Wenn es nach Ministerpräsident Tayyip Erdoğan geht, macht die Türkei gerade bedeutende Fortschritte in ihrem Demokratisierungsprozess. Über 60 hochrangige, teils noch im Dienst befindliche Militärs wurden in dieser Woche festgenommen – beschuldigt, an der Planung eines Putsches und anderer politischer Unruhestiftungen unter dem Kennwort Balyoz (Vorschlaghammer) beteiligt gewesen zu sein. Dass Angehörige des staatstragenden Militärs kurzerhand festgenommen werden, kam in der Geschichte der Türkei bisher nicht vor und wird als politische Sensation gehandelt. Internationale Medien beschwören die Möglichkeit einer demokratischen „Tulpenrevolution“ herauf.
Während die Regierungspartei AKP und ihr wohlgesinnte Medien die Festnahmen feiern - ja, schmerzhaft sei dieser Demokratisierungsprozess, aber eben der rechte Weg in Richtung europäischer Rechtsstaatlichkeit - versetzen sie andere selbsterklärte Demokraten in Panik. Wie die seit zwei Jahren andauernden „Ergenekon“-Ermittlungen zur vermuteten Verschwörung des „tiefen Staates“ wird auch die aktuelle Verhaftungswelle als Aktion im politischen Eigeninteresse der neo-islamistischen AKP empfunden. Eine Aktion jedoch, die die Grundlagen der kemalistischen Republik gefährde. Die Verschwörung Ergenekon gebe es nicht – ihre Erfindung sei die Verschwörung, meinen viele. Halb im Scherz wird man gewarnt, am Telefon nichts Politisches zu sagen: „Die kommen und nehmen dich fest.“
Klare Feindbilder werden dankbar angenommen in der von starken Polarisierungen geprägten türkischen Innenpolitik. Aber an welches glauben? Dass Militär und tiefer Staat erhebliche Verbrechen auf dem Gewissen haben, scheint offensichtlich. Aber ist es die Verurteilung von Folter und Massakern, auf die die AKP hinaus will, und nicht vielmehr ein eigener Anteil an der Staatsgewalt? Auch die autoritäre nationalistische Indoktrinierung an Schulen sähen viele gern abgeschafft. Aber wie sieht die Demokratie aus, die die Regierung verspricht? Als Begleiterscheinungen ihres wachsenden politischen Einflusses können, neben einer waghalsigen Privatisierungspolitik, die aktive Förderung religiöser Inhalte in allen Lebensbereichen, Alkoholverbote sogar in Amüsierbezirken von Istanbul und ein Bann auf angeblich unmoralische Kunstformen verzeichnet werden.
Für alle, die sich mit keiner der beiden, jeweils auf ihre Art autoritaristischen Ansichten anfreunden möchten, bleiben wenig politische Artikulationsmöglichkeiten: die meisten Debatten strukturieren sich entsprechend der islamistisch/kemalistisch-Polarisierung. „Es gibt kein Dazwischen, keinen dritten oder vierten Weg“; sagt Rifat, ein Student aus Istanbul. „Ich mag die [kemalistische Partei] CHP nicht, aber die Islamisten mag ich noch weniger, darum wähle ich die CHP.“ Auch andere im Parlament vertretene Parteien – mit Ausnahme der kurdischen – positionieren sich entlang dieser Front. Überraschend erscheint auf den ersten Blick auch die Unterstützung von armenischer Seite für die AKP: durch die Ergenekon-Ermittlungen werden Strukturen wie die „aufgedeckt“, die den Mord am Journalisten Hrant Dink im Jahr 2008 planten (empfehlenswert zu diesem Thema ist der Film "Mordakte Hrant Dink"). Trotzdem gehört Religions- und Kulturvielfalt zwar zur Tourismuswerbung der Türkei im Ausland, nicht aber zur Agenda der AKP.
Die kemalistisch-islamistische Spaltung bündelt die Energien und lenkt von tatsächlichen Problemen ab. Berichte über gewalttätige Unruhen, Lynchversuche, Angriffe auf die Roma-Bevölkerung waren in den Nachrichten der letzten Monate zu finden. Seit Dezember befinden sich Beschäftigte des bisher staatlichen Tabakunternehmens TEKEL im (Hunger-)Streik gegen Privatisierungspläne, die die Streichung von 10.000 Arbeitsplätzen und die Umwandlung in Zeitverträge mit niedrigerem Lohn vorsehen. Dass die öffentlichkeitswirksamen Konfrontationen auf höchster Ebene zur Verbesserung solch prekärer sozialer und ökonomischer Zustände beitragen, ist unwahrscheinlich.