13.02.2010
Sex and the Shia

von Susanne Henning

Der Einfluss der libanesischen Hizbollah auf ihre Anhänger und deren Moralvorstellungen weitet sich mehr und mehr aus. Die breite Anhängerschaft der schiitischen Bewegung, die den propagierten Widerstand gegen Israel unterstützt, wird zunehmend auch in Themen beeinflusst, die die individuelle Lebensführung betreffen. Im Zuge dessen werden bestimmte Ideale transportiert, die nicht zuletzt strategische Zwecke erfüllen und durch die basisorientierte Struktur der Organisation in der schiitischen Bevölkerung gut verbreitet werden können. Dies lässt sich am Beispiel der Regulierung von Sexualität und Beziehungen zwischen den Geschlechtern zeigen, speziell am Thema der Zeitehe, die in den letzten 10 Jahren unter den Schiiten im Libanon zunehmend an Bedeutung gewonnen hat.

Die sogenannte Zeit- oder Genussehe (Mut´a-Ehe) ist eine zeitlich befristete Form der Ehe, deren Konditionen durch vertragliche Regelung klar festgelegt werden. Heutzutage wird sie fast ausschließlich innerhalb der Gemeinschaft der Zwölfer-Schiiten legitimiert und praktiziert, während viele sunnitische Rechtsgelehrte sie ablehnen.

Der Abschluss des Ehevertrages ist unkompliziert und kann mündlich oder schriftlich erfolgen, erfordert dabei nicht zwangsläufig die Anwesenheit von Zeugen oder die eines islamischen Rechtsgelehrten. Beidseitige Zustimmung in Gestalt einer zu sprechenden Formel genügt für das Inkrafttreten der Abmachung, dessen Gültigkeitsdauer sowie Umfang der Morgengabe selbst bestimmt werden können. Dabei sind vielfältige Ausprägungen möglich, so kann eine solche Ehe für den Zeitraum von einer Stunde bis hin zu 99 Jahren geschlossen werden. Ähnlich verhält es sich mit Höhe und Art der Morgengabe, die sowohl eher symbolischen als auch finanziellen Wert haben kann.

Bezüglich der Rechte von Mann und Frau lassen sich Ungleichheiten feststellen: So besitzt der Mann im Unterschied zur normalen islamischen Ehe ein einseitiges Scheidungsrecht und darf gleichzeitig mehrere Mut´a-Ehen eingehen, während für die Frau nur eine Ehe in Frage kommt. Nach Ende einer solchen muss sie die Zeitspanne von zwei Perioden abwarten, bevor es ihr erlaubt ist, eine neue einzugehen. Bezüglich der religiösen Mischung gelten die gleichen Regeln wie für reguläre islamische Ehen: Eine Muslima darf mit keinem Andersgläubigen eine Ehe eingehen, wohingegen für einen Muslim Frauen aller Buchreligionen erlaubt sind.

In wirtschaftlich schwierigen Zeiten z.B. während des libanesischen Bürgerkrieges stand die Zeitehe unter der schiitischen Bevölkerung hoch im Kurs, da sie im Gegensatz zur regulären Ehe keine eigene Wohnung sowie die Bezahlung der in der Regel hohen Brautgabe notwendig machte. Nach dem Julikrieg 2006 wurde sie von der erstarkenden Hizbollah wieder deutlicher thematisiert und propagiert. Als Anlass dafür wird die damals ausschweifende Prostitution genannt, die durch zahlreiche iranische Geldtransfers gefördert worden war und Ausmaße annahm, die die Hizbollah nicht ignorieren konnte. Als Reaktion darauf ergriff die Organisation eine Strategie, die auf Grundlage des Islam ein Ausleben der Sexualität ermöglichte. Dies geschah innerhalb des fest abgesteckten Rahmens der Zeitehe, deren Konzept religiös legitimiert und bekräftigt wurde.

Für viele Libanesen ist die politische Ausrichtung, die auf Widerstand gegen Israel zielt, ein wichtiger Grund, die Hizbollah zu unterstützen. Gelingt es der Bewegung außerdem, das Bedürfnis ihrer Anhänger nach Ausleben von Sexualität auf eine Weise zu bestärken, die moralische Sicherheit innerhalb des Islam suggeriert, so kann sie mit dieser Strategie gewiss Teile der Anhängerschaft sichern. Im Zuge dessen wird die Rolle der Sexualität und der natürlichen menschlichen Triebe im Islam betont und mit der Mut´a-Ehe ein theologisch begründeter, stabiler Rahmen geschaffen, in dem sie ausgelebt werden dürfen. Diese Regelung und Kontrolle wird eingebettet in die bewusste Geschlechtertrennung in der Gesellschaft, deren moralische Notwendigkeit von den schiitischen Geistlichen ebenfalls aus dem Islam heraus begründet und gefordert wird. So wird es immer wichtiger, über den Gedanken des Widerstandes hinaus sich den Werten der Hizbollah konform zu verhalten.

