Während Regierungstruppen mit der Unterstützung von Russland die Provinz Idlib bombardieren, diskutieren internationale Geber*innen über den Wideraufbau Syriens. Dabei warnen lokale Hilfsorganisationen, dass die Al-Assad Regierung Hilfsleistungen immer wieder als Waffe gegen die eigene Bevölkerung missbraucht.
Bomben, Bodentruppen und dazwischen tausende Zivilist*innen: Ende April begann die Großoffensive des syrischen Regimes in der Region Idlib. Unterstützt durch Russland und den Iran, möchte Al-Assad die letzte große Rebellenhochburg in Syrien einnehmen, die mehrheitlich vom Al-Qaida Ableger Hayat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert wird. Drei Millionen Menschen leben in der Region. Davon sind mehr als die Hälfte Binnenflüchtlinge, viele davon bereits mehrfach vertrieben. In Idlib sind sie nun eingekesselt: Die nahe türkisch-syrische Grenze ist dicht. Allein 300.000 Menschen sollen an ihr entlang ausharren, die größte Anzahl von Vertriebenen durch eine einzelne Kampfhandlung seit Beginn des Krieges vor acht Jahren.
In ihrem Kampf gegen die Opposition und Rebellen wendet das syrische Regime immer wieder die gleiche Strategie an: «Die Bevölkerung angreifen, um Druck auszuüben. Die Luftwaffe einsetzen, um großflächige Zerstörung anzurichten. Den Menschen die Grundversorgung verwehren. Die Infrastruktur zerstören,» sagt Mohamad Katoub: «Und Hilfsgüter als Waffe benutzen.» Der syrische Aktivist und Arzt ist Mitglied der Hilfsorganisation Syrian American Medical Society (SAMS), die vom türkischen Gaziantep aus die Gesundheitsversorgung in Syrien unterstützt. Sorgenvoll beobachtet er in diesen Tagen die Gefechte in Idlib, bei denen bisher seit Ende April mehr als 500 Zivilist*innen Menschen getötet und über 70 Schulen und 30 medizinische Einrichtungen angegriffen wurden.
Hilfe als Waffe – eine Kriegsstrategie
In einem Apell hat sich SAMS deswegen zusammen mit 43 anderen syrischen und internationalen Organisationen an die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (UN) und die Weltöffentlichkeit gewandt. Daran erinnern sie an die 2018 bzw. 2016 vom Regime zurückeroberten Regionen Ost-Ghouta und Aleppo, in denen Zivilist*innen während der Gefechte in katastrophalen Bedingungen ausharren mussten. Schulen, Krankenhäuser und Märkte wurden angegriffen, die Bevölkerung wie etwa bei der Belagerung Ost-Aleppos systematisch ausgehungert. Laut Völkerrecht ein Kriegsverbrechen.
Der Ausgang um die damals geteilte Stadt Aleppo gilt heute als Kriegswendepunkt. Und als Symbol für die Machtlosigkeit der UN: 2016 waren fast eine Million Menschen von Belagerungen in Syrien betroffen, davon allein in Ost-Aleppo 270 000. Im September 2016 verkündete die UN, dass 80 Prozent ihrer Hilfskonvois nicht oder nur verspätet an den Zielort gelangen und man Ost-Aleppo seit zwei Monaten nicht mehr erreicht hatte. Bei jenen Konvois, die es doch schafften, wurden Güter wie medizinisches Equipment vom Regime beschlagnahmt. «Selbst Instrumente für Kaiserschnitte gehörten dazu», sagt Katoub.
Gefrustet und verzweifelt bezeichnete der damalige Nothilfekoordinator der UN, Stephen O’Brien, Ost-Aleppo in einer Sitzung des Sicherheitsrates als «Todeszone» und griff Kriegsakteur Russland an, der sich seit 2015 an der Bombardierung der syrischen Regierung beteiligt. Laut Mohamad Katoub hat die jahrelange Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber der syrischen Regierung und seinen Kriegsverbrechen andere Akteure ermutigt, es ihm gleich zu tun. So hätten in West-Aleppo Al-Qaida nahe Gruppen den Zugriff auf Wasser als Waffe benutzt, um die lokale Bevölkerung zu drangsalieren
Der lokale Druck auf die UN
2016 hatten SAMS und 72 andere bekannte Organisationen wie die Weißhelme von alledem genug und verweigerten angesichts der Situation in Ost-Aleppo den weiteren Informationsaustausch mit der UN. In einem offenen Brief warfen sie der Organisation vor, sich in Damaskus vom Al-Assad Regime manipulieren zu lassen und der Taktik, Hilfsgüter als Waffe einzusetzen, Vorschub zu leisten. Dem war eine Recherche des britischen Guardian vorausgegangen, in der aufgedeckt wurde, wie Millionen Hilfsgelder trotz EU und US Sanktionen an Al-Assad nahestehende Organisationen überwiesen wurden. «Wir wollten in die Diskussion um Bedarfsanalysen einbezogen werden, in die Planung und die Programme. Und in die Überprüfung von Missbrauch», sagt Katoub.
