05.06.2020
„Niemand weiß um die Folgeschäden.“ - Ein Interview mit Ali Ergül
Ein Bewohner Hasankeyfs nimmt Abschied, Februar 2020. Foto: Hasan Açan.
Ein Bewohner Hasankeyfs nimmt Abschied, Februar 2020. Foto: Hasan Açan.

Ali Ergül ist Aktivist und Dokumentarfilmer in Hasankeyf. Er hat den Bau des Ilısu-Staudamms begleitet, der in der Südosttürkei im Tigris-Tal große Landstriche überflutet hat. Dis:orient hat mit ihm gesprochen.

Im Südosten der Türkei liegt Hasankeyf, ein kleiner Ort im Tigris-Tal, umgeben von historischen Stätten. Dort siedelten sich in den letzten 12.000 Jahren 20 verschiedene Hochkulturen an und schufen ein umfangreiches Kulturerbe. Jahrelang wurde Hasankeyf vom Ilısu-Staudamm bedroht, einem Mega-Projekt der türkischen Regierung, das ein Gebiet von 300 Quadratkilometern im Tigris-Tal fluten wird. Ankara dient das Mega-Projekt offiziell zur Stromgewinnung. Doch die Regierung verspricht sich davon auch, geostrategische Interessen gegenüber dem Irak geltend zu machen.

Lokale und internationale Aktivist*innen und Expert*innen riefen immer wieder zum Protest gegen das Damm-Projekt auf; eine Klage am Europäischen Gerichtshof scheiterte noch 2019. Ali Ergün war jahrelang Teil des lokalen Widerstands und veröffentlichte 2017 einen Dokumentarfilm über den Ort Hasankeyf, der nun beinahe vollständig unter den Wassermassen des Ilısu-Staudammes begraben ist.

Ali, kannst Du uns kurz erzählen, wie die aktuelle Situation in Hasankeyf aussieht und wie weit die Überflutung fortgeschritten ist?

Hasankeyf war bis zu seiner Überflutung ein Zeugnis der Geschichte des Tigris-Tals. Die Zerstörung begann, als Teile der historischen Festung Hasankeyfs für den Bau des Ilısu-Staudamms mit Dynamit gesprengt wurden. Ab 2017 wurden dann das Grab von Zeynel Bey und sechs weitere historische Denkmäler von ihren Standorten entfernt und in einem neu angelegten Museumspark wieder aufgebaut. Die Zerstörung durch das gestaute, stetig höher steigende Wasser begann dann im Juli 2019. Knapp ein Jahr später stehen heute mindestens 80 der 199 Dörfer im Flutungsgebiet vollständig unter Wasser - von der Altstadt von Hasankeyf sind gerade noch die Dächer von drei Gebäuden sichtbar. Zehntausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen.

 Hasan Açan

Wann haben die Menschen in Hasankeyf und die breitere türkische Öffentlichkeit zum ersten Mal von den Plänen gehört? Von wem und wann kam Widerspruch?

Die ersten Pläne für den Ilısu-Staudamm stammen aus den 1930er-Jahren, die allerdings bis in die 1980er-Jahre nicht umgesetzt wurden. Als dann Bewegung in das Projekt kam, gründete sich Anfang 1988 die erste Anti-Damm-Bewegung. In den folgenden Jahren fanden Demonstrationen und Veranstaltungen statt und spätestens ab den 2000er-Jahren bekam das Thema Hasankeyf und die Zerstörung des Tigris-Tals durch die Kampagnen auch international Beachtung.

Auch die Akteure des Widerstands wurden mit der Zeit immer diverser. Im Jahr 2006 gründeten 86 NGOs gemeinsam die „Initiative to Keep Hasankeyf Alive“ (Hasankeyf’i Yaşatma Girişimi), eine Art Komitee das von da an viele Protestaktionen koordinierte. Neben Institutionen schlossen sich auch viele Künstler*innen dem Bündnis an. Dank der vermehrten internationalen Aufmerksamkeit in den letzten 20 Jahren  gingen noch letztes Jahr Menschen in 35 Ländern weltweit am selben Tag gegen das Staudammprojekt auf die Straße und folgten damit dem Aufruf der „Initiative to Keep Hasankeyf Alive“. Aber leider reichte auch die internationale Solidarität nicht aus, um das Projekt zu stoppen.

Auch wenn der Protest gegen das Projekt jetzt kleiner geworden ist, ist es beeindruckend, dass er seit 32 Jahren andauert. Die von uns Aktivist*innen vor einem Jahr in Istanbul gegründete Hasankeyf-Koordination (Hasankeyf Koordinasyonu) versucht auch jetzt noch eine Anti-Damm-Bewegung aufrechtzuerhalten und zu mobilisieren. Ich wünsche mir, dass wir unsere Aktivitäten und die Dokumentation der Zerstörung zusammenführen und als Geschichte der 32 Jahre Aktivismus für Hasankeyf visualisieren. Es ist auch für zukünftige Proteste und Anklagen wichtig, dass wir jetzt weiterhin alles gut dokumentieren.

Gab es einen Dialog zwischen der Regierung und den Menschen vor Ort? Wurden die Gründe für die Überflutung gerechtfertigt?

Nein. Das Projekt wurde umgesetzt, ohne die Leute vor Ort zu konsultieren. Die Anwohner*innen wurden nie von Regierungsbehörden kontaktiert. Ihre Häuser und Grundstücke wurden unter Zwang und zu einem sehr geringen Preis gekauft oder direkt beschlagnahmt. Auf die Forderung nach der Sicherung noch unentdeckter archäologischer Stätten im Flutungsgebiet wurde nur mit symbolischen Rettungsgrabungen reagiert. Es wurde außerdem keine Umweltverträglichkeitsprüfung des Projekts vorgenommen, sodass niemand weiß, welche Folgeschäden der Damm verursachen wird. Es ist unsere Aufgabe als Aktivist*innen, diese offenen Fragen zu klären.