Eine Zielgruppe für die Proklamation der Zeitehe ist die jüngere schiitische Bevölkerung, die wirtschaftlich häufig nicht allzu gut gestellt in den Vororten Beiruts lebt. Für sie stellt sich das Problem der Gratwanderung, ein gutes religiöses Leben zu führen und sich von dem als zu frei empfundenen westlichen Lebensstil abzugrenzen, gleichzeitig aber der Wunsch, sexuellen Bedürfnissen nachzugehen. Die frühe Heirat könnte die optimale Lösung für diesen Spagat sein, ist jedoch aus finanziellen Gründen zurzeit nur für wenige praktizierbar.

Hier bietet die Zeitehe einen guten Ausweg, weil sie eine religiös legitimierte Form der Sexualität außerhalb der traditionellen Ehe darstellt. Laut einer Bestandsaufnahme der Situation im Jahre 1999 von Stephan Rosiny war die Aufnahme einer Mut´a-Ehe zu jener Zeit dagegen für viele Frauen noch mit einem Ansehensverlust verbunden, sodass sie sich scheuten, eine solche einzugehen. Gleichzeitig bekräftigte er jedoch, dass diese Art der Ehe auch eine Chance für geschiedene oder verwitwete Frauen sein könne, die sich von ihren Familienstrukturen lösen möchten, in die sie nach der Scheidung oder dem Tod ihres Mannes zurückkehren mussten.

Die Situation scheint sich gewandelt zu haben. Hanin Ghaddar schreibt im Jahr 2009 in ihrem Artikel „The Militarization of Sex“ darüber, dass es für einige Frauen gar einer religiösen Pflicht gleichkomme, die eigenen sexuellen Bedürfnisse zu erfüllen. Da dies in einem religiös abgesicherten Rahmen verläuft, sei daran auch nichts Verwerfliches zu finden. Möglicherweise ist auch diese Haltung ein Ergebnis des von der Hizbollah angestoßenen Diskurses.

Die Etablierung der Zeitehe brachte noch andere gesellschaftliche Effekte mit sich. So berichtet Ghaddar davon, dass in vielen Geschäften in den Vororten Beiruts regelrechte Partnerbörsen entstanden sind, in denen zeitehenwillige Kandidaten zueinander finden können. Gleichzeitig fungiert die Hizbollah als eine Art Netzwerk, da ihre Anhänger auf Veranstaltungen oder Treffpunkten die Möglichkeit haben, auf gleichgesinnte Gläubige zu treffen. Parallel dazu bildete sich jedoch auch ein Prostitutionsgewerbe heraus, das unter dem Deckmantel der Mut´a-Ehe operierte und mit einem Zuwachs an kriminellen Geschäften einherging. Laut Ghaddar lief dies im November letzten Jahres derart aus dem Ruder, dass die Hizbollah die Internal Security Forces (ISF) zu Hilfe rief, um Herr der Lage zu werden. Wieder wurde dabei der Islam zu Hilfe genommen. Mit einer Tugendkampagne unter dem Motto „Order comes from Faith“ sollten die kriminellen Machenschaften eingedämmt und die Moral in besagten Gebieten wieder in geordnete Bahnen gelenkt werden.

Während Rosiny 1999 die libanesische Gesellschaft als eine traditionell offene beschreibt, in der die von der Hizbollah proklamierte Geschlechtertrennung seiner Einschätzung nach nur schwer Fuß fassen könne, schätzt Ghaddar diesen Sachverhalt 10 Jahre später ganz anders ein. Sie stellt fest, dass es der Hizbollah offenbar gelänge, ihre Anhängerschaft durch die offensive Proklamation der Zeitehe zu halten und sogar noch zu vergrößern und dass sich die schiitische Gemeinde dadurch von der restlichen Gesellschaft isoliere. Dies führe dazu, dass gemischte Beziehungen immer schwieriger werden. Sie beschreibt also einen neuen Trend, der der Prognose Rosinys entgegensteht.

Susanne Henning studiert Politikwissenschaft und Arabisch-Islamische Kultur and der Universität Münster und hat diesen Aufsatz im Rahmen des Seminars "Islamistische Bewegungen im Nahen Osten" verfasst.