Das Thema Wahlen beherrschte diese Woche die Schlagzeilen in aller Welt, auch die libanesischen Medien berichteten ausführlich über die historische Wahl Barack Obamas. Doch es sind nicht die einzigen Wahlen, die der Libanon mit Spannung erwartete. Denn nur drei Tage später gingen hier die Studenten an die Urnen. Das mag zunächst befremdlich wirken, doch es zeigt welche Bedeutung den Studentenwahlen im Libanon beigemessen wird. Sie gelten als wichtiger Gradmesser für die "richtigen" Wahlen, in diesem Fall die Parlamentswahlen, die für das nächste Frühjahr angesetzt sind. Der Grund dafür liegt in der studentischen Parteienlandschaft, die im wesentlichen eine Verlängerung der politischen Kräfte auf nationaler Ebene darstellt. Dementsprechend viel investieren die Parteien beider politischer Lager in den Wahlkampf, der mitunter schon ein halbes Jahr vorher beginnt und seinen Höhepunkt am Wahltag findet.
Den Anfang der studentischen Wahlkampfsaison macht die traditionsreiche frankophone Université St.-Joseph, auf deren vier Beiruter Campi an diesem 7. November abgestimmt wird. Ich begebe mich bereits am frühen Morgen zum umkämpftesten Campus nahe des Ausgehviertels Monot, der die stark politisierten Fakultäten für Jura und Wirtschaft umfasst. Bereits um 8 Uhr morgens ist der Campus brechend voll, fast alle hier eingeschriebenen Studenten, so scheint es, wollen den Wahltag in seiner Gänze erleben. Es herrscht hektische Betriebsamkeit, überorts werden noch unentschlossene (oder uninteressierte) Wähler von eifrigen Aktivisten bearbeitet, Flyer verteilt, oder Interviews in die Kameras des größten libanesischen Fernsehsenders LBC gegeben.
Die beiden politischen Lager March 14 und March 8 haben selbiges relativ weit voneinander bezogen. Die Anhänger der Regierung vor der juristischen, die der Opposition vor der Wirtschaftsfakultät. Da der Großteil der Studenten Christen sind, stehen sich hier auch vorwiegend die Anhänger Michel Aouns von FPM und die Lebanese Forces Samir Geageas als Kontrahenten gegenüber. Auf den ersten Blick ist jedoch keines der beiden Lager eindeutig identfizierbar - die Universitätsleitung hat alle politischen Symbole vom Campus verbannt, wenn sie es auch kaum vermag, die Politik auszusperren. Die studentischen Aktivisten schaffen es jedoch, dieses Verbot geschickt zu umgehen und sich mit griffigen, aber unverfänglichen Slogans zu schmücken: So liest man bespielsweise auf den T-Shirts und Buttons der Aoun-Anhänger in weißer Schrift auf blauem Grund "Perfection et Changement" - eine kaum zu verkennende Anspielung auf Barack Obamas zugkräftiges Wahlmotto. Die Lebanese Forces wiederum recyclen den Klassiker Che Guevaras "Hasta la Victoria Siempre" - auch wenn ihr Urheber nicht weiter von ihrer Ideologie entfernt sein könnte.
Bis zum späten Nachmittag stimmen die Studenten ab, in der Zwischenzeit unterhalte ich mich mit zahlreichen Aktivisten beider Lager, unter anderem den beiden Kandidaten für die studentische Führung der juristischen Fakultät. Bashir und Marc verstehen sich normalerweise recht gut, bei meinem letzten Besuch auf dem Campus zwei Wochen zuvor scherzen sie noch locker miteinander. Heute würdigen sie sich keines Blickes, sind voll auf den eigenen Wahlerfolg fixiert. Marc, der Kandidat der FPM, versucht mir den besonderen Charakter seiner Partei näher zu bringen: "FPM ist keine durchstruktierte Partei im traditionellen Sinne, es ist vielmehr eine Massenbewegung. Alle unsere Aktivisten engagieren sich freiwillig, ohne dafür etwas von der Partei zu erhalten." Sein Kontrahent Bashir erzählt mir relativ offen, eine Parteikarriere innerhalb der Lebanese Forces anzustreben:"Die LF sind die einzige Partei, die voll auf die Jugend setzt und in der auch wir jungen Menschen Einfluss ausüben können."
