29.12.2017
Proteste in Irakisch-Kurdistan: „Wir holen uns unsere Würde zurück“
Proteste in Sulaimaniyya. Foto: Privat.
Proteste in Sulaimaniyya. Foto: Privat.

Ausstehende Löhne, schlechte Energieversorgung und steigende Unzufriedenheit mit der Kurdischen Regionalregierung sind Auslöser der Proteste in Irakisch-Kurdistan, es kommt zu Toten. Wie nehmen KurdInnen im In- und Ausland die Demonstrationen wahr? Versuch eines Stimmungsbilds.

Als Außenstehende ist es schwer, sich einen Überblick über die aktuellen Ereignisse in Irakisch-Kurdistan zu verschaffen. Da die kurdische Medienlandschaft nicht gerade von Propaganda befreit ist, bleibt gewöhnlich nur der Griff zum Telefon, um alle Bekannten durchzurufen und so zu versuchen, ein klareres Bild von der Situation vor Ort zu bekommen. Hitzig laufen auch die Diskussionen in sozialen Medien. Die Reaktionen sind – gelinde gesagt – unterschiedlich. Immer mehr KurdInnen in der Diaspora zeigen sich solidarisch, machen sich aber gleichzeitig Sorgen. Jene in Kurdistan sind kämpferisch, auch wenn die Angst kaum zu überhören ist. Die Strategie der DemonstrantInnen und die Reaktion der Behörden lassen alle ratlos zurück.

Tote und Verletzte bei Ausschreitungen

Sowohl in der Provinzhauptstadt Sulaimaniyya als auch in den umliegenden Städten Ranya, Halabja, Chemchamal, Qaladze und Koysinjaq kommt es am 19. Dezember zu Demonstrationen und Protesten gegen die Kurdische Regionalregierung. Aus mehreren Städten werden Ausschreitungen und Zusammenstöße gemeldet, einige Proteste eskalieren. In Ranya, einer Kleinstadt nördlich von Sulaimaniyya, werden Büros der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Islamischen Union in Brand gesteckt und das Rathaus besetzt. Die Regionalregierung reagiert mit – selbst für ihre Verhältnisse – harten Maßnahmen. Bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften werden fünf Menschen getötet und mehr als 70 weitere verletzt. Die Sicherheitskräfte verstärken ihre Präsenz in den betroffenen Städten.

„Wohin soll das alles führen? Jede Woche kommt etwas Neues auf uns zu. Zuerst ein Referendum, das uns spalten soll, dann ein Erdbeben und jetzt Proteste… Wie viel sollen wir noch ertragen? Möge Gott uns schützen“, schreibt Snur auf Facebook, als die Demonstrationen beginnen. Kawa kommentiert prompt: „Es reicht, wir holen uns unsere Würde zurück. Alle Macht dem Volk!“ Kawa wiederholt jene Parolen, die quer über die Provinz Sulaimaniyya und in Teilen der Provinz Erbil gerufen werden.

Doch bereits am zweiten Tag stehen auf wichtigen Knotenpunkten in der Stadt Sulaimaniyya Wasserwerfer, Panzerwagen und schwer bewaffnete Polizisten. Viele der Geschäfte bleiben geschlossen. Die Polizei nimmt mehrere DemonstrantInnen fest und Personen, die mit den Protesten in Verbindung gebracht werden. Der als neutral geltende TV-Sender NRT, der von keiner Partei abhängt und daher beliebt ist, wird von einer Sekunde auf die nächste gesperrt. Shaswar Wahid, Gründer von NRT und eine der führenden Persönlichkeiten der „Nein-Kampagne“ während des Referendums, wird festgenommen.

„Wir saßen vor dem Fernseher und plötzlich war alles schwarz. Anfangs dachten wir, der Empfang fällt aus, bis wir dann über soziale Medien erfahren haben, dass der Sender abgedreht wurde“, erzählt der 19-jährige Hama, der mit seiner Familie in Rotterdam lebt. Sein älterer Bruder Omar ergänzt: „Es ist wirklich schade, welche Signale die kurdische Regierung aussendet. Wie oft habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, zurück zu gehen und mir dort etwas aufzubauen. All diese Träume wurden in den letzten Tagen im Keim erstickt.“

Kein Geld, kein Strom, kein Wasser

„Wir haben sie bei diesem Referendum unterstützt. Wir wollten einen eigenen Staat. Was haben wir bekommen? Panzer, Haftstrafen und korrupte Politiker, während wir hier verhungern. Wie lange soll ich mir das gefallen lassen, was habe ich verbrochen?“, schreibt die 26-jährige Nariman, die als Lehrerin schon seit einem Jahr gemeinsam mit ihren KollegInnen Streiks organisiert. MitarbeiterInnen des öffentlichen Diensts erhalten seit zwei Jahren nur alle vier Monate ein Monatsgehalt. Die Einnahmen der Region Irakisch-Kurdistan sind auf einem Rekordtief, der Regierung fehlt das Geld, um die Bevölkerung auszuzahlen. Die ausstehenden Löhne und die damit einhergehende schlechte wirtschaftliche Situation sowie die mangelhafte Energieversorgung haben die Proteste ausgelöst.

Während seit knapp zwei Jahren die Löhne sinken, steigen die Preise für Kraftstoffe, Immobilien und Dienstleistungen im Gesundheitswesen. Die Stromversorgung läuft nur vier Stunden am Tag, Leitungswasser kommt je nach Saison alle drei Tage – mit regionalen Unterschieden, in der Provinz Erbil gelingt die Versorgung ein bisschen besser. Hinzu kommt eine aufgestaute Wut und Unzufriedenheit mit der Kurdischen Regionalregierung, die als korrupt gilt und die die DemonstrantInnen deshalb zum Rücktritt auffordern. „Wir müssen etwas tun, sonst verlieren wir noch den Respekt vor uns selbst“, erklärt Rahel, 34-jähriger Diplomingenieur, warum er die Proteste unterstützt.

Was ist morgen?

Die autoritäre Reaktion der Regierung versetzt viele in Angst, die Enttäuschung ist groß. Die brutale Vorgehensweise in Rania wird besonders scharf kritisiert. „Ausgerechnet in Rania töten sie unsere Leute. Schämen sie sich nicht?“, empört sich die 58-jährige Dilnya. Die Kleinstadt stellt einen wichtigen Ort in der jüngeren kurdischen Geschichte dar, da dort am 5. März 1991 der Aufstand der kurdischen Peshmerga gegen das Baath-Regime unter Saddam Hussein in Bagdad begonnen hat. „Heute tötet ihr fünf. Und morgen, was ist morgen?“, fragt die Studentin Hewri. So sehr die Proteste den Kampfgeist wiederbelebt haben, so sehr hat auch die brutale Vorgehensweise der Sicherheitskräfte die KurdInnen eingeschüchtert.

Gleichzeitig erheben KritikerInnen ihre Stimmen: „Ich verstehe das nicht. Haben wir denn damals so die Kämpfe gewonnen? Haben wir mit Steinen um uns geworfen und randaliert? Soll das unser Vermächtnis sein?“, fragt der 67-jährige Sangar. Die Proteste wirken unorganisiert und ineffektiv, auch die Eskalationen sind für viele fragwürdig. Seit einigen Tagen scheint wieder Ruhe eingekehrt zu sein. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation entwickelt, die Lage ist angespannt und nach wie vor undurchsichtig.

Artikel von Lire Raouf