27.06.2017
Proteste in Marokko: „Der König spricht lieber mit Le Président“
Hirak-Demo am 20. Juni in Casablanca. Foto: Twitter-Account von Omar Radi /@OmarRADI
Hirak-Demo am 20. Juni in Casablanca. Foto: Twitter-Account von Omar Radi /@OmarRADI

Seit einigen Wochen toben in Marokko Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und den Anhängern einer neuen Protestbewegung: „Hirak El-Shaabi“. Es geht um die Freilassung politischer Gefangene, um allgemeine Sozialleistungen, um Gerechtigkeit und um Würde. Die Monarchie an sich steht nicht zur Debatte - noch nicht.

Seit Marokkos Sicherheitskräfte am 29. Mai den Aktivisten Nasser Zefzafi festgenommen haben, vergeht kaum ein Tag ohne Demonstration. Die Behörden werfen dem 37 Jahre alten de facto-Anführer einer mehr als sieben Monate andauernden Protestserie in der strukturschwachen Rif-Region Nord-Marokkos vor, in einer Moschee die freie Religionsausübung behindert zu haben. Er hatte dem Imam während der Freitagspredigt vehement widersprochen, als dieser den Protestierenden vorwarf, die Nation spalten zu wollen. Zefzafi bezichtigte den Imam der Lüge und fragte, ob die Moschee „Gott oder den Mächtigen“ gehöre.

Mit der Begründung, den Extremismus zu bekämpfen, bestehen in Marokko seit Jahren strenge Vorgaben zu den Inhalten religiöser Predigten. Aber viele stehen dem skeptisch gegenüber. Sie sehen darin einen Versuch, die lokale Bevölkerung von Kritik an der Monarchie abzuhalten. Kurz nach der Festnahme Zefzafis gingen hunderte Menschen unter dem Motto „Wir sind alle Zefzafi“, „Korrupter Staat“ und „Würde“ in der Protesthochburg El-Hoceima auf die Straße und bereiteten seitdem einer neuen Protestbewegung den Weg. Ihr Name: „Hirak El-Shaabi“ – Die Volksbewegung.

„Im Staat gibt es etwas Verfaultes“

Die Protestserie hatte vergangenen Oktober im Anschluss an den Tod von Mohsin Fikri begonnen. Polizeibeamte hatten damals den Tagesfang des Fischhändlers konfisziert und in einen Müllwagen geworfen. Als Fikri hinterher sprang, um seinen Fang zu retten, soll einer der Beamten gerufen haben: „Than mu“ („Zerquetsch seine Mutter“). Fikri wurde in der Tat zu Tode gequetscht. Sein Tod löste die größte Protestwelle seit dem „Arabischen Frühling“ 2011 aus.

Für viele war nicht nur der offensichtliche Gewaltakt an sich empörend, sondern auch, dass die menschenverachtenden Worte davor auf Arabisch geäußert wurden und nicht auf Tarifit – der Sprache der einheimischen Berberbevölkerung im Rif. Die Berber fühlen sich seit Generationen durch den Staatsapparat und die überwiegend arabische Elite im Land unterdrückt. Wochenlang wurde demonstriert. Erst in El-Hoceima und Umgebung, dann auch in anderen Städten. Obwohl die Proteste zwischenzeitlich abebbten, wurde kontinuierlich weiter mobilisiert. Aktivist*Innen um Zafzafi engagierten sich in den sozialen Netzwerken und zogen täglich von einer Kleinstadt zur nächsten, um mit den Menschen über ihre Bedürfnisse zu sprechen. In öffentlichen Debatten entwickelten sie ein politisches Programm mit allgemeinen Forderungen der Bevölkerung und veröffentlichten es im März.  

Viele der ursprünglichen Forderungen, die während der Proteste Ende letzten Jahres entstanden und sich noch ausschließlich gegen die „Hugra“ richteten, also den Amtsmissbrauch der Politik, wurden ausgeweitet und beinhalten nun den Anspruch auf allgemeine Sozialleistungen wie Bildung und medizinische Versorgung. Selbst wenn konstitutionelle Forderungen und territoriale Ansprüche noch nicht explizit gestellt werden, scheint die Bewegung zu einem republikanischen Weltbild zu tendieren, das mit der konstitutionellen Monarchie Marokkos schwer zu vereinbaren ist. „Im marokkanischen Staat gibt es etwas Verfaultes, das nicht mit einem Budget zu lösen ist. Es braucht politische Veränderungen“, sagte eine Aktivistin. Auch wenn Hirak bislang keine solchen Forderungen gestellt hat, scheint es nur eine Frage der Zeit – und eine bewusste, strategische Entscheidung, um das Momentum der Demonstrationen möglichst lange aufrecht zu erhalten. Vermutlich wird sich daran auch nicht so schnell etwas ändern. Als vor kurzem der französische Präsident Emmanuel Macron in Marokko zu Besuch war und sich an Stelle des Königs zu den Protesten äußerte, war die Wut darüber groß. „Der König spricht lieber mit Le Président als mit dem Rif“, hieß es. Zum ersten Mal wurden Rufe nach Gewalt laut: „Silmiyya, c’est fini!“ („Friedlich ist vorbei!“).