Gegen 17 Uhr beginnt die Verkündung der Ergebnisse, die sich allerdings beträchtlich in die Länge zieht, schließlich geht es neben der Präsidentschaft der Fakultäten auch um die Besetzung der Studentenverwaltung, wofür jeder zu vergebene Platz ebenfalls zur Wahl steht. Beide Lager haben Vebindungsleute bei den Auszählungen, so dass immer wieder Gerüchte über den Auszählungsstand durchsickern. Plötzlich brandet Jubel auf, Bashir lässt sich von seinen Anhängern auf den Schultern tragen und skandiert mit ihnen "Wir haben die Präsidentschaft gewonnen!". Doch zu früh gefreut. Das tatsächliche Endergebnis sickert durch: Marcs FPM hat mit einer Stimme Vorsprung gewonnen. Während Bashir bleich zusammensinkt, wird Marc von seinen FPM-Aktivisten umringt und eilt mit ihnen zur juristischen Fakultät. Seine Anhänger formen mit Daumen und Zeigefinger das Erkennungszeichen der Aounis, das Omega, und holen die bislang versteckt gehaltenen orangenen Parteifahnen heraus. Bevor sie wieder zu ihrer Basis zurückeilen, stimmen sie noch politische Solagans an. So skandieren sie etwa rythmisch "General", oder "Aoun ca va", sogar der Slogan der Hizbullah-Anhänger "Allah, Nasrallah wa Dahiye kullha (=Gott,Nasrallah und ganz Dahyie) ist zu hören, das ganze vor den Augen der Lebanese Forces, die sich sichtbar provoziert fühlen. "Das ist das Schlimmste an der FPM. Dass sie sich mit diesen Hizbullah-Leuten eingelassen haben und wir hier in Achrafiyeh diese fremden Slogans ertragen müssen."
Zwei Stunden später jedoch schlägt die Stunde der Lebanese Forces. Sie gewinnen die Präsidentschaft an der Wirtschaftsfakultät und ziehen prompt im Siegsmarsch dorthin, zum Lager Aoun-Anhänger, ebenso wie es ihre Kontrahenten zuvor taten. Ein kleiner Funke könnte genügen, um die Lage eskalieren zu lassen. Zwar darf die schwerbewaffnete Armeestaffel vor den Toren des Campus diesen nicht betreten, doch steht daneben schon ein Feuerwehrwagen bereit - bei schweren Zusammenstößen vor zwei Jahren hatte man die Studenten kurzerhand mit dem Wasserstrahl im Zaum zu halten versucht. Diesesmal bleibt es gewaltfrei, die Geagea-Anhänger marschieren wieder in ihr Lager zurück und feiern ihren Sieg ausgiebig. Sie formen ihre Hände zum Delta, ihrem Erkennungszeichen und ebenso wie ihre Kontrahenten zeigen sie nun auch offen ihre Parteisymbole, ohne das die Verwaltung wirklich einschreiten könnte. Neben den obligatorischen "Hakim" (der Weise)-Rufen lebt in ihren Parolen deutlich der Geist der Vergangenheit weiter: "Bashir hay fina"(=Bashir ist bei uns lebendig) hört man nun - eine Reminiszenz an den 1982 ermordeten Gründer der Lebanese Forces Bashir Gemayel. Und ebenso skandieren sie die Slogans ihrer politischen Verbündeten, so etwa "Allah, Hariri, Tarik Jdeide" - was wiederum eine direkte Erwiederung auf den zuvor erwähnten Hizbullah-Slogan ist. Marc erklärt mir sichtbar wütend: "March 14 hat Unmengen für den Wahlkampf ausgegeben, ca. 30.000$. Es ist klar, dass das Geld von Hariri kommt, der sich seinen Einfluss in der Wirtschaftsfakultät sichern will."
Kurz nachdem die letzten Ergebnisse verkündet wurden, verlasse ich den Campus und frage den immer noch niedergeschlagenen Bashir nach seinem Fazit: "Ich habe sechs Monate für diesen Tag gearbeitet. Ich bin sehr enttäuscht.", fasst er den Rückschlag für seine politischen Ambitionen zusammen.
Insgesamt offenbarte der Wahlverlauf die ungebrochene Politisierung der Studentenpolitik, zudem auch die starke Polarisierung der Parteienlandschaft, ungeachtet jeglicher Annäherungs- und Kooperationsversuche der Politiker auf nationaler Ebene. Es ist besonders die Emotionalität, die aus politischen persönliche Gegensätze macht und den eigentlichen Zündstoff darstellt. Keine Frage, bei der nächste Runde politischer Mobilisation werden die Studenten wieder an vorderster Front stehen. Marc und Bashir mögen in ein bis zwei Wochen wieder locker herumalbern, genauso schnell aber können sie sich als bloße Feinde betrachten und ihre Anhänger gegeneinander aufhetzen. Spätestens bei den nächsten Wahlen.