Das Ende des Gaddafi-Regimes bestimmt die Kommentarspalten der arabischen wie israelischen Presse, in denen die ungewisse Zukunft des Landes und seiner neuen Führung deutlich werden. Kritisch sehen die arabischen Medien die Rolle des Westens.
Auch wenn Gaddafi gestürzt sei und nicht mehr an die Macht zurückkehren werde, gehe weiterhin eine Gefahr von ihm aus, warnt Abdel Bari Atwan, Herausgeber der in London erscheinenden Zeitung al-Quds al-Arabi. Der gestürzte Despot sei jetzt von allen Bürden des Staates befreit und habe nun kein Hauptquartier mehr, das zum Ziel für Angriffe der Nato und der Rebellen werden könne. Zweitens sitze Gaddafi »auf einem Geldberg«, den er nicht dazu aufwänden müsse, Gehälter zu bezahlen, sondern einzig um die neue Staatsführung zu sabotieren. In der Vergangenheit habe der Diktator oft genug beweisen, wozu er im Stande sei.
Gaddafi habe sich seit Monaten auf die Phase nach seinem Sturz vorbereitet, vermutet Atwan. So sei auch zu erklären, dass die Rebellen ohne größere Gegenwehr die Festung Bab al-Aziziyah sowie die Fernseh- und Radiostationen in Tripolis einnehmen konnten. Der gestürzte Führer wolle die Nato und die Rebellen in eine Falle locken und Libyen in einen gescheiterten Staat verwandeln. »Gaddafi setzt auf die Mitglieder seines Stammes und die verbündeter Stämme, genauso wie er auf die afrikanischen Staatsmänner und ihre Völker setzt, nachdem ihn seine arabischen Amtskollegen während der Belagerung im Stich ließen. Wir können die Erfolgsaussichten dieser Taktik nicht beurteilen, aber wie beobachten, dass sich die meisten afrikanischen Länder bisher weigern, den Übergangsrat anzuerkennen.«
Atwan erinnert zudem an das Beispiel Afghanistan. Auch dort sei es dem Westen und seinen Verbündeten gelungen, die Taliban schnell zu vertreiben. Nun, zehn Jahre später würden USA und Großbritannien mit den Taliban über eine Beteiligung an der Macht verhandeln. »Eine Wiederholung dieses Falls hängt von der Arbeit des Übergangsrats ab und seiner Fähigkeit, dem Land Sicherheit zu bringen, sowie einen neuen Staat auf der Grundlage von Demokratie und Gerechtigkeit aufzubauen.« Doch nicht nur das auf Gaddafi ausgesetzte Kopfgeld wecke Zweifel am Übergangsrat, konstatiert Abdel Bari Atwan.
»Algerien wird seiner Rolle nicht gerecht«
Einen anderen Aspekt beleuchtet die algerische Tagszeitung al-Khabar in ihrem Leitartikel. »Wo sind wir?«, fragt das Blatt mit Hinblick auf die Ereignisse im Nachbarland und kritisiert, dass die Regierung in Algier keine Stellung beziehe. Die Türkei hingegen, die eine Nato-Intervention in Libyen zunächst abgelehnt hatte, habe schnell die Zeichen der Zeit erkannt und unterstütze nun den Übergangsrat, um ihre eigenen Interessen zu schützen. Algerien hingegen verhalte sich ähnlich wie Sambia, Kamerun und Südafrika und verstecke sich hinter den afrikanischen Staaten, obwohl alle Entwicklungen in Libyen Algerien direkt positiv oder negativ beeinflussten. »Es ist unvernünftig wenn in Libyen das Regime stürzt und durch ein neues ersetzt wird, ohne dass Algerien seine Meinung dazu äußert.« Das Land werde damit seiner Rolle nicht gerecht, so der Tenor.
