Es ist kein Zufall, dass die massiven Proteste kurz vor den Parlamentswahlen einsetzen. Hinter den Demonstrationen steckt auch die Angst, dass die Wahlen nicht zu einem repräsentativen Ergebnis führen werden. Aus Kairo berichtet Sarah Wessel
Der Wahlkampf in Ägypten hat begonnen. In vielerlei Hinsicht. Seit Tagen bekämpfen sich Demonstranten, Polizisten und Militär auf dem Tahrir-Platz. Der Präsidentschaftskandidat Mohammed Baradaei und andere einflussreiche Personen kämpfen bis zur letzten Minute darum, dass die Parlamentswahlen, die am 28. November beginnen sollen, verschoben werden. Und auf den Straßen kämpfen die Kandidaten der Parlamentswahlen um den Sieg.
Salafisten, Muslimbrüder, Kommunisten, Jugendgruppen und Liberale werben zum ersten Mal offensiv um Stimmen. 55 Parteien treten an. Alle zentralen Plätze sind inzwischen mit Plakaten verhüllt. Slogans wie »Die Jugend ist Lösung«, »Gerechtigkeit und Freiheit für Ägypten«, »Wir bauen die Zukunft für Ägypten« prangern an den Häusern. Für die Analphabeten, die nach Schätzungen etwa 40 Prozent der Bevölkerung ausmachen, sind auf jedem Plakat Symbole abgedruckt, die ihnen helfen sollen, bei ihrem Gang zur Urne auch den gewünschten Kandidaten anzukreuzen. Die Partei der Muslimbrüder »Freiheit und Gerechtigkeit« wirbt mit einer Waage, die »Partei des Lichts« der Salafisten hat eine Ramadanlampe als Erkennungszeichen, aber auch Äpfel, Kanonen, Chips, Weintrauben und Fußballtore dienen als Zeichen der Wiedererkennung. Die »Allianz zur Vervollständigung der Revolution« konnte die ehrwürdigen Pyramiden abgreifen.
Trotz der Versuche, auch die ungebildeten Schichten mittels solcher Methoden in die Kampagnen mit einzubeziehen, ist die Verunsicherung über die Parlamentswahlen groß – vor allem in Bezug auf die Frage, inwieweit das kommende Parlament repräsentativ sein kann. Dies hängt mit unterschiedlichen Faktoren zusammen.
Auf dem Land haben die alten Kader noch enormen Einfluss
Erst seit kurzem steht das Wahlsystem endgültig fest. Inzwischen hat man sich auf ein System geeinigt, dass eine Listenwahl mit einer Personenwahl verbindet, ähnlich wie in Deutschland. Tatsächlich ist das System auch von deutschen Experten beeinflusst, die vor einigen Monaten nach Ägypten gereist sind, um die Regierung und die hohe Wahlkommission zu beraten.
Insgesamt besteht das Parlament aus 498 Sitzen, ein Drittel davon setzt sich aus Individualkandidaten zusammen, zwei Drittel werden über die Parteilisten besetzt. Insbesondere die neu gegründeten Parteien von der liberalen Seite haben sich vehement für ein Listensystem ausgesprochen, um zu verhindern, dass sich bestimmte Individuen ihre Position erkaufen können und dass Kandidaten, die zur Regierung Mubaraks gehört haben, erneut antreten.
Die so genannten »Fulul«, die »Schwänze« oder Reste des alten Systems, haben vor allem in Oberägypten aber auch in fast allen ländlichen Umgebungen immer noch enormen Einfluss, da hier Familiennetzwerke und tribalen Strukturen sehr stark ausgeprägt sind. Es wird befürchtet, dass aufgrund dessen in diesen Gegenden die Fulul, das Symbol des alten Regimes, die Macht übernehmen könnten. Jugendgruppen veröffentlichen seit Wochen Listen mit den Namen der Fulul. Alaa al-Aswany, der Schriftsteller des international erfolgreichen Romans »Das Haus Yacoubian«, hat auf seiner Facebook-Seite den Link »Fang-die-Fulul« eingerichet, mit dem die Facebook-Nutzer auf die Politiker des alten Regimes aufmerksam machen können.
