Die Gewaltspirale von Aufstand und Unterdrückung in Syrien droht auch entlang konfessioneller Linien ausgetragen zu werden. Doch was steht für Alawiten, Christen und Drusen genau auf dem Spiel? Von Natalia Gorzawski und Christoph Sydow
Seit dem Beginn der Revolution in Syrien im März dieses Jahres haben Beobachter aus dem In- und Ausland mehrfach vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges zwischen den diversen Religionsgemeinschaften in Syrien gewarnt. Durch vermehrte Angriffe der Freien Syrischen Armee, einem Zusammenschluss desertierter Soldaten, auf Regierungstruppen und Sicherheitskräfte und gewalttätige Übergriffe zwischen Sunniten und Alawiten in Homs sehen sich viele in ihrer Sorge bestätigt. Doch inwieweit deuten diese Auseinandersetzungen tatsächlich darauf hin, dass sich das Land auf einen Bürgerkrieg hinbewegt?
Die folgenden Einschätzungen und Eindrücke basieren auf Gesprächen mit Syrern aus dem In- und Ausland, mit Leuten, die vor der Gewalt und Verfolgung ins Exil geflohen sind oder aus wirtschaftlichen Gründen das Land verlassen haben sowie mit Syrern, die trotz der immer angespannteren Lage in ihrer Heimat geblieben sind. Unbestritten ist, dass die Religionszugehörigkeit in Syrien nicht der einzige Faktor ist, über den sich die politische Einstellung und die Loyalität oder eben die Abneigung gegenüber dem Assad-Regime definiert. So mag beispielsweise ein Sunnit aus Homs seinem christlichen Nachbarn in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht näher stehen als einem sunnitischen Glaubensbruder in Deir al-Zour. Dennoch zeichnet sich seit Wochen ein Machtkampf in Syrien ab, der mehr und mehr entlang konfessioneller Grenzen verläuft. Daher soll dieser Aspekt hier in den Mittelpunkt gerückt werden.
Über 40 Jahre lang hat sich das Herrschaftssystem um Hafez und Baschar al-Assad vordergründig auf die eigene Familie und in weiteren Kreisen auf Angehörige der eigenen Religionsgemeinschaft, den Alawiten gestützt. Obwohl sie nach Schätzungen weniger als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, stellen die Alawiten den Großteil der politischen, militärischen und wirtschaftlichen Elite des Landes und besetzen die Schlüsselpositionen im repressiven Macht- und Überwachungsapparat. Für viele Alawiten stellt der mögliche Sturz des Regimes daher nicht nur einen Machtverlust dar, sondern schürt auch die Angst vor möglichen Racheaktionen. Sie haben am meisten zu verlieren und ein Großteil von ihnen stellte schon vor den Protesten eine absolut staatsloyale Schicht von Regime-Befürwortern dar. Eine Ausnahme stellte in dieser Hinsicht die kommunistische Opposition dar, die gerade in den 1980er Jahren maßgeblich von alawitischen Persönlichkeiten getragen wurde.
Flucht in alte Ängste
Unter Christen und Drusen wird es hingegen schwerer eine solche Schicht zu finden. Witze und versteckte Kritik über das Regime haben hier eher Tradition und wurden in der Vergangenheit zum Teil von einem politischen Aktivismus mit kommunistischen Idealen begleitet. Trotzdem lehnten vor dem Ausbruch der Proteste viele einen abrupten Übergang zur Demokratie ab. Dabei war es weniger die Angst vor religiös motivierten Übergriffen, als die Angst vor einer sunnitischen Machtübernahme die auf viele bedrohlich wirkte. Ein angeblicher Kopftuchzwang, der unter einem neuen, sunnitisch geprägten System drohe, wurde in diesem Zusammenhang zum Sinnbild der möglichen Bedrohung. Obwohl sich die Proteste in Syrien nicht für eine sunnitische Machtübernahme einsetzen, sondern vielmehr Slogans für zivile Bürgerrechte den Protest bestimmen, vermuten viele Angehörige der Minderheiten den Versuch einer sunnitisch-muslimischen Machtübernahme hinter der Revolution und haben sich daher in alte Ängste geflüchtet. Der sich abzeichnende Wahlerfolg der Muslimbrüder und noch radikalerer salafistischer Gruppen bei den Parlamentswahlen in Ägypten, dürfte diese Befürchtungen unter den religiösen Minderheiten in Syrien weiter schüren.
