24.04.2016
„Selbst Sterben ist hier ein Problem“ - Zu Besuch in einem Flüchtlingscamp im Libanon
Ein Flüchtlingscamp im libanesischen Bar Elias im Osten des Landes. Photo: Bente Scheller/CC-BY-SA.
Ein Flüchtlingscamp im libanesischen Bar Elias im Osten des Landes. Photo: Bente Scheller/CC-BY-SA.

Libanesische Bürokratie, traumatisierte Menschen, wenig internationale Hilfe: Die Alltagsprobleme in syrischen Flüchtlingscamps im Libanon sind groß. Lokale Organisationen wie Women Now und Sawa4Syria versuchen, sie zu lösen. Aus dem Osten des Libanon berichtet Alisha Molter.

„Verhungern wird hier keiner, das kann man nicht sagen. Essen haben wir genug. Aber sonst fehlt es an allem“, beschreibt Majd Chourbaji von der Organisation Women Now die Situation vor Ort.

Rund eine Million syrischer Flüchtlinge leben allein in der Bekaa-Ebene im Osten des Landes. Seit der Libanon im Januar 2015 die Einreisebedingungen für syrische Staatsbürger_innen verschärft hat und nicht mehr zulässt, dass das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR die Flüchtlinge registriert, sind sie mehr denn je auf die Unterstützung durch nicht-staatliche Strukturen angewiesen. Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie Women Now und Sawa4Syria bauen in Eigenregie Flüchtlingslager, Gemeindezentren und Schulen für die Betroffenen auf.

Schulbesuch ist keine Selbstverständlichkeit

„If you’re happy and you know it, clap your hands!“ ruft eine Lehrerin durch den Lautsprecher über den Schulhof. Rund 100 Kinder klatschen in die Hände. Sie stehen aufgereiht vor einem hellen Flachbau, den ein bunt bemaltes Dach schmückt. Ihre Gesichter strahlen. Angestrengt versuchen sie, den englischen Text zu verstehen und den Anweisungen des Liedes zu folgen. Für die meisten von ihnen ist die Schule eine willkommene Abwechslung vom ansonsten tristen Leben in den Zeltstädten. Hier finden sie etwas Normalität wieder.

Die Kinder der von Women Now in Taalabaya gegründeten Schule sind privilegiert, denn der Schulbesuch ist für die syrischen Flüchtlingskinder im Libanon nicht selbstverständlich. Gerade einmal 30 Prozent der rund 400.000 syrischen Kinder besuchen hier eine Schule. Der Grund: Zum einen gelingt es den Behörden nicht, genügend Plätze anzubieten, zum anderen unterscheidet sich der libanesische Lehrplan stark vom syrischen. In Syrien ist die Unterrichtssprache ausschließlich Arabisch, wohingegen im Nachbarland auch auf Französisch und Englisch gelehrt wird. Viele syrische Kinder sind daher in den libanesischen Schulen überfordert.

Das Lied ist zu Ende, die Kinder gehen zurück in ihre Klassenzimmer. Rund 700 Schüler besuchen täglich den Unterricht, den die aus Syrien geflohene Lehrkräfte halten. Es gibt einen kleinen Gemüse- und Obstgarten und eine Bäckerei, in der Flüchtlingsfrauen Brot backen. „So haben die Kinder in der Mittagspause etwas zu essen und die Frauen können durch den Verkauf in anderen Camps etwas Geld verdienen“, erklärt Majd.

Betreuungsprojekte für die ganze Familie

„Einmal haben wir ein Projekt gemacht zum Thema ‚Meine Erinnerungen an Syrien‘. Viele der Kinder haben Bomben gemalt, die vom Himmel fallen. Das ist ihr letztes Bild von der Heimat. Dann war ihr Haus weg“, erzählt Chourbaji. Eigentlich sei es die Idee des Projekts gewesen, den Kindern eine Identität zu geben. Viele seien mittlerweile seit zwei oder drei Jahren hier – Zeit genug, um zu vergessen.

