Die im Westjordanland nach 1967 errichteten israelischen Siedlungen gelten völkerrechtlich als illegal und stellen ein zentrales Hindernis für die Lösung des Nahostkonfliktes dar. Während der Status der Siedlungen von den Oslo-Verhandlungen prominent ausgespart wurde, sind sie in den vergangenen 20 Jahren stetig gewachsen. Durch die Siedlungen soll der jüdisch-israelische Anspruch auf das ganze Land zwischen Mittelmeer und Jordan gefestigt werden, wie der Siedler-Aktivist Elyakim Haetzni im Interview bekräftigt.
Haetzni, 1926 in Kiel geborener Rechtsanwalt, unterstützt seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die jüdische „Wiederbesiedlung“ in „Judäa und Samaria“ – so bezeichnet die religiös-nationale Siedlerbewegung mit biblischen und historischen Bezügen die völkerrechtlich illegale Besiedlung des Westjordanlands. Haetzni selbst ist nicht religiös, sondern säkular-nationalistisch motiviert. Er zog als einer der Ersten nach Kiryat Arba, eine an Hebron angrenzende Siedlung.
Hebron gilt nach Jerusalem als zweitheiligste Stadt des Judentums. Heute leben dort etwa 8.000 Bewohner, einschließlich der bis zu 800 jüdischen Siedler in Hebrons Altstadt, die als besonders militant und ideologisch gelten. Juden hatten über Jahrhunderte in Hebron gelebt, doch im Anschluss an das Massaker von 1929, als 67 Juden durch Araber umgebracht wurden, flohen die Überlebenden bzw. wurden vertrieben. Seit 1967 beanspruchen jüdischen Siedler dagegen wieder das Recht, inmitten einer der größten palästinensischen Städte zu leben, da in Hebrons Machpela Höhle die Grabstätten der biblischen Patriarchen und Matriarchinnen liegen.
Die israelische Besatzung ist in Hebron besonders eklatant. Eigentlich sollte Hebron entsprechend der Oslo-Abkommen vollständig unter die Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde fallen. Die jüdischen Siedler jedoch weigerten sich abzuziehen. Am 25. Februar 1994, ein halbes Jahr nach Abschluss von Olso I, erschoss zudem der extremistische Siedler Baruch Goldstein, der wie Haetzni in Kiryat Arba wohnte, 29 Muslime in der Abrahams-Moschee. In Folge dessen wurde die israelische Militaerpräsenz in Hebron „zum Schutze“ der Siedler erhöht, wie es offiziell heißt. Mittlerweile ist die Stadt seit dem Hebron-Abkommen von 1997 daher in zwei Sektoren geteilt: H1, in dem rund 200,000 Palästinenser unter palästinensischer Kontrolle leben, und H2, in dem die israelischen Siedler umgeben von 30,000 Palästinensern leben, die allesamt israelischer Kontrolle unterstehen. Das israelische Militär hat zentrale Teile Hebrons – Straßen, Hauseingänge und Marktstraßen – abgeriegelt. So können sich in der Innenstadt der größten palästinensischen Stadt des Westjordanlands jüdische Siedler frei und Palästinenser nur unter israelischer Kontrolle bewegen.
Haetzni ist ein prominenter Vertreter der Siedlerbewegung, der bis heute viel Gehör in Israel findet. Die im Camp David-Friedensvertrag mit Ägypten vereinbarte Rückgabe des Sinai 1979 sah er als „Verrat Begins“ an der jüdischen Bevölkerung. Im Anschluss wurde er Mitglied des Leitungskreises des YESHA-Rates („Rat der jüdischen Städte und Siedlungen in Judäa, Samaria und Gaza“), trat der rechtsgerichteten Tehyia-Partei bei, für die er zeitweilig Mitglied der Knesset war, und galt jahrelang als provokantester Siedler-Sprecher. 1994 gründete er die Organisation „Gamla soll nicht wieder fallen“ gegen die Aufgabe der durch Israel besetzten und annektierten Golan Höhen. In Israels auflagenstärkster Zeitung, Yediot Aharonot, schreibt Haetzni eine wöchentliche Kolumne.
Alsharq: Herr Haetzni, Sie haben von Anfang an den Oslo-Prozess als gefährlich beurteilt. Wurden Ihre schlimmsten Befürchtungen durch die II. Intifada von 2000 bis 2005 bestätigt?
Elyakim Haetzni: Natürlich. Als ich vor Oslo warnte, sagten mir viele Siedler, also Leute aus unserem Lager, dass ich paranoid sei. Ich habe zwei Filme als Warnung gemacht – und alles hat sich verwirklicht. Manche Leute sagen, dass ich ein Prophet sei. Aber ich bin kein Prophet. Man wollte der Wirklichkeit nicht ins Auge sehen. Dabei ist alles, was ich vorausgesagt habe, auch eingetreten – nur noch viel schlimmer.
Viele Siedler bezeichnen die II. Intifada auch als Oslo-Krieg. Was kritisieren Sie besonders?