Damals hatten die Organisationen Erfolg, die UN versprach sie mehr einzubeziehen. An der Gesamtsituation, eine politische Lösung für den Konflikt zu finden, hat das aber nichts geändert. Im aktuellen Gefecht um Idlib werfen syrische Mediziner*innen der UN erneut Unfähigkeit vor und weigern sich weiterhin, Informationen über medizinische Einrichtungen zu übermitteln. Denn acht der über 20 angegriffenen Krankenhäuser hatten ihren Standort mit der UN geteilt, die diese an Russland übermittelt hatte. Man hatte dabei gehofft, dass die syrischen und russischen Bombardierungen Rücksicht auf die zivilen Einrichtungen nehmen würden. Ein Trugschluss.
Wiederaufbau: Politische Zementierung oder Neuanfang?
Auch wenn die Einnahme Idlibs durch syrische Truppen über kurz oder lang als gesetzt gilt, steht für Mohamad Katoub fest: «Wir können nicht von einer Post-Konflikt Situation sprechen.» Trotzdem hat das Tauziehen um den Wiederaufbau des Landes längt begonnen, ein mit 350 Milliarden Euro geschätztes Riesengeschäft.
Auf der dritten gemeinsamen Geber*innen Konferenz von EU und UN in Brüssel im März 2019 wurde bisweilen an der Strategie festgehalten, dass Wiederaufbau an eine politische Lösung und Transformation des Konflikts geknüpft sei. Bis dahin konzentriert man sich auf die humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung in Syrien, von der 65 Prozent in extremer Armut leben, sowie auf die Unterstützung der umliegenden Länder, die fünf Millionen syrische Geflüchtete aufgenommen haben. Wie lange EU und UN noch an diesem bisher erfolglosen Versuch festhalten, Druck auf das syrische Regime auszuüben, ist nicht sicher.
Vor allem, weil sich derweil andere Akteure in Stellung gebracht haben, Al-Assads politische und damit wirtschaftliche Stellung in Syrien zu zementieren. Neben Syriens großem Unterstützer Russland, das bereits 2013 ein Partnerschaftsabkommen mit der syrischen Regierung über Erdgasfelder abschloss und von Al-Assad 2018 ein Exklusivrecht für die Öl-und Gasförderung in Syrien bekam, bemühen sich auch Parteien um die Gunst Al-Assads, die dem Diktator im Kriegsverlauf gegenüberstanden: Seit Dezember 2018 ist die Botschaft der Vereinten Arabischen Emirate in Damaskus wieder in Betrieb, auch Saudi-Arabien bemüht sich um Annäherung. Wohl um den iranischen Einfluss in Syrien zurückzudämmen.
«Das Regime ist für seine Korruption und Kriegsverbrechen bekannt», sagt Mohamad Katoub: «Die Hilfsgelder zum Wiederaufbau werden mitnichten zum Wohle der syrischen Bevölkerung verwendet werden.» Internationale Geldgeber*innen sollen sich deswegen ganz genau überlegen, wem sie Mittel zur Implementierung bereitstellen und wer ihre Arbeit überprüft. «Am Ende sollte die Bevölkerung eine Garantie ausstellen, dass sie die Leistungen wirklich bekommen haben», sagt er.
Auch ist das Land weiterhin in verschiedene Einflussgebiete unterteilt, darunter Gebiete im Norden unter türkischer Kontrolle sowie die daran angrenzende Enklave unter den Demokratischen Kräften Syrien (SDF). Wenn einzelne Regionen beim Wiederaufbau unterschiedlich behandelt werden, könnten neue Konflikte entstehen. Der Kampf um die Einsetzung von Hilfsgeldern ist also lange noch nicht vorbei.