagea und Hariri scheint aber die Beibehaltung der alleinigen Kontrolle über ihre Hoheitsgebiete wichtiger zu sein, als die Aussicht, aus anderen Regionen ein paar Abgeordnete hinzugewinnen zu können. Wenn Jumblatt und Hariri nun erklären, vom Verhältniswahlrecht würden nur die Parteien des 8. März profitieren, ist das indirekt das Eingeständnis, dass ihnen das weniger repräsentative und damit weniger demokratische Mehrheitsprinzip bislang einen Vorteil verschafft hat.
Da ein Einlenken Jumblatts nicht zu erwarten ist und das Regierungslager ohne ihn über keine parlamentarische Mehrheit verfügt, wird das eingereichte Wahlgesetz in seiner jetzigen Form aller Voraussicht nach nicht ratifiziert werden können. Der Wahltermin ist für Juni 2013 anberaumt. Sollte es der Regierung nicht gelingen, ein Wahlgesetz rechtzeitig durchs Parlament zu bringen, müssten die Wahlen auf unbestimmte Zeit verschoben werden – womit sich eine erneute libanesische Staatskrise abzeichnet.
Das vorgeschlagene Wahlgesetz wäre ein großer Schritt hin zu einem demokratischeren Wahlsystem. Alle Demokratiedefizite wären damit aber noch nicht abgebaut. Besonders wichtig wäre es – wie von der Boutros-Kommission vorgeschlagen – auch das relativ hohe Mindestwahlalter von 21 auf 18 Jahre zu senken und eine vom Innenministerium unabhängige Wahlkommission einzusetzen. Auch scheint die Frauenquote mit 10 Prozent sehr niedrig angesetzt zu sein, die Boutros-Kommission schlug eine Quote von 30 Prozent vor. Schließlich sollte endlich ein einheitlicher Wahlschein durchgesetzt und Vordrucke verboten werden. Damit ließe sich verhindern, dass, wie bislang üblich, das Stimmverhalten einzelner Wähler zurückverfolgt werden kann – eine Praxis, die Stimmenkauf für Parteien erst attraktiv macht.