Wie verantwortungslos und verbrecherisch israelische Regierungen diesen Tiger auf das eigene Volk loslassen konnten. Das habe ich mir nicht vorstellen können. Wir haben zum Beispiel Yassir Arafat, den schlimmsten Terroristen, aus seinem Käfig in Tunis rausgelassen und seinen Leuten 50.000 Sturmgewehre mit Munition gegeben. In anderen Worten: eine Regierung verabreicht ihren Bürgern Gift, damit sie es schlucken und sterben.
Eine gewaltige Anklage gegen die eigene Regierung.
Natürlich denke ich, dass die „Verbrecher von Oslo“ vor Gericht gestellt werden sollten. Wo in der Welt hat sich so etwas abgespielt, dass nach den „Friedenverhandlungen von Oslo“ noch Hunderte ihr Leben verloren haben? Shimon Peres (der amtierende Präsident und damalige Außenminister), Yossi Beilin (ehemaliger stellvertretender Außenminister, der die Geheimverhandlungen von Oslo von israelischer Seite leitete, Anm. d. Red.) et cetera, haben den Feind hergebracht und ihn bewaffnet. Dafür sollten sie bestraft werden.
Nehmen wir mal an, einer geht hin und öffnet nachts den Löwenkäfig im Zoo von Jerusalem und die Tiere reißen Frauen und Kinder. Wird dann nicht derjenige, der den Käfig öffnete als Schuldiger zur Verantwortung gezogen?
Auch war ich nicht der einzige auf Seiten von Israels Rechten, der warnte. Aber die Weisheit und Güte des Herzens liegt bekanntlich bei der „Linken“, während die „Rechte“ als primitiv wie der Neandertaler gilt. Uns wurde vorgeworfen, paranoid zu sein, einen Massada- oder Auschwitz-Komplex zu haben.
Der ehemalige Premierminister Yitzak Rabin war …
... verantwortlich für Oslo. Rabin wird fast wie ein Heiliger in der katholischen Kirche verehrt. Deswegen ist es schwer, objektiv über ihn zu sprechen.
Er war kein schlechter Mensch, sondern ein Patriot, kein typischer Linker, der vollkommen blind ist für Fragen der Sicherheit und physischen Existenz Israels: Rabin war kein Lufttänzer wie Peres. Aber Rabin war auch kein Genie, sondern ein mittelmäßiger Mensch, der nichts Herausragendes geschrieben hat. Er hatte keinen starken Charakter und wurde gegen sein besseres Wissen von Peres, Beilin und den Anderen dazu gebracht, Oslo zu akzeptieren. Seinem Wesen nach war er ein Skeptiker, kein Flagge schwingender Ultranationalist. Aber er war auch kein typischer Linker, deswegen wurde er gewählt und von Peres als Frontmann missbraucht. Die Linke an sich hat eigentlich keine Chance mehr, daher kann sie nur gewinnen, wenn sie Leute mit nationaler Aura an die Spitze stellt – gewissermaßen als Attrappe.
Sehen Sie eine andere Möglichkeit aus der Situation?
Was meinen Sie, wenn Israel Hebron annektieren und den Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft anbieten würde. 99% würden „Ja“ sagen, wie die Araber in Ost-Jerusalem, die auf keinen Fall zu Arafat wollten und bei der Intifada auch nicht mitmachten. Das erkennt man doch.
Entsprechend des Camp David-Abkommens zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten Barak und Palästinenser-Chef Arafat im Jahr 2000 wäre Kiryat Arba Teil eines palästinensischen Staates gewesen.
Aber dazu kam es nicht, denn Israel ist eine Demokratie und (der damalige Ministerpräsident) Barak wurde gestürzt.
Haben Sie als Anwalt eigentlich auch arabische Klienten vertreten?
Trotz allem, was geschehen ist, fühle ich keinen Hass gegen die Araber als Kollektiv, als Volk. Ich verstehe gar nicht, wie man so einen Hass aufbauen kann. Ich lebe seit 1972 in Kiryat Arba. Alles müsste gar nicht sein, was sich jetzt abspielt. Es ist nicht so, dass das ein Ausbruch von etwas ist, das zwangsläufig geschehen musste.
Was war dann der Auslöser?
Dieser Hass zwischen Juden und Arabern kam durch den „Frieden“. Der „Frieden“ hat diesen Krieg gebracht, genau wie das Münchner Abkommen 1938 den II. Weltkrieg brachte. Unser München heißt Oslo.
In meinem Haus in Kiryat Arba saßen während der ersten Intifada von 1988 bis 1993 viele Araber. Sie warnten uns: wenn wir Israelis die Gewalt nicht unterbinden würden, werde es zu einem großen Unglück zwischen uns kommen und sie fragten, warum wir der Gewalt kein Ende bereiten.
Wenn dieser Oslo-Krieg (Bezeichnung vieler Siedler für die II. Intifada, Anm. d. Red.) nicht gewesen wäre, könnten einige Tausend Araber und Israelis noch leben, unter ihnen auch viele Kinder.