Unter Drusen spielen in diesem Zusammenhang die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen eine wichtige Rolle. Auch wenn sich viele junge Drusen hinter die Ideale der Revolution stellen, blieben in den drusischen Siedlungsgebieten, der Stadt Suweida und dem Damaszener Vorort Jaramana bisher nennenswerte Protesten gegen das Regime aus. Auch hier haben viele Angst vor einer ungewissen und möglicherweise islamistischen Zukunft des Landes. Gleichzeitig und vielleicht sogar bedeutsamer ist jedoch der soziale Boykott der oppositionellen Aktivisten innerhalb der Religionsgemeinschaft droht, da sich die drusischen Sheikhs bisher geschlossen hinter die Regierung Assad gestellt haben . Talal berichtet von seiner Schwester, die an einem der wenigen Proteste in Suweida teilnahm und dafür festgenommen wurde: „Sie ist noch am selben Tag freigekommen, hat seitdem aber mit den sozialen Folgen, einem Mobbing durch die Gesellschaft zu kämpfen.“
»In Daraa haben wir alle demonstriert«
Die drusische Gesellschaft zeichnet sich durch ihren engen Zusammenhalt, klare Strukturen, Regeln und eine Abgrenzung von anderen aus. Die religiösen Oberhäupter haben dabei einen viel größeren Einfluss als ihre christlichen oder sunnitischen Pendants, was dem speziellen Charakter des drusischen Glaubens geschuldet ist. Zu direkten, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Drusen und Sunniten ist es bisher jedoch nicht gekommen und auch die allgemeine Stimmung der Revolutionsanhänger scheint sich bis jetzt nicht gegen Drusen zu richten, da die Drusen anders als die Alawiten nicht als Profiteure des Assad-Regimes wahrgenommen werden. Auch von drusischer Seite sieht Talal keine Gefahr: „Die Drusen wollen überleben, unter dem jetzigen Regime und unter jedem anderen. Sie werden sich nicht gegen das alte und nicht gegen ein neues Regime stellen.“
Unter den Christen fallen hingegen regionale Unterschiede auf. Während sich die drusische Gesellschaft auch geographisch von anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere den Sunniten abgrenzt, gibt es in fast allen Städten in Syrien bedeutende christliche Gemeinden und Wohngebiete. Durch ihre bloße Präsenz in den Protestzentren sind sie daher von vornherein stärker in den Konflikt involviert als die Drusen.
Insbesondere in den Demonstrationshochburgen Daraa und Homs scheinen sie sich jedoch umfassend hinter die Revolution gestellt zu haben. „Im Gegensatz zu den meisten Alawiten haben die Christen mit uns protestiert und gerade zu Anfang sind viele Demonstrationszüge durch christliche Viertel gezogen. In Homs haben Kirchenglocken für sunnitische Märtyrer geläutet und Christen haben Reis auf die Trauerzüge geworfen,“ erzählt Ahmad, ein inzwischen im Exil lebender Sunnit aus Homs. Es wird berichtet, dass auch heute noch viele junge Christen täglich in die sunnitischen Demonstrationszentren kommen um gegen das Regime zu protestieren. Ähnliches berichtet Riad aus Daraa. „Natürlich sind die Christen auf der Straße. Ich war die ersten drei Monate der Revolution in Daraa und alle haben protestiert: Sunniten und Christen, Kinder und Greise, Arme und Reiche.“
In Qamishli haben sich die Führer der eher politisch motivierten assyrischen Gemeinschaft der Assyrischen Demokratischen Organisation und deren Anhänger hinter die Proteste gestellt und auf Demonstrationen weht die assyrische Flagge neben der kurdischen und der schwarz-weiß-grünen Trikolore der syrischen Revolutionäre. Doch wie bei fast allen religiösen Minderheiten in Syrien spaltet sich auch die assyrische Gemeinschaft in ein Pro-Regime- und ein Oppositionslager.