»Der Sturz des Königs der Könige von Afrika« – So überschreibt Osama Ghazali Harb seinen Kommentar für Ägyptens Zeitung al-Ahram. Schon dieser Titel beschreibe die Ignoranz und Tyrannei, die Muammar al-Gaddafi ausgemacht habe. Es sei ein großes Unglück gewesen, dass Gamal Abdel Nasser damals Gaddafis Revolution 1969 begrüßt habe, kritisiert der Autor, während der Diktator mit seinem Schreckensregime tausende libysche Intellektuelle ins Exil getrieben habe. Gaddafi habe eine lange Liste an Verbrechen begangen die nun aufgearbeitet werden müsse. »Nicht nur er muss verurteilt werden, sondern alle die mit ihm am korrupten, autoritären System beteiligt waren.«
Sati Nur ad-Din fragt in seinem Kommentar für die libanesische Tageszeitung al-Safir nach der Bedeutung des Umsturzes in Libyen für den Arabischen Frühling nach. »Der Fall Libyen ist einzigartig und wird sich so in keinem anderen arabischen Land wiederholen«, konstatiert Nur al-Din, schließlich »stützt sich die Revolution auf kein Lehrbuch«. Dennoch betont er die »Inspiration der Kasbah von Tunis und des Tahrir-Platzes, die selbst die nicht-arabische Jugend erfasst hat, ebenso wie die Jugend in Syrien und im Jemen – und in Zukunft auch die junge Generation am Golf, auch wenn das noch eine Weile dauern wird.«
»Wichtige Lektionen für die Despoten der Region«
Doch Nur ad-Din warnt: »Die Libysche Revolution ist die schwierigste, komplexeste und gefährlichste von allen«, denn sie biete zwar neuen Schwung für die Protestbewegungen, liefere aber auch »wichtige Lektionen für die Despoten der Region«. Gaddafi, so mutmaßt der Kommentator, habe vor der äußeren Bedrohung von Staat und Nation gewarnt und spekulierte darauf, dass »der Westen demselben Modell wie Irak« folgen würde – durch ausländische Besatzung und Verwaltung. Die Rechnung sei zwar nicht aufgegangen, dennoch habe der Erfolg der Libyschen Revolution die Zweifel an den amerikanischen Intentionen in der Region nicht zerstreuen können. »Das was im Irak und Palästina zunichte gemacht wurde, kann in Libyen nicht einfach wettgemacht werden.«
Noch sehr viel kritischer beurteilt Baschir al-Baker von der linken libanesischen Tageszeitung al-Akhbar die Rolle des Westens in seinem Kommentar. Zwar hätten die USA nach dem Sicherheitsdesaster im Irak und Afghanistan »ihre Prioritäten verschoben, aber ihr Projekt nicht aufgegeben«. Den autoritären Regimen in der Regime bescheinigt Baker, daraus die falschen Schlüsse gezogen zu haben. »Nach dem Sturz von Saddam Hussein hätten sie wissen müssen, dass auch sie irgendwann an der Reihe sein würden. Aber sie haben sich zurückgelehnt und auf ihre vermeintliche Stabilität und Sicherheit gezählt.« Damit hätten sie ganz von alleine die Voraussetzungen für ausländische Interventionen geschaffen.
Auf diesen Zug, so die Lesart al-Bakers, springt die NATO nun auf, um die alte Interventionspolitik neu zu definieren – und die Protestbewegung zu kooptieren. »Wie immer Kontext und Motive geartet sind, jetzt existiert eine Grundlage, auf der Aufstände im Innern und auswärtige Agenden zu einem Ziel zusammenführen: Regimewechsel.« Mit dem Nato-Einsatz in Libyen sei somit ein Präzedenzfall gesetzt worden. Im Gegensatz zum Irak »bietet das libysche Modell eine klare Alternative dafür, was die Region erwartet. Sollten die Regime ihre Krisen nicht lösen können, droht ihnen auswärtige Intervention«, so al-Baker.