Wie muss man sich die Gefahr vorstellen?
Jenseits des Zaunes meines Gartens herrscht Diktatur. Das muss man sich vorstellen können. Die ersten Opfer einer Diktatur kommen immer aus dem eigenen Volk – niemand anders. Wer litt am meisten unter dem Bolschewismus? Das russische Volk weit vor allen anderen. Was ist denn schon ein Kalter Krieg gegenüber dem Gulag?
Die ersten Opfer dieses Regimes sind die Araber selbst – erst dann die Israelis. Das sollte man auch im Kopf haben.
Was sagten Ihre ehemaligen Klienten über die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) und Arafat nach Beginn der zweiten Intifada?
Wenn ich mit diesen Leuten sprach und sagte: „Was tut Ihr, was seid Ihr für Mörder!“, dann schauten die Araber mich böse an und ich bekam zu hören: „Was wagst Du es, uns zu beschuldigen? Wer hat denn Arafat aus Tunis hergeholt? Wer hat das Unglück von Arafats Terror-Regime über uns gebracht, denn uns beherrscht er und nicht Euch. Ihr Israelis habt das gemacht! Oder haben wir Euch gebeten Arafat herzuholen? Wen sollten wir dafür anklagen, wenn nicht Euch?“
Was passierte, bevor Hebron 1997 der PA übergeben wurde?
Die Leute in Hebron kennen mich alle – und fragen bis heute nach mir. Kurz bevor Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (in seiner ersten Amtszeit als Premier 1996-1999, Anm. d. Red.) einen Großteil von Hebron an Arafat übergab, brachte mich ein Mittelsmann mit einem jungen Mann von Ende 20 aus Hebron zusammen. Wir trafen uns in Jerusalem. Er zeigte mir seinen Ausweis – Offizier in der Leibwache von Arafat.
Er sagte, dass er ein Anliegen hätte und für eine große Gruppe von Leuten sprechen würde, die in die erste Intifada involviert gewesen seien: „Wir wollen Arafats Diktatur nicht bei uns haben. Denn wir sehen, was sich in Nablus und Gaza abspielt – da wollen wir nicht dazugehören.“ Warum, fragte ich ihn. „Diese Schreckensherrschaft, Diktatur, Soldateska, dieses Regime von Bestechung und Erpressung, sogar gegen Frauen, wollen wir nicht. Wenn Arafat die Frau von irgendeinem will, bekommt er sie, sonst bezahlt der Mann das mit dem Leben oder er wandert ins Gefängnis.“ Er bat mich, für ihn ein Treffen mit dem Militärgouverneur von Hebron, einem Freund von mir, zu arrangieren.
Ich habe darauf den Militärgouverneur angerufen. Doch der hatte leider keine Zeit – weil den ganzen Tag Delegationen kamen, die das Selbe sagten. Ob er das auch nach oben berichtet, habe ich meinen Bekannten noch gefragt. Seine Antwort war: „Aber natürlich, und zwar jeden Tag.“
Transportieren die Medien ein akkurates Bild des israelisch-palästinensischen Konflikts?
Die meisten ausländischen Medien sind antisemitisch angehaucht, nennen es aber anti-israelisch. Es scheint ein richtiger Widerwille zu bestehen. Das war in den letzten 2000 Jahren so und ich fürchte, wir können das auch in 1000 Jahren nicht verändern.
Wie gehen Sie als Mensch mit der Situation um?
Wir müssen uns innerlich stärken, dass wir nicht primitiv mit dem beginnen, das am nächsten liegt: die Araber zu hassen. Die Menschen in Tel Aviv haben nichts mit Arabern zu tun, während wir hier sehr gut mit den Arabern zusammen gelebt haben. Meine Frau hat früher immer im arabischen Markt eingekauft. Unsere Bank war in Hebron, unser Schneider ein Araber, ich hatte ausgezeichnete Beziehungen mit arabischen Anwaltskollegen.
Die Kontakte zu den Arabern ...
... sind abgebrochen. Jeder Araber, der nur das kleinste Anzeichen einer Verbindung zu Israelis zeigt, wird morgen der Kollaboration angeklagt und übermorgen findet man seine Leiche. Arafats Leute haben (nach Beginn der zweiten Intifada, Anm. d. Red.) Dutzende von Unschuldigen eigenen Leuten umgebracht, die mit uns gar nichts zu tun hatten.
Würde ein Staat „Palästina“ die Situation verändern?
Diese Lösung vom Staat als Ziel der Palästinenser wurde und wird von den Europäern unterstützt. Aber wozu das führt, wenn man den Palästinensern einen Staat anbietet, hat die Bruchlandung des ehemaligen Ministerpräsidenten Ehud Barak gezeigt. In Camp David im Jahr 2000 war die Rückkehr der Flüchtlinge auf einmal wichtiger als der Staat. Sonderlich scheint sie der Staat nicht zu interessieren, nur als Mittel, um die Flüchtlinge zurückzuholen. Und die israelische Linke kann und will das nicht verstehen.
Vielen Dank für das Gespräch.