Hunderte Festnahmen bei Demos am Ende des Ramadan

Mittlerweile ist die Protestwelle weit über den Rif hinausgewachsen und hat auch die Zentren der marokkanischen Elite erfasst – Städte wie Rabat und Casablanca zum Beispiel. Etwa 100 führende Mitglieder der Bewegung wurden festgenommen, seit die Proteste wieder an Fahrt gewonnen haben. Das Justizministerium bezog bislang nur einmal am 6. Juni zu Zefzafis Festnahme Stellung. Ihm wurden zusätzlich zu den ursprünglichen Vorwürfen auch „illegale und bewaffnete Versammlungen, die Untergrabung territorialer Integrität und die Bedrohung und Beleidigung der Sicherheitskräfte“ vorgeworfen. „Im Durchschnitt gab es vier Festnahmen am Tag, manchmal auch zehn“, erklärte Abdessadak Elbouchattaoui. Er ist einer der fast 300 Anwält*Innen, welche sich mit der Bewegung solidarisch zeigen und die Aktivist*Innen unterstützen. Vergangene Woche dann wurden gleich 25 Mitglieder von Hirak zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

Die palastnahe Partei für „Authentizität und Modernität“ brachte vor Kurzem in einem Artikel den Vorschlag einer königlichen Begnadigung der politischen Gefangenen zum Eid-Fest am Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan ins Spiel. Stimmen nach einem „historischen Marsch“ wurden laut, sollte es nicht dazu kommen. Am vergangenen Montag dann eskalierte die Situation. Die Polizei hatte sich auf die Demonstrationen am Eid-Tag, dem Fest zum Ende des Ramadan, vorbereitet. Viele Protestierende wurden bei den Auseinandersetzungen verletzt. Hunderte wurden festgenommen.

„Wenn ihr nicht politisch seid, was seid ihr dann?“

Die Festnahmen und Brutalität im Umgang mit den Demonstrant*Innen hatte Solidaritätsbekundungen aus allen politischen Richtungen zu Folge. Und eine der wichtigsten Entscheidungen der jungen Bewegung war es, Akteure aller Gruppierungen und Parteien willkommen zu heißen – solange sie bei den Demonstrationen als Individuen auftreten. Denn das Misstrauen gegenüber politischen Parteien, die jahrelang Prinzipien für Privilegien verkauft haben, sitzt vielerorts tief. Zefzafi hat sie abfällig „dakakin siyasia“ (Polit-Shops) genannt. Orte, an denen mit Politik Geschäfte gemacht werden. Als 2004 ein Erdbeben die Region heimsuchte und der Wiederaufbau budgetiert wurde, verschwand ein Großteil des Geldes, bevor er bei den Menschen ankam.

Viele sind heute aber auch der Ansicht, das Misstrauen müsse zum Wohle gemeinsamer Ziele zumindest teilweise überwunden werden. Etablierte links-politische Kreise sehen die Teilnahme so mancher Akteure dagegen skeptisch, wie beispielsweise der größten islamistischen Bewegung Marokkos, Al-Adl wal Ihsan (Ordnung und Spiritualität). Die hatten sich am 11. Juni bei einer Massendemonstration in der Hauptstadt Rabat mit dem Ansprüchen des „Hirak“ solidarisch gezeigt. Ansprüche, die heute alle etwas angehen, unabhängig von der politischen Ausrichtung.

Viele der Akteure, die bereits 2011 an Protesten gegen das System beteiligt waren, organisieren sich heute bewusst unter der Devise, apolitisch zu sein. Ihr Ziel ist es, politische Organisation in Marokko zu dezentralisieren, sie unmittelbar an den Bedürfnissen der Lokalbevölkerung zu orientieren und den klassischen politischen Gruppierungen und Parteien die symbolische Strahlkraft zu nehmen. Letztere reagieren auf den Versuch mit Paternalismus: „Wenn ihr nicht politisch seid, was seid ihr dann?“, fragen sie. Die Kritik spiegelt in mancher Hinsicht ein gewohntes Muster der politischen Deligitimation populärer Proteste im (post)kolonialen Kontext wieder: Um gehört zu werden, muss eine Bewegung zuerst dem Verständnis von politischem Bewusstsein der hegemonialen Klassen im Land entsprechen. Dafür braucht es eine „bewusste Führung, ein eindeutiges Ziel und ein klar definiertes politisches Programm“, keine „ziellosen und unorganisierten Gewaltakte“ und einen Bildungsanspruch, der in weiten Teilen der entrechteten Unterschichten nicht gegeben ist.

