Von Judith Althaus und Henrik Meyer
Am Mittwoch feierte Israel mit dem „Jerusalem Day“ den 43. Jahrestag der Wiedervereinigung Jerusalems, der Eroberung Ostjerusalems und seiner Altstadt im 6-Tage-Krieg. Seinem Publikum auf dem Ammunition Hill, der 1967 Kriegsschauplatz der Auseinandersetzungen zwischen der israelischen und der jordanischen Armee war, versprach der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu in einem Gedenkgottesdienst für die gefallenen israelischen Soldaten, dass Jerusalem „niemals wieder eine geteilte, düstere und halbierte Stadt“ sein werde. Den Hoffnungen der Palästinenser, die in Ostjerusalem die Hauptstadt ihres zukünftigen Staates sehen, erteilt der Premier damit die gewohnte Absage. Seine Botschaft mit sich tragend zogen Gruppen von Siedlern den ganzen Tag über singend und Fahnen schwenkend durch Ostjerusalem.
Doch nicht alle Israelis teilen die Meinung ihres Premiers. Viele hoffen auf einen Siedlungsstopp in den besetzten Ostjerusalemer Stadtvierteln und einen Teilrückzug zu Gunsten einer getrennten Verwaltung unter Beibehaltung der physischen Einheit der Stadt. Einige von ihnen kommen jeden Freitag in den Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah, um dort gegen die Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu zu demonstrieren.
Seit Jahren ist kein anderer Stadtteil so prominent in den internationalen Medien vertreten wie das Ostjerusalemer Diplomatenviertel. Zwischen palästinensischen Wohnhäusern, europäischen Botschaften und dem Büro des Beauftragten des Nahost-Quartetts, Tony Blair, spielt sich in aller Öffentlichkeit ein politisches und menschliches Drama ab. Israelische Siedlerorganisationen haben den obersten Gerichtshof des Landes auf Grundlage wackeliger Belege davon überzeugt, dass das Land rund um das Grab des jüdischen Heiligen Shimon Ha-Tzadik seit Jahrhunderten ihnen gehört – und nicht den spätestens seit der israelischen Staatsgründung dort lebenden Palästinensern. Diese werden nun nach und nach aus ihren Häusern vertrieben, in die postwendend und unter dem Schutz israelischer Sicherheitskräfte jüdische Siedler einziehen.
Die evidente Unlogik – schließlich besitzen hunderttausende Palästinenser seit Jahrhunderten Land im heutigen Israel, das ihnen freilich nicht zurückgegeben wird – hat Sheikh Jarrah in den letzten Monaten zum Schauplatz und Ausdruck des Widerstandes der israelischen Linken gegen die Politik ihrer Regierung gemacht. Seit einer ersten Protestkundgebung im Oktober 2009 ist die Zahl der Demonstranten von einer Handvoll auf 3000 Teilnehmer im März angewachsen.
„There’s a New Left in Town“, begeistert sich Organisatorin Sarah Beninga - eine neue Linke, die sich gegen das Unrecht in Sheikh Jarrah als Symbol der Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu wendet. Freitagnachmittags kommt sie gemeinsam mit Bussen aus dem ganzen Land angereist, um mit Sprechgesängen und Trommeln ihrem Unmut kund zu tun. Viele der Aktivisten kennen einander seit Jahren, und so gleicht die Atmosphäre bei den Demonstrationen ein wenig einem Straßenfest. Lautstarke Jungen aus der Nachbarschaft – die nahezu einzigen Palästinenser, die man auf der Demonstration findet - verkaufen frisch gepressten Orangensaft, die Organisatoren verteilen Flugblätter und T-Shirts mit der Aufschrift „Die Besatzung ist Unrecht“.
„Die neue Linke“, erklärt Sarah Beninga weiter, „träumt nicht davon, Marktplätze zu füllen und schwelgt nicht in den Erinnerungen an Demonstrationen mit 400.000 Teilnehmern“. Damit wäre sie auch schlecht beraten, denn auch wenn hier mehr Menschen demonstrieren als in den vom israelischen Mauerbau betroffenen Dörfern Bil’in und Ni’lin in der Westbank, so sprechen die Teilnehmerzahlen doch für alles andere als eine Massenbewegung, die große Teile der israelischen Bevölkerung erfasst.
Und doch lösen die Geschehnisse in Sheikh Jarrah in der israelischen Bevölkerung – und vor allem in der politischen Führungselite – zunehmend Unruhe aus. Während bei den gewaltlosen palästinensischen Demonstrationen in der Westbank allwöchentlich ein paar versprengte israelische Friedensaktivisten zu sehen sind, besitzt Sheikh Jarrah ob seiner bloßen Symbolik ein ungleich höheres Mobilisierungspotenzial. Hier geht es um mehr: Mitten in der vermeintlich unteilbaren eigenen Hauptstadt werden Präzedenzfälle geschaffen, die nicht nur Palästinenser obdachlos machen, sondern in ihren rechtlichen Konsequenzen den Fortbestand des jüdischen Staates gefährden.
Und so zeigt sich hier denn ein Bild, das seit den Zeiten der mit dem Tode Yitzhak Rabins gestorbenen israelischen Friedensbewegung nicht mehr zu sehen war: Israelis stellen sich gegen die eigenen Autoritäten, wehren sich gegen die rechtsradikalen Siedler, wollen sich nicht die friedliche Zukunft durch Ideologen zerstören lassen. Ihre beharrliche wöchentliche Präsenz in Sheikh Jarrah, die Beschimpfungen durch Siedler und Festnahmen durch israelische Sicherheitskräften trotzt, ist ein Zeichen für die Regierung Netanjahu. Denn in Sheikh Jarrah wird – mal wieder – darum gekämpft, was der Staat Israel sein und symbolisieren soll. Es ist ein Tauziehen zwischen rechten Ideologen und Militärstrategen und jenen, die in einem demokratischen (jüdischen) Staat leben wollen, der auf den Prinzipien der Gerechtigkeit und Toleranz fußt. Immerhin: Dass Israels Linke Netanjahu und seinesgleichen das Feld nicht kampflos überlassen will, gibt Anlass zur Hoffnung.