Die Bauernquote aus Nassers Tagen wurde beibehalten
Erst seit wenigen Wochen steht die Einteilung der Wahlkreise fest. Die konkrete Einteilung ist entscheidend für die Frage, wo die Parteien als Parteien auftreten und in welchen Bezirken sie eher auf Individualkandidaten setzen. Eine weitere Besonderheit des Wahlsystems, das noch aus der Zeit des ehemaligen Präsidenten Gamal Abdul Nasser stammt, ist die 50 Prozent-Quote für Bauern. Jeder Wähler ist daher verpflichtet, eine seiner beiden Stimmen für Individualkandidaten einem Bauern zu geben.
Seit einigen Monaten haben verschiedene Parteien Koalitionen gebildet, die im Wahlkampf antreten. Die Koalitionsbildung hat bis vor kurzem angedauert und hatte sich ständig verändert. Inzwischen dominieren vier Koalitionen. Die »Demokratische Allianz« startete im Juli mit einer breiten Koalition aus 34 liberalen, linken und islamischen Parteien und zerbrach aufgrund seiner ideologischen Differenzen. Inzwischen besteht sie nur noch aus elf Mitgliedern, wobei die Partei der Muslimbrüder »Freiheit und Gerechtigkeit« federführend ist. Alle anderen islamischen Parteien haben die Koalition verlassen und Ende September die »Islamische Koalition« gegründet.
Der »Ägyptische Block« ist die bedeutendste liberale Koalition und besteht inzwischen nur noch aus drei Parteien von ursprünglich 14. Hier ist vor allem die »Partei der freien Ägypter« dominant, die von Naguib Sawiris, einem koptischen Ägypter und einem der reichsten Männer im arabischen Raum gegründet wurde. Die jüngste Koalition wurde im Oktober beschlossen: die »Allianz zur Vervollständigung der Revolution«. Diese wurde vor allem aus verschiedenen Jugendbewegungen heraus initiiert, da diese sich von den anderen Parteien und Koalitionen nicht ausreichend repräsentiert fühlten. Sie besteht daher vor allem aus Jugendbewegungen, aber auch aus linken Parteien, moderaten islamischen Parteien und der Partei der Sufis.
Die Koalitionen und die damit verbunden die Wahllisten werden von den Parteien »angeführt«, die auf die größten finanziellen Ressourcen zurückgreifen können. Bei der »Demokratischen Allianz« ist dies die Partei der Muslimbrüder, beim »Ägyptischen Block«, die »Partei der freien Ägypter« und bei der »Islamischen Koalition« die »Partei des Lichts« der Salafisten. Bei der »Allianz zur Vervollständigung der Revolution« ist dies die »Sozialistische Allianz-Partei«, die auch als einzige eine Parteilizenz hat.
Parteien setzen auf Personen statt Programme
Dieser Trend reflektiert die schwierige Finanzierungssituation der meisten – überwiegend neu gegründeten – Parteien und spiegelt sich auch sehr deutlich in den Straßen wieder: Während die »Demokratische Allianz« mit der Partei der Muslimbrüder ausgesprochen stark das Straßenbild dominiert, findet man von der »Allianz zur Vervollständigung der Revolution« lediglich ab und zu ein Plakat und dies auch erst seit wenigen Tagen. Die »Partei der freien Ägypter« von Naguib Sawiris hingegen gehörte zu den ersten, die überhaupt Plakate aufhängten und dies nicht einfach am Straßenrand, sondern an exponierten Orten wie an Hochhäusern und an Schnellstraßen.