„Wir sind keine arabischen Frauen!“

Trotz der enormen Resonanz in weiten Teilen der Bevölkerung wurde der Bewegung in den vergangenen Wochen so immer wieder vorgeworfen, zu apolitisch, konservativ oder auch nicht „gender-gerecht“ genug zu sein. Die Proteste würden dominiert durch junge Männer ohne konkrete politische Ausrichtung. Dabei zählen zu den zentralen Leitfiguren der Bewegung auch Aktivistinnen wie Nawal Ben Aissa, die seit Jahren insbesondere in den ländlichen Rif-Regionen Frauen mit Krebserkrankungen unterstützt.

Und das mit gutem Grund. Berberfrauen in ganz Marokko sind heute mit am stärksten von den wirtschaftspolitischen Folgen der Regierungspolitik betroffen. Nicht nur leben viele von ihnen abseits der urbanen Zentren in den abgeschiedensten und strukturschwächsten Regionen des Landes ohne adäquaten Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung. In den meisten Fällen können sie auch nicht lesen und nicht schreiben, sprechen weder Arabisch noch Französisch und können so kaum auf ihre Probleme aufmerksam machen. Zusätzlich wird ihre Stimme durch Organisationen im Zentrum beschnitten, die sich ausschließlich für arabische Frauen einsetzen. „Frauengruppen reden immer von der ‚arabischen Frau’, aber wir sind keine arabischen Frauen – wir haben eine Amazigh-Kultur, -Sprache und -Identität“, meint Amina Zioual. Sie ist Vorsitzende von The Voice of the Amazigh Women, der ersten Organisation des Landes, die sich ausschließlich für die Rechte von Berberfrauen einsetzt.

Zioual ist der Meinung, Berberfrauen befinden sich in Marokko an der Schnittstelle unterschiedlicher Diskriminierungsformen. Nicht nur leiden sie unter den Folgen ökonomischer, ökologischer und patriarchaler Gewalt. In einem Land, in dem Arabisch im öffentlichen Raum weiterhin die Norm ist, sind sie ihrer politischen Stimme gänzlich enthoben. Tamazight, ein sowohl eigener Dialekt als auch Oberbegriff für die in Marokko gesprochenen Berberdialekte, wurde 2011 zwar offiziell als zweite Amtssprache anerkannt. In Wahrheit hat sich aber nicht viel geändert.

Obwohl die durch politische Eliten artikulierte Genderkritik also einerseits gerechtfertigt ist, verfehlt sie de facto ihr Ziel. Ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit und kultureller Autonomie würde das Machtgefüge im Land mittelfristig nämlich auch zugunsten entrechteter Frauen verändern, die sich heute am untersten Ende der Gesellschaftshierarchie befinden. Statt ausschließlich gegen den Sexismus der Unterschicht könnte sich die Kritik außerdem auch gegen die patriarchalen Auswüchse des etablierten politischen Systems richten. Diese wurden schmerzhaft sichtbar, als die Proteste in Al-Hoceima von Frauen angeführt werden sollten. Sicherheitskräfte versuchten zunächst, sie davon abzuhalten, bevor sie die Proteste mit Gewalt stürmten und niederschlugen.

In Rabat konfiszierte die Regierung Land, um es weiterzuverkaufen. Viele der Betroffenen sind Frauen. Soraya El Kahlaoui erzählt ihre Geschichte im Film „Landless Moroccans“, der am 28. September im Rahmen des 15. Afrika Film Festivals in Köln läuft.

Eine Monarchie setzt sich in Szene

In der Volksbewegung Marokkos spiegeln sich außerdem große Teile der modernen Geschichte des Landes wieder: die präkoloniale Ordnung, der europäische Kolonialismus und der postkoloniale Wiederaufbau. Als Marokko 1956 unabhängig wurde, übernahm die neue Regierung die administrativen Strukturen der Kolonialregime. Vor der Kolonialzeit eigenständige Gebiete in der Peripherie, wie beispielsweise das Rif, spielten keine Rolle mehr. „Prozesse der Entscheidungsfindung wurden nun nicht mehr zwischen Zentralgewalt und Peripherie [...] verhandelt, sondern zwischen dem König und den nationalistischen, urban und arabisch geprägten Parteien der Unabhängigkeitsbewegung“, schreibt der Literaturwissenschaftler Elmar Schmidt.