In Damaskus und Aleppo sind die Meinungen gespalten
Auch in den recht ruhigen Innenstädten von Damaskus und Aleppo sind die Meinungen gespalten. Zum Teil verlaufen die Trennlinien dabei innerhalb einzelner Familien. Grundsätzlich stellen sich die meisten Christen dort aber noch hinter das Regime, wobei die staatlichen Medien in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen. Ohne einen direkten Kontakt zu den Demonstrationen und der gewalttätigen Niederschlagung durch das Regime, glauben viele den Berichten des Staatsfernsehens, in denen von gewaltbereiten Salafisten die Rede ist, die landesweit Terror stiften. Die Annahme, dass Nicht-Muslime und ihre religiösen Traditionen und Institutionen ohne die schützende Hand der Assads in Gefahr wären, hat viele ehemalige Kritiker seit dem Ausbruch der Revolution sogar zu Regimebefürwortern werden lassen.
Im Hinblick auf die Alawiten hat das Regime dabei nicht nur Ängste geschürt, sondern in den letzten Monaten eine eindeutig sektiererische Medienstrategie verfolgt. So zeigen die syrischen Fernsehsender seit dem Beginn der Proteste vermeintliche Experten, Anrufer und Sprecher bei Pro-Regime Demonstrationen, die mit einem starken alawitischen Akzent für eine gewalttätige und brutale Niederschlagung der Proteste eintreten. Zusammen mit den unzähligen Videos, in denen mutmaßlich alawitische Sicherheitskräfte und Armeeangehörige friedliche Demonstranten misshandeln, hat dies dazu geführt, dass das Regime und der Unterdrückungsapparat in Syrien mehr denn je mit den Alawiten in Verbindung gebracht werden. In der Protesthochburg Homs hat dies in den letzten Monaten vermehrt zu gewalttätigen Übergriffen und Vergeltungsaktionen zwischen Alawiten und Sunniten geführt.
Wird sich die alawitische Gemeinschaft radikalisieren?
Angesichts dieser Entwicklung ist anzunehmen, dass sich die alawitische Gemeinschaft dort in ihrer Unterstützung für das Regime weiter radikalisiert, da das eigene Überleben vermehrt mit dessen Machterhalt verknüpft wird. Gleichzeitig wird nach dem brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte das Verlangen nach Vergeltungsschlägen von sunnitischer Seite weiter zunehmen.
Nawal, eine junge Oppositionelle aus Damaskus, verweist darauf, dass konfessionelle Spannungen zwischen Sunniten und Alawitenin Homs eine lange Tradition haben, die in den aktuellen Gewalttaten nur ihre Fortsetzung findet. „Hier in Damaskus ist bis heute kein einziger Häftling zu Tode gefoltert worden – in Homs ist das der Normalfall. Das hat die Revolutionäre dort, die überwiegend Sunniten, radikalisiert. Landesweit ist Homs mit seiner inter-konfessionellen Gewalt aber bislang ein Sonderfall“ Allerdings gibt es aus Orten in der direkten Nachbarschaft der syrischen Hauptstadt sehr wohl Meldungen von Oppositionellen, die von syrischen Geheimdienstlern zu Tode gefoltert wurden. Der bekannteste unter ihnen war Giyath Matar, der im September im Vorort Daraya ermordet wurde und an dessen Beerdigung der amerikanische Botschafter Robert Ford teilnahm.
Die geographische Verteilung der religiösen Gemeinschaften und deren Unterstützung für das Regime lässt unter dem Strich dennoch vermuten, dass das Risiko breiter, gewalttätiger Übergriffe, die als Bürgerkrieg zwischen Syriens Religionsgemeinschaften klassifiziert werden können, in den Protesthochburgen Homs und Hama derzeit am größten ist und vordergründig zwischen Alawiten und Sunniten stattfinden wird. Mittelfristig droht auch eine Ausweitung des Konflikts in den Nordwesten des Landes, wo im Hinterland der Küstenstadt Latakia das Hauptsiedlungsgebiet der syrischen Alawiten liegt.
Ein zusätzliches Risiko für einen langwierigen und konfessionellen Konflikt in Syrien besteht durch die fast ausschließlich alawitischen Militäreinheiten - die Präsidentengarde und die Vierte Division - sowie die Regime-loyale alawitische Miliz der Shabiha. Angesichts ihrer hervorstechenden Rolle bei der Niederschlagung der Proteste hängt ihr physisches Überleben inzwischen tatsächlich von Assads politischem Überleben ab und es muss angenommen werden, dass sie bis zum bitteren Ende gegen einen Machtwechsel kämpfen werden. Selbst bei einem Rücktritt oder einer Flucht des Assad-Regimes, erscheint es kaum wahrscheinlich, dass sie eine Machtübernahme der Regimegegner kampflos akzeptieren würden.