Trotz dieses Aufgebots sind die potentiellen Wähler stark verunsichert. Selbst die gebildeten Ägypter haben Probleme, das Wahlsystem zu verstehen und viel Zeit bleibt nicht mehr. Auf YouTube kann man indes Videos beispielsweise von Qabila TV ansehen, die auf humorvolle Art versuchen, das Wahlsystem näher zu bringen und auch bereits von mehreren hunderttausend Benutzern angesehen wurden. Viele beklagen sich darüber, dass sie durch die Namensgebung der Parteien verwirrt sind, da viele ähnlich klingen. Letztlich ist den meisten das Programm der Parteien nur wenig geläufig und die, die es gelesen haben, beklagen sich darüber, dass sie sich entweder insbesondere im Fall der liberalen Parteien stark ähneln oder dass sie so allgemein sind, dass sie keine Aussagekraft haben.
Daher wundert es nicht, dass viele der Parteien tendenziell um bekannte Persönlichkeiten herum gebaut sind und die Kampagnen darauf setzen, dass die Parteien mit diesen Namen verbunden werden. Beispielsweise tritt in einem Werbespott Naguib Sawiris an vorderster Front auf, obwohl er offiziell keinen Posten in der Partei bekleidet. Ebenso wirbt der gleichnamige Neffe des ehemaligen Präsidenten Anwar As-Sadat vor allem mit seinem Namen für seine Partei »Reform und Entwicklung«.
Der Militärrat bleibt einen konkreten Zeitplan schuldig
Es scheint, dass sich viele der liberalen Parteien trotz relativ einheitlicher Programme nicht zusammentun, weil sie gerade auf die Bekanntheit einzelner Personen setzen. Die »Allianz zur Vervollständigung der Revolution« versucht mit politischen Aktivisten, die sich während der Revolution einen Namen gemacht haben, zu werben. Sie werden auf den Wahlplakaten inmitten von Demonstranten auf dem Tahrir gezeigt und sind damit die einzigen, die nicht nur statische Fotos von den Kandidaten abbilden. Die religiösen Gruppen, die sich zu Parteien formiert haben, haben es indes nicht nötig, einzelne Personen in den Vordergrund zu stellen, sondern betonten eher die Einheit ihrer religiösen Bewegungen.
Viele Ägypter fürchten aufgrund dieser Strukturen, dass das kommende Parlament nicht »wirklich« repräsentativ sein kann, dass sich diejenigen Parteien durchsetzen, die von reichen und einflussreichen Personen unterstützt werden, dass auf diese Art letztlich auch die Parteigänger des alten Systems gewinnen oder dass Parteien mit religiösen Gruppen im Hintergrund viele Stimmen erhalten werden, da sie bereits länger bestehen und besser organisiert sind. Darum fordern verschiedene politische Kräfte wie Präsidentschaftskandidat Mohammed al-Baradaei, der Schriftsteller Alaa Al-Aswany und Journalistin Sakina Fouad die Verschiebung der Parlamentswahlen und setzen sich dafür ein, zunächst Wahlen für ein verfassungsgebendes Komitee zu veranstalten und Präsidentschaftswahlen abzuhalten.
Es sind nicht zuletzt diese Verwirrungen und Unklarheiten, die angesichts der unmittelbar bevorstehenden Wahlen in einer enormen Verunsicherung mündeten und letztlich die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz in Kairo und in anderen Städten Ägyptens auslösten. In den Augen vieler Demonstranten dienen die genannten Strukturen der beabsichtigten Stärkung des Militärrats und sie wollten eine Garantie haben, dass dieser die Situation nicht ausnutzen würde. Statt verbal auf die Forderungen nach einem konkreten Zeitplan zu reagieren, sind Polizei und Militär den Demonstranten mit Gewalt begegnet. Sie wollten Stärke beweisen und zeigen, dass sie in der zunehmend angespannten Sicherheitssituation die Kontrolle haben, insbesondere auch in Hinsicht auf die befürchteten Ausschreitungen während der Stimmabgabe für die Parlamentswahlen. Das Ergebnis ist genau das Gegenteil.