Nach fast sechs Jahren Krieg ist Syrien entlang zahlreicher Fronten geteilt und übersäht von Checkpoints. Den Überblick zu behalten ist schwierig, da die Fronten sich nicht nur verschieben, sondern von wechselnden Akteuren auf dem Boden bestimmt werden. Doch vier Schauplätze machen aktuelle Dynamiken und Zusammenhänge anschaulich.
Aleppo
Der Ostteil Aleppos befand sich seit Mitte 2012 in der Hand bewaffneter Oppositioneller und war aus zweierlei Gründen dem Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assads ein Dorn im Auge. Zum einen ist Aleppo von enormer strategischer Relevanz. Die vor Kriegsbeginn über zwei Millionen Einwohner zählende Stadt ist nicht nur ein wirtschaftliches Zentrum samt zugehöriger Versorgungslinien und Infrastruktur. Aleppo liegt nahe der türkischen Grenze sowie direkt zwischen dem von Oppositionellen gehaltenen Norden und Nordosten der Provinz und dem benachbarten Idlib, seit Frühjahr 2015 eine Hochburg von Assads Widersachern. Zum anderen unterstrich die Opposition mit ihrer teilweisen Kontrolle über die Metropole den politischen Anspruch, mehr zu sein, als ein von ländlichen Gebieten ausgehender Aufstand.
Seit Mitte Dezember 2016 befindet sich die komplette Stadt wieder unter Kontrolle des Regimes. Die verbliebenen Rebellen haben sich teilweise ergeben, während dem größten Teil im Rahmen eines Abkommens freies Geleit aus der Stadt gewährt wurde. Präsident Assad hat sich diesen Sieg einiges kosten lassen. Aleppos Ostteil, der bereits vor Kriegsbeginn Zentrum sozioökonomischer Spannungen war, ist nahezu komplett zerstört. Zehntausende Zivilisten sind den jahrelangen Bombardements zum Opfer gefallen und das grenzenlose Leid der ansässigen Bevölkerung ist bereits jetzt zu einem Symbol geworden, von dem die Propagandamaschinen, auch die der extremistischen Opposition, lange zehren werden. Die Offensive auf Aleppo wäre ohne die auf Seiten des Regimes kämpfenden schiitischen Milizen und Kommandeure aus dem Libanon, Iran, Irak und Afghanistan nicht möglich gewesen. Aufnahmen, die einen Besuch des Kommandeurs der iranischen Revolutionsgarden, Qassem Suleimani, in Aleppo zeigen, lassen wenig Zweifel daran, dass Assad seinen Krieg längst nicht mehr selbst führt. Dafür ist er seinem vorläufigen Ziel ein Stück näher gekommen: Die Kontrolle über die großen Städte zu erlangen, ganz gleich zu welchem Preis.
Idlib
Die ländliche, konservative Provinz im Westen Aleppos ist die Hochburg der islamistischen Opposition. Unter dem Vorwand einer Kampagne gegen Korruption zerschlug Syriens Al-Qaida-Ableger Jabhat al-Nusra (JAN), der sich mittlerweile in Jabhat Fatah al-Sham umbenannt hat, im Herbst 2014 die dort ansässige, von Jamal Maaroufs Syrian Revolutionary Front dominierte nationalistische Opposition. Nachdem die Türkei und Katar ihre Unterstützung harmonisiert hatten, eroberte die von JAN angeführte Koalition Jaish al-Fatah wenige Monate später die gesamte Provinz samt Hauptstadt. Idlib steht unter kontinuierlichem Beschuss durch die russische und syrische Luftwaffe, ist gleichzeitig jedoch so etwas wie ein vom Regime bewusst zugelassenes Auffangbecken für Oppositionelle geworden: Verschiedene Deals, die den Abzug von Rebellen aus Städten beinhalteten, sahen Idlib bereits als Rückzugslokalität vor.
Dem liegt die Strategie des Regimes zugrunde, Rebellen jeglicher Ausrichtung möglichst dicht zu konzentrieren und sie in Einflussgebiete der Islamisten zu bringen. Das Narrativ des Regimes eines ausschließlich von Islamisten getragenen Aufstands wird auf diese Weise genährt und dient der Rechtfertigung einer brutalen Militärkampagne. Nach dem Fall Aleppos werden sich die Luftangriffe auf Idlib vermutlich weiter verstärken. Das nächste Ziel territorialer Eroberung jedoch dürfte das Umland der Hauptstadt Damaskus sein.