Waren die Proteste explizit nur auf Hasankeyf bezogen, oder sind sie Teil einer größeren Umweltbewegung in der Türkei?

Hasankeyf ist immer als ein Teil des Tigris-Tals zu verstehen, sowohl als Ökosystem, als auch im historischen Sinne. Das Tal ist ein riesiges Gebiet, auf dem alle Völker ihre Spuren hinterlassen haben. Insofern sind die Proteste ganz speziell auf diesen Landstrich bezogen. Das Besondere an Hasankeyf war außerdem, dass es seit tausenden von Jahren ununterbrochen besiedelt war. Dieser Ort wird jetzt zerstört, die Zeugnisse der Völker der Welt werden überflutet. Es ist ein Projekt einer wirtschaftlichen und ökologischen Zerstörung.

 Hasan Açan

Wo leben die Bewohner*innen von Hasankeyf heute? Wie wurden sie für ihre Verluste entschädigt?

Vor der Flutung lebten ungefähr 3500 Menschen direkt in Hasankeyf. Für die Flutung wurde ein besonderes Neuansiedlungsgesetz beschlossen, welches vorsah, die vertriebenen Menschen in der Nähe neu anzusiedeln. Dafür ließ die türkische Regierung 750 Häuser bauen, aber trotzdem kann nicht von Kompensation gesprochen werden. Einerseits wurden viele Menschen willkürlich vom Erwerb der Neubauten ausgeschlossen, so zum Beispiel unverheiratete Menschen. 

Und andererseits machten diejenigen, die eins der neuen Häuser erwerben konnten, ein Minusgeschäft. Da ihre alten Grundstücke und Häuser zum Mindestpreis an den Staat verkauft werden mussten, waren die Neubauten für sie drei- bis viermal teurer als ihr alter Besitz. Hinzu kommt, dass die Menschen durch die Flutung seit ungefähr einem Jahr keine Einkommen mehr aus dem Tourismus haben. Dadurch wurde vielen Menschen, die nicht gerade Großgrundbesitzer*innen sind, die Lebensgrundlage genommen. Der Staat unternimmt nichts, um ihre Situation zu verbessern.

Gab es sowas wie einen kollektiven Abschied?

Leider gab es keinen gemeinsamen Abschied, insbesondere aufgrund des Ausbruchs des Corona-Virus. Doch ein öffentlicher, kollektiver Abschied wäre auch ohne Corona nicht möglich gewesen. Seit Monaten gibt es in der Stadt ein willkürliches Verbot der Berichterstattung. Nachdem das Wasser die historische Stadt erreicht hatte, begannen viele Menschen, sich von der Stadt zu verabschieden. Aber das waren keine gut organisierten Abschiede. Ich denke, dies ist ein Beispiel dafür, wie der Staat den Menschen systematisch ihre Rechte nimmt.

Was kann aus dem Fall Hasankeyf gelernt werden?

Ich denke, wir haben den Kampf, der seit 32 Jahren geführt wurde, verloren. Ich meine das nicht nur negativ. Wir müssen dies akzeptieren, um den Kampf wieder zu verstärken. NGOs, Kommunen und unabhängige Aktivist*innen konnten die Zerstörung durch den Damm bisher nicht deutlich genug machen. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass wir Aktivist*innen selbst das Problem nicht ganzheitlich gesehen haben. Die Umweltaktivist*innen haben die kulturelle und historische Bedeutung Hasankeyfs nicht erkannt und wir übrigen Aktivist*innen nicht das Ausmaß der Umweltzerstörung.

Als das Wasser anstieg und wir die Zerstörung konkret gesehen haben, mussten wir erkennen, dass unser Aktivismus zu kurzsichtig war. Ökologische Zerstörung ist ein globales Problem. Daher muss auch der Kampf global sein. Wir sehen jetzt, dass die Zerstörung durch den Ilısu-Staudamm viel, viel größer ist, als wir dachten und dass sie in direktem Zusammenhang mit der Klimakrise und der Politik des kapitalistischen Systems steht.

Ja, der stromaufwärts gelegene Teil des Tigris-Tals befindet sich jetzt unter Wasser und wird durch ein Staudammprojekt zerstört. Aber wenn wir einen überzeugenden Kampf führen, können wir den Damm vielleicht öffnen. Trotz der Zerstörung könnten wir das Leben im Tigris-Tal wieder in seinen gewohnten Lauf zurückversetzen. Unsere Kraft allein war nicht genug. Aber wir können gewinnen, wenn wir in Zukunft zusammenarbeiten.

 Hasan Açan

Mehr Bilder von Hasan Açan gibt es auf seinem Instagram-Kanal zu sehen.

 

 

Clara arbeitet in der Wissenschaftskommunikation. Zu dis:orient kam sie 2018 und seit Februar 2022 übernimmt sie die Koordination unseres Magazins. Clara hat Internationale Migration & Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück und Politikwissenschaft in Hamburg & Istanbul studiert. Ihre Themen sind Solidarität in der postmigrantischen...
Oğuzhan studiert derzeit Internationale Migration und Interkulturelle Beziehungen in Osnabrück. Er hat seinen Bachelor in Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen in Istanbul absolviert. Außer auf die Türkei und die EU fokussiert er sich auf die Beziehungen der ägäischen Region und des Balkans. Er ist ein Umwelt-Friedensaktivist und...
Redigiert von Eva Garcke, Matthias Flug, Anna-Theresa Bachmann