„Wenn du sie fragst, woher sie kommen, antworten sie, dass sie von hier kommen. Aus Bar Elias, dem libanesischen Zufluchtsort“, erzählt Rouba Mhaissen, Leiterin der syrischen Organisation Sawa4Syria. Die Zentren der beiden NGOs bieten jeweils psychosoziale Betreuung für Kinder, aber auch für Erwachsene an. Sie wollen ihnen helfen, ihre Kriegstraumata zu verarbeiten.

Die von Sawa4Syria betriebene Schule in Bar Elias legt besonderen Wert darauf, die ganze Familie einzubeziehen: Während vormittags der normale Lehrbetrieb läuft, öffnet die Schule nachmittags ihre Türen als Gemeindezentrum. „Die Familie ist die soziale Bezugsgruppe der Menschen hier“, sagt Mhaissen.

Wichtig sei, die Männer zu beteiligen, da sie ihren Frauen die Teilnahme an den Kursangeboten eher erlaubten, wenn sie selbst aktiv eingebunden seien, erklärt Mhaissen. Deshalb gebe es hier eine Fußballgruppe, die sich fast täglich treffe. „Der Fußball hilft den Männern, Aggression und Frustration abzubauen.“

Da innerfamiliäre Gewalt besonders in Krisenzeiten ein bekanntes Problem darstellt, bieten die Organisationen auch spezielle Kurse zum Umgang mit geschlechtsspezifischer Gewalt an.

Die Kinder machen währenddessen in Musikgruppen Erfahrungen mit Rhythmus und Takt oder nehmen am Puppentheater teil. In einem der Räume sitzen etwa 15 Kinder zwischen sechs und acht Jahren auf dem Fußboden. Sie wollen uns zeigen, was sie gelernt haben. Von draußen schaut ein Junge neugierig zum Fenster herein. Hinter einem am Boden liegenden Tisch versteckt sich eine junge Frau und spielt mit den Kindern Kasperletheater. Sie bewegt eine kleine Handpuppendame. „Sabah ul-kheir“ begrüßt sie die Kinder, deren neugierige Blicke an diesem Nachmittag mehr an den Gästen hängen als an den Puppen. „Sabah ul-noor“ antworten sie dennoch im Sprechchor.

Für die Mütter bieten beide Zentren Sprach- und Nähkurse an und bringen ihnen bei, einen Computer zu benutzen. „Das ist sehr wichtig für die Frauen, auch, damit sie mit ihren Familien in Syrien über soziale Medien wie Facebook und Skype in Kontakt bleiben können“, erklärt Chourbaji.

Women Now denkt sogar noch einen Schritt weiter – an das was kommt: den Wiederaufbau. Daher bietet die Organisation auch Schulungen für AutoCAD an, eine Software, die von Architekten und Ingenieuren genutzt wird und deren Anwendung eines Tages für den Wiederaufbau der Infrastruktur Syriens nützlich sein soll.

Bürokratische Hürden und mangelnde internationale Hilfe

Alltagsprobleme gibt es genug, denn die libanesischen Behörden bauen zunehmend bürokratische Hürden auf.

„Alles ist ein Problem hier. Wenn du ein Kind bekommst, ist das ein Problem. Wenn du stirbst, ist das auch ein Problem“, resümiert Chourbaji. Sie erzählt von Behörden, die sich weigern, neu geborene Kinder zu registrieren und von der Herausforderung, einen Friedhof zu finden, auf dem Syrer ihre Toten begraben können. Als eine Bekannte von ihr starb, musste die Familie zwei Tage lang suchen. „Allein dafür, dass wir sie in dieser Zeit noch im Kühlhaus der Leichenhalle lassen durften, sollten wir 100 Dollar pro Tag zahlen. Wir haben sie bekniet und gesagt, dass wir wirklich kein Geld haben, da sind sie auf 50 Dollar runtergegangen.“

Mit den von Plastikplanen geschützten und mit Pappe oder Folie ausgelegten Verschlägen erinnern die Camps an Slums. Sie sind auch keine offiziellen Flüchtlingsunterkünfte, sondern werden von der Regierung lediglich geduldet. Bis zu 100 Dollar Miete pro Monat nehmen die Grundstücksbesitzer von einer Flüchtlingsfamilie. Dann darf sie ihr Zelt auf dem Privatgrundstück aufbauen. Für Menschen, die alles verloren haben, ist das eine große Summe.

Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ist da keine Hilfe: Eine Frau mit Kindern, die ohne ein männliches Familienoberhaupt im Libanon lebt, bekommt vom World Food Programme gerade einmal 13 Dollar pro Monat. Im vergangenen Jahr waren es noch 27 Dollar, seither ist die Hilfe aufgrund des finanziellen Engpasses der UN in der Syrien-Krise ständig gesunken. Vielmehr eine symbolische Summe, als tatsächliche Unterstützung.

„Einige Frauen treibt das in die Prostitution“, erzählt Chourbaji. Doch das sei hier ein absolutes Tabuthema, über das die Frauen schwiegen. Oft müssen auch die Kinder helfen, die Familie zu unterstützen. „Einige Menschen gehen zurück nach Syrien. ‚Lieber Bomben als das hier‘, sagen sie.“

Weitermachen.

Majd Chourbaji weiß, wovon sie spricht. Sie selbst träumte 2011 von einem besseren Syrien, engagierte sich in Antikorruptionskampagnen in ihrem Geburtsort Daraya, einem Außenbezirk von Damaskus, der für sein kreatives und explizit friedfertiges Aufbegehren bekannt ist. Wegen ihrer politischen Aktivitäten und dem Besitz eines suspekt erscheinenden Buches verhafteten sie Sicherheitskräfte des Assad-Regimes im Dezember 2013 an einem Checkpoint. Als ihr Ehemann sich an dem gleichen Checkpoint nach ihrem Verbleib erkundigte, wurde auch er inhaftiert. Beide kamen in die Verhörzentren des Luftwaffengeheimdienstes.

„Sie verlegten mich in das Gefängnis von Adra. Meine Mutter kümmerte sich währenddessen um unsere drei kleinen Kinder“, erzählt Chourbaji.
Ein Gerichtsverfahren gab es nicht. Nach sieben Monaten wurde sie im Rahmen eines Gefangenenaustausches freigelassen, doch ihr Mann blieb in Assads Foltergefängnis. Immer wieder versuchte sie, herauszufinden wo er war, bestand darauf Informationen zu bekommen.

Im August 2014 erhielt Majd dann ein Schreiben mit den Wertsachen ihres Mannes: Am 28. Januar sei er im Verhörzentrum der Luftwaffe unter der Folter gestorben. „Sie bringen einen Menschen um, und das Einzige was sie mir schicken, ist sein Ehering. Und dann wollen sie auch noch eine Eingangsbestätigung“, sagt Chourbaji. Sprachlosigkeit ist das einzige, was bleibt.

Seit einiger Zeit wird sie massiv von Unbekannten bedroht. Das hält sie nicht von ihrer Arbeit ab, aber sie hat Angst um ihre Kinder. Sie überlegt sogar, sie ins Ausland zu schicken. „Das fällt mir nicht leicht, aber es ist sicherer für sie und sie können dort die Schule besuchen.“ Das älteste ist gerade mal 11 Jahre alt. „Ich hoffe, dass sie mir meine Entscheidung nicht eines Tages vorwerfen. Wenn alles in Asche liegt und es so aussieht, als ob es die syrische Revolution nie gegeben hätte und sie dann fragen: Mama, wo warst du?“

Chourbajis Blick wandert hinüber zu den Bergen, hinter denen ihr Heimatland liegt. „Wir haben keine Träume mehr. Wir empfinden weder Freude noch Traurigkeit“, sagt sie dann.

Viele Hilfsorganisationen verlassen den Libanon und gehen in die Türkei, um dort zu helfen. Dort ist es für sie einfacher, sich zu registrieren und zu arbeiten. „Aber wir können nicht alle weggehen und die Menschen hier alleine lassen“, meint sie. Sie will bleiben. „Ich werde weitermachen, für alle diejenigen, die für ein freies und demokratisches Syrien gestorben sind.“

 

Dieser Beitrag erschien auf der Seite der Heinrich Böll Stiftung und steht unter einer Creative Common Lizenz (CC-BY-SA). 

 

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