Ost-Ghuta
Ost-Ghuta, ein an die Hauptstadt Damaskus grenzendes Gebiet mit hunderttausenden Einwohnern, ist wahrscheinlich das nächste Ziel des syrischen Regimes. Zahlreiche Städte und Dörfer werden dort von Rebellen gehalten und gleichzeitig in verschiedener Intensität von Regimetruppen belagert. Die Enklave hat ein eigentümliches, verworrenes Netz aus Kriegsökonomie hervorgebracht. Die Kontrolle über Unmengen von Tunneln dient Schmugglern auf allen Seiten als lukrative Einnahmequelle und lässt oft die Grenzen zwischen Soldaten, Kommandeuren, Kriminellen und Rebellen verwischen.
Ost-Ghuta wurde lange Zeit von einer einzigen Fraktion dominiert: Jaish al-Islam (JAI). Die salafistisch ausgerichtete Gruppe unter ihrem charismatischen Führer Zahran Alloush etablierte ab Mitte des Jahres 2013 eine gewisse Ordnung. Alloush organisierte die Produktion eigener Waffen, regelte Nahrungsmittelausgaben und die angelehnten Sharia-Gerichte sorgten für ein Mindestmaß an Rechtssicherheit. Alloushs hartes Vorgehen gegen Konkurrenten war berüchtigt, Ende 2015 wurde er jedoch durch einen Luftangriff getötet. Das folgende Machtvakuum führte zu einem erneuten Aufflammen der Konflikte zwischen den ansässigen Rebellengruppen und ermöglichte im Frühjahr 2016 den Regierungstruppen erhebliche Geländegewinne.
Um die eigenen Truppen zu schonen, versucht das Regime, die bewaffnete Opposition Ost-Ghutas im Rahmen von Deals zur Aufgabe zu zwingen: Diese Deals beinhalten in der Regel die Option, samt leichter Waffen abzuziehen oder aber belagert und bombardiert zu werden. Mit seiner „Ergebt euch oder verhungert“-Strategie konnte das syrische Regime — für den Preis entsetzlichen menschlichen Leidens — bereits einige Städte zurückerobern. Es ist davon auszugehen, dass es die Gunst der Stunde nutzten wird, um die Rebellenpräsenz wenige Kilometer entfernt von der Hauptstadt weiter zu dezimieren und mit Jaish al-Islam, einer Bewegung mit politischem Anspruch, eine weitere potenzielle Alternative zu den Jihadisten im Land zu marginalisieren.
Südfront
Noch im Frühjahr 2015 schienen die Rebellen der „Southern Front“ sich stetig in Richtung Damaskus vorzukämpfen. Das Bündnis von schätzungsweise bis zu 30.000 Rebellen stieß in die Provinzen Quneitra und Daraa vor bis sie Suweida, das Kernland der Drusen, erreichten. Dort stoppte die Offensive abrupt. Die Gründe dafür lassen sich nicht mit Sicherheit feststellen. Offenbar hatte jedoch das in Jordanien ansässige Military Operations Center (MOC) unter Führung der USA seine Unterstützung eingefroren, weil es einen Marsch auf Damaskus fürchtete, der zu einem unkontrollierbaren Machtvakuum in der Hauptstadt hätte führen können.
Seither ist es im Süden verhältnismäßig ruhig. Die Südfront ist abhängig von finanzieller Unterstützung und Waffenlieferungen des MOC, welche jedoch unstetig und an Konditionen gebunden sind. Ganz im Sinne der USA, die ihren Fokus auf die Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staates (IS) richten, beschränken sich die Rebellen deshalb vor allem auf Operationen gegen IS-nahe Gruppen in der Region. Auch Jordanien profitiert vom Status quo: Der Stillstand hat eine Art Pufferzone im Süden Syriens erschaffen, welche weitere große Flüchtlingsbewegungen in das haschemitische Königreich reduziert.
Währenddessen erscheint das einst beschworene Potenzial der Südfront erloschen: Das nationalistisch ausgerichtete, ideologisch säkular-demokratisch verortete Bündnis hat sich durch seine eigene Inaktivität marginalisiert — oder, je nach Sichtweise, vom Ausland marginalisieren lassen. Nachdem die Südfront untätig blieb, als das Regime nach einer verheerenden Belagerung der nahe Damaskus gelegenen Stadt Daraya den letzten Schlag versetzte, mehrte sich die Kritik innerhalb der bewaffneten Opposition: Die Südfront habe durch ihre Untätigkeit die Revolution verraten und Daraya dem Regime überlassen, obwohl sich tausende von Rebellen lediglich wenige Kilometer entfernt befanden. So sind Mitte 2016 mehrere hundert frustrierte Rebellen zu den Jihadisten von Jabhat Fatah al-Sham übergelaufen, die mit regelmäßigem Sold und der Möglichkeit zum Kampf gegen das verhasste Regime werben.