Oded Granot, ein Dinosaurier der israelischen Berichterstattung über die arabische Welt, blickt mit der realpolitischen Brille auf die jüngsten Ereignisse in Libyen und die Rolle, die die Nato dabei spielte. Er kommentiert: »Der militärische Sieg ist süß, kam relativ schnell und mit minimalen Verlusten – aber er wird noch Kopfschmerzen bereiten.«
Ähnlich wie nach dem Sturz Saddam Husseins im Irak liege nun ein »langer Weg des Leidens« vor dem libyschen Volk, »bis eine stabile Regierung existieren wird«. Als Haupthindernis bis dahin sieht Granot »das Mosaik der 140 Stämme, großen und kleinen, von denen einige miteinander in Konflikt stehen«. Zwar sei »unstrittig, dass Gaddafi nach 42 Jahren an der Macht nun gehen müsse«, zumal er »ein totaler Idiot« gewesen sei, aber bis Libyen »ein modernes, freies und progressives« Land sei, werde es wohl noch lange dauern, meint Granot.
Boaz Bismuth vom Massenblatt Israel Hajom geht in seinem Kommentar auf eine Zeitreise. »Das Jahr 1969 war ein ereignisreiches«, schreibt er. »Die Boeing 747 hatte ihren Jungfernflug, Golda Meier wurde die erste Frau im israelischen Ministerpräsidentenamt, Richard Nixon kam in Washington an die Macht, Georges Pompidou in Paris. Im selben Jahr lagen John Lennon und Yoko Ono gemeinsam vor der Kamera im Bett, die Beatles hatten ihren letzten Auftritt und Gaddafi übernahm die Macht in Libyen.«
»Die Einheit der Rebellen ist nicht weniger fragil, als die der arabischen Regenten«
Dieses Jahr, so Bismuth, sei wieder ein besonderes Jahr. »Die Weltordnung wird nicht mehr von Washington aus vorgegeben. Stattdessen vom Tahrir-Platz in Kairo und dem Grünen Platz in Tripoli. Ben Ali, Mubarak und nun Gaddafi, die uns über so viele Jahre begleitet haben, mussten die Bühne verlassen. Jemens Präsident Ali Abdullah Saleh ist nach Saudi-Arabien geflohen, Baschar al-Assad kämpft um die Macht. Wer hätte gedacht, dass dieser Tag einmal kommen würde?«
Aber ob der Sturz Gaddafis ein Grund zur Freude ist, lässt Bismuth offen. »Fundamentalistische Islamisten lauern an der Ecke und könnten durch ihren Ruf nach Vergeltung Blutbäder provozieren. Es könnte gut sein, dass diejenigen, die geholfen haben Gaddafi zu stürzen, ihn bald vermissen werden. Denn die Einheit der Rebellen ist nicht weniger fragil, als die der arabischen Regenten.«
»Es gibt keinen Grund zu feiern«, meint sein Kollege Dan Margalit. »Vor 42 Jahren, als ich für die Haaretz als junger Journalist anfing, habe ich einen hochrangigen israelischen Diplomaten zitiert, der davon ausging, dass Muammar al-Gaddafis Coup gegen König Idris Israel nützen könnte. Am nächsten Morgen bekam ich einen Telefonanruf aus dem Büro des Ministerpräsidenten: ›Welcher Idiot hat ihnen das gesagt?‹ wurde ich gefragt. Die Zeit hat gezeigt, dass meine Quelle wirklich ein Idiot war«, schreibt Margalit.
All jene romantischen Linken in Israel, so Margalit, die meinen, vom »Arabischen Frühling mit Hoffnung und Inspiration erfüllt werden«, täuschten sich. Sie sollten sich vielmehr die berühmten Fabeln von Ivan Krylow zu Gemüte führen. »Ein Esel klagt darin stänid über die harte Arbeit, die sein Besitzer von ihm verlangt. Der hat keine Lust mehr und verkauft den Esel eines Tages – an einen Pelzhändler.« Die Revolution in Libyen, endet Margalit, gleiche einem »Tsunami, einem Taifun«, von dem keiner wisse, was er verwüsten wird.