Auch die durch die Kolonialmächte geförderte Identitätspolitik zur „Betonung ethnischer Differenzen“ zwischen Berber*Innen und Araber*Innen mit dem Zweck, die Bevölkerung zu spalten und die eigene Herrschaft zu zementieren, wurde fortgeführt. Die strukturelle Benachteiligung hatte überproportionale Armut, einen hohen Bevölkerungsdruck, die Entstehung kriminalisierter ‚Schattenwirtschaften’ und die legale sowie illegale Migration nach Europa zur Konsequenz. In den sechziger Jahren profitierte auch die Bundesrepublik von der Strukturschwäche der Region und warb gezielt „Gastarbeiter“ aus dem Rif an, die am deutschen Wirtschaftswunder mitarbeiten sollten.

Zwar wurden seit der Thronbesteigung durch Mohammed VI im Jahr 1999 einige Schritte unternommen die kulturelle Autonomie der dortigen Bevölkerungs aktiv zu unterstützt. Grundsätzlich hat sich am hegemonialen Machtgefüge Marokkos aber nicht viel getan. Im Rahmen neoliberaler Umwälzungen wurden in den vergangenen Jahren Ländereien und öffentliche Dienste massiv privatisiert, an europäische Investoren verkauft und die Bevölkerung, besonders in der Peripherie, so zusätzlich prekarisiert.

Indes inszeniert sich Marokko nach außen als zukunftsorientierter, umweltbedachter und moderater Ruhepol in einer unruhigen Region. Im November fand der jährliche Weltklimagipfel COP22 in Marrakesch statt. Eine Referentin für Klima-Risikomanagement schrieb in einem Blog-Beitrag auf Germanwatch.de über die „sonnigen Aussichten“ der Energiewende, „Parabolspiegel soweit das Auge reicht“, sowie die ländlichen Entwicklung in Marokko. Deutsches Know-How sei eine wichtige Inspirationsquelle für die Umsetzung marokkanischer Energieziele.

Gegen diese allzu idealistische Zukunftsvision spricht allerdings, dass die meisten Marokkaner*Innen kaum von Prestigeprojekten wie dem größten thermischen Solarkraftwerk der Welt oder der ersten „grünen Moschee“ des Landes profitieren. „Greenwashing“ wird ein solcher Diskurs genannt und steht in Gegensatz zu den virulenten Ökoproblemen Marokkos. Angefangen bei der Plünderung von Fischgründen entlang der Küste durch europäische Fischereikonzerne, über den Landraub und -verkauf an ausländische Unternehmen bis hin zur Wasser- und Luftverschmutzung: Die Bevölkerung sieht vom „grünen Marokko“ heute noch sehr wenig.

Der Rif: Gegenentwurf einer politischen Utopie

Für Marokkos Volksbewegung ist der Rif heute nicht nur Region, sondern auch Symbol. Hier schlug eine kleine Armee von Widerständlern im Jahr 1921 die spanischen Streitkräfte vernichtend. Im Jahr 1923 wurde sogar vorrübergehend ein eigenständiger, zentral organisierter Staat gegründet: die Rifrepublik. Insofern stellt der Rif bis heute eine Projektionsfläche für die sozio-politischen und wirtschaftlichen Forderungen weiter Teile der marokkanischen Gesellschaft dar. Denn während die politischen Eliten „oben“ den marokkanischen Unabhängigkeitskampf heute zur Eigenlegitimation missbrauchen, stellt die Rifrepublik den Gegenentwurf einer gerechteren politischen Utopie „von unten“ dar. Sie entfaltet eine ungeheure symbolische Kraft und macht es für viele möglich, sich unter widrigen Bedingungen eine bessere Zukunft vorzustellen.

Der Rif wird so zu einem Symbol für die antikolonialen Ambitionen und das Recht auf Selbstbestimmung der gesamten Bevölkerung. Sie finden auch im Protest-Slogan #FreeKoulchi Ausdruck: „Freiheit für Alle“.

 

Quellen:

Do Mar Castro Varela, Maria / Dhawan Nikita. 2005. „Postkoloniale Theorie“. Transcript: Bielefeld.

Schmidt. Elmar. 2015. „Inszinierung des Rifkriegs in der spanischen, hispano-marokkanischen und frankophonen marokkansichen Gegenwartsliteratur: Traumatische Erinnerung, transnationale Geschichtskonstruktion, postkoloniales Heldenepos. Vervuert: Madrid.

Artikel von Mohamed Lamrabet