17.03.2006
Tariq Ramadan: "Wir bekommen die Muslime, die wir verdienen"

Tariq Ramadan, der wohl bekannteste und umstrittenste islamische Gelehrte und Intellektuelle Europas, hat gestern an der Berliner Humboldt-Universität in einem Vortrag unter dem Titel "Muslim Rennaissance through European Islam" seine Vorstellungen von der Entwicklung des Islam in Europa einerseits und in den islamischen Mehrheitsgesellschaften Afrikas und Asiens andererseits, dargelegt.

Vor etwa 250 Zuhörern stellte der Schweizer zunächst klar, dass es nur einen Islam gebe, dessen Prinzipien und Säulen für jeden Muslim gelten. Innerhalb des Islam gebe es aber mindestens sechs verschiedene Lesarten der heiligen Schriften Koran und Sunna (Überlieferung der Handlungen und Aussprüche des Propheten Muhammad). Ramadan nannte die traditionalistische, die rationalistische, die sufistische, die salafitische, die reformistische und die politische Lesart. Diese Vielzahl an verschiedenen Lesarten mache die für viele Nichtmuslime unverständliche Diversität des Islam aus.
Der Islam hat, so Ramadan weiter, überall wo er sich ausgebreitet hat, Elemente der in den Ländern herrschenden jeweiligen Kultur in sich aufgenommen. So übernahmen Muslime im Senegal Elemente der senegalesischen Kultur oder iranische Muslime Elemente der iranischen Kultur. Beide Muslime haben die gleiche Religion aber eine andere Kultur. Ebenso werde der Islam in Europa in Zukunft verstärkt Elemente der europäischen Kulturen in sich aufnehmen.
Muslime, die in Europa aufwachsen, werden im Kontext der europäischen Gesellschaften den Koran anders lesen als Muslime im Nahen Osten oder Nordafrika. Sie werden, so der 43-Jährige gestern weiter, andere Antworten auf ihre Fragen finden als ihre Glaubensbrüder in den islamischen Mehrheitsgesellschaften. Diese neuen Antworten werden im Zeitalter der neuen Medien auch ihren Weg in diese Länder finden und einen Diskussionsprozess anstoßen.
Die in jüngster Zeit an Muslime gerichtete Frage: "Definierst du dich in erster Linie als Muslim oder als Deutscher?", sei eine Falle, erklärte Ramadan. Sie sei in erster Linie Sinnbild einer Identitätskrise der Europäer.

Für eine erfolgreiche Integration in Europa sei es für die Muslime notwendig die Kultur ihrer Herkunftsländer hinter sich zu lassen. So müsse ein in Deutschland lebender Türke seine islamische Religion von der türkischen Kultur trennen, um ein muslimischer Deutscher werden zu können. Wörtlich erklärte Ramadan: "Alles, was der europäischen Kultur widerspricht, muss abgelegt werden." Wichtig für diesen Schritt sei es aber, die Prinzipien des Islam zu kennen um kritisch mit seiner Kultur umgehen zu können. So müsse ein Muslim wissen, dass Zwangsheiraten und häusliche Gewalt Teil der türkischen Kultur, nicht aber Teil des Islam seien. Viel zu oft würden diese kulturellen Praktiken im Namen des Islam durchgeführt. Der Koranvers, der das Schlagen von Frauen erlaubt, sei im Kontext der 23-jährigen Offenbarung des Koran zu sehen, an deren Ende Gott schließlich erklärt habe zwischen Mann und Frau gebe es nichts als Liebe.
Entschieden wandte sich Tariq Ramadan, der 2004 von Universität Notre Dame in Indiana zum Professor berufen wurde, diese Stelle aber nicht antreten durfte, weil ihm das US-Heimatschutzministerium das Visum entzog, gegen das häufig von Islamisten propagierte dualistische Weltbild, das die Welt in "Dar al-Islam" (Haus des Islam) und "Dar al-Harb" (Haus des Krieges) einteilt. Ramadan setzt diesem das Konzept des "Dar al-Shahada" (Haus des Zeugnisses) entgegen - eine Welt in der jeder, gleich ob Muslim, Christ oder Atheist nach seinen Vorstellungen und Überzeugungen leben könne. Weder der Westen noch der Islam seien monolithische Blöcke.

Die Prinzipien der Demokratie nannte Ramadan, Enkelsohn von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbrüder, universell. Das demokratische Staatskonzept stehe keinesfalls im Widerspruch zu islamischen Prinzipien. Die islamischen Staaten werden diese Prinzipien in Zukunft schrittweise übernehmen, auch wenn das Demokratiemodell dann anders aussehen könnte als im Westen.
Weiter forderte Ramadan einen Islam-Unterricht nach dem Vorbild des Unterrichts an westlichen Schulen. "In Europa wird den Kindern beigebracht Fragen zu stellen, in islamischen Schulen wird den Kindern beigebracht zu gehorchen." Auch die Vorschriften des Imams müssten kritisch hinterfragt werden. Daher müsse der Islam-Unterricht in Europa an staatlichen Schulen stattfinden. Mit einer bloßen Nachahmung dessen, was der Lehrer sagt, wie an den Koranschulen üblich, sei man im Westen verloren.
Der Konflikt um die Muhammad-Karikaturen habe erstmals die negativen Auswirkungen des europäischen Islam auf die islamische Welt gezeigt. Radikale Gruppen in den islamischen Mehrheitsgesellschaften hätten den Konflikt ebenso ausgenutzt wie die rechten Parteien Europas. Dieses Beispiel mache deutlich, dass Probleme mit europäischen Muslimen auch in Europa gelöst werden müssen. Das in der Folge des Streits wieder ins Spiel gebrachte Konzept des "Clash of Civilisations" wies der Doktor der Philosophie und der Islamwissenschaft zurück. Angesichts des Widerspruchs den die Karikaturen selbst in den westlichen Gemeinschaften ausgelöst hätten und des Widerspruchs gegen die gewaltsamen Proteste innerhalb der islamischen Länder, sei eher von einem "Clash within Civilisations" zu reden.

Als Forderungen an die europäischen Gesellschaften nannte Ramadan, dem ebenso die Einreise nach Tunesien, Ägypten und Saudi- Arabien verboten ist, drei Dinge.:
Zunächst müsse eine Debatte über Identität angestoßen werden. Jeder Europäer sollte folgende Fragen für sich beantworten: "Können wir uns Muslime als Europäer, den Islam als europäische Religion vorstellen? Gehören Muslime zu uns?"
Ebenso wichtig sei das Vertrauen in die muslimischen Mitbürger. In den 30er Jahren seien den europäischen Juden drei Vorwürfe unterstellt worden.: Sie haben eine doppelte Loyalität. Sie arbeiten an einer internationalen Verschwörung. Sie sprechen mit gespaltener Zunge. Exakt die gleichen Vorhaltungen werden laut Ramadan heute den Muslimen gemacht. Die Europäer sollten endlich verstehen, dass man nur gemeinsam gewinnen könne.
Gleichzeitig warf Ramadan den Europäern vor, "in einem geistigen Ghetto" zu leben. Jeder solle sich fragen, mit wie vielen Menschen anderer Religion, Herkunft, Hautfarbe oder sozialer Stellung er in den vergangen zwei Wochen gesprochen hat. Viele Menschen würden sich anstatt von der Realität von medialen Zerrbildern leiten und beeinflussen lassen, die wiederum Rückwirkungen auf die Muslime in unseren Ländern haben. "Wir bekommen die Muslime, die wir verdienen."
Alles, was bislang als Dialog der Religionen präsentiert wurde, sei in Wirklichkeit "ein interaktiver Monolog" gewesen. Dem Zerrbild des bösen Islam werde in europäischen Medien Ayaan Hirsi Ali entgegengesetzt, eine Atheistin, die Mohammad als Pädophilen bezeichnet und daher als Gesicht des "guten Islam" präsentiert wird. "Was Frau Ali verkörpert, ist Islam ohne Islam.", so Ramadan. Man müsse akzeptieren, dass es nicht nur schwarz und weiß gebe und Muslime mitunter kontroverse Meinungen haben, über die man trotzdem diskutieren müsse. "Wir dürfen von den Muslimen nicht erwarten, dass sie das sagen, was wir hören wollen."
Wichtig für die Entwicklung des Euro-Islam sei die Ausbildung islamischer Gelehrter, Ulama, in Europa. Noch fehlten hierfür die Ressourcen, doch werde die 3.Generation islamischer Einwanderer hierfür entscheidend sei. Die Aussagen vieler islamischer Rechtsgelehrter des Nahen und Mittleren Ostens kritisierte Ramadan als "zu einfach und eindimensional." Dies zeige sich etwa bei Gutachten zum islamischen Bank- und Finanzwesen.

Die in Europa lebenden Muslime forderte der momentan in Oxford lehrende Ramadan auf, die Gesetze hier zu befolgen. Wer in einem westlichen Staat lebe, schließe mit diesem einen Vertrag und muss daher dessen Regeln hinnehmen. Die europäischen Staaten garantieren die Religionsfreiheit, daher sei der Muslim ihnen zu "totaler Loyalität" verpflichtet. Bezüglich des Kopftuchverbots an Frankreichs Schulen erklärte Ramadan erneut, er lehne dieses Gesetz ab. Das Kopftuch stehe in keinem Widerspruch zum französischen Laizismus, was sich schon daran zeige, dass man ein neues Gesetz zum Verbot des Hijab erlassen musste. Er forderte die französischen Musliminnen auf, das Kopftuch vor und nach dem Schulbesuch zu tragen und als französische Bürgerinnen weiter für ihre vollen Rechte zu kämpfen.
Weiterhin kontrovers bleibt Ramadans Haltung zu Steinigungen. Diese seien integraler Bestandteil der Prophetentradition, der Sunna. Daher könne man dies nicht einfach wegdiskutieren, wie dies ein französischer Mufti unlängst getan habe, der erklärte diese Passagen streichen zu wollen. Vielmehr sei es unerlässlich, wissenschaftlich an die Texte heranzugehen. Man solle sich fragen: "Was sagen die Texte? Wie sind die Bedingungen? Was ist der Kontext?" Da sich in vielen islamischen Ländern die Steinigung fast ausschließlich gegen Frauen und Benachteiligte richtet, plädiert Tariq Ramadan für ein Moratorium, also eine zeitlich befristete Aufhebung der Steinigung.
Vor diesem Hintergrund protestierte Ramadan erneut gegen doppelte Standards westlicher Medien. Wenn in Nigeria eine Frau gesteingt werde, mache dies im Westen Schlagzeilen. Als vor drei Monaten eine Frau in Afghanistan gesteinigt worden sei, habe keine westliche Zeitung darüber berichtet, weil dies nicht ins Bild des "befreiten Afghanistans" passe.