01.11.2016
Nach dem Tod von Mohsin Fikri: Weitere Proteste in Marokko
Demonstrant_innen in Tetouan halten ein Bild von Abdelkrim El-Khattabi hoch. Er führte in den 1920er Jahren die Rif-Rebellion gegen die spanische Kolonialarmee an. Foto: Twitter/@GadjoDelSol
Demonstrant_innen in Tetouan halten ein Bild von Abdelkrim El-Khattabi hoch. Er führte in den 1920er Jahren die Rif-Rebellion gegen die spanische Kolonialarmee an. Foto: Twitter/@GadjoDelSol

In Marokko gehen die Menschen wieder zu Tausenden auf die Straße. Anlass ist der Tod eines Fischhändlers. Doch es geht um weit mehr: Europäische Investitionen, Ausbeutung durch die Fischindustrie – und Würde. Von Mohamed Lamrabet

Mohsin Fikri starb am Freitagabend. Er war Fischhändler in al-Hoceima, einer Stadt in der ärmeren Rif-Region in Nord-Marokko. Nachdem seine Ware von der Polizei beschlagnahmt und in den Container eines Müllfahrzeugs geworfen worden war, stellten er und zwei weitere Personen sich aus Protest mit hinein. Den Polizisten war es egal. Einer von ihnen soll den Fahrer aufgefordert haben, die Müllpresse anzuwerfen. Zwei konnten entkommen, Fikri wurde erdrückt.

Kaum ein Tod scheint unwürdiger und zugleich symbolischer für die erschütternden Lebensverhältnisse vieler Marokkaner_innen heute. Das Schicksal von Mohsin Fikri erinnert an den Tunesier Mohammed Bouazizi. Auch er war ein Straßenhändler. Auch er wehrte sich gegen den unwürdigen Umgang der Polizei. Bouazizi aber steckte sich selbst in Brand löste so eine Welle von Protesten aus, die im Anschluss die gesamte Region erschüttern sollten.

 

Hogra nennt man diese Form der Demütigung in Marokko. Mohsin Fikris Schicksal ist kein Einzelfall. Seit 2011 haben sich in Marokko mehr als ein Dutzend Straßenhändler_innen aus Wut, Verzweiflung und Protest selbst in Brand gesteckt. Erst im April zündete sich eine Händlerin an, weil die Polizei ihren Kuchen und ihr Brot konfisziert hatte. Im selben Monat zündete sich ein weiterer Händler an, weil sein Motorrad beschlagnahmt worden war. Straßenhändler_innen werden in Marokko systematisch von der Polizei verfolgt, enteignet und geschlagen.

Im August nahm sich ein Mädchen das Leben, weil ihre acht Vergewaltiger freigelassen worden waren und gedroht hatten, Bilder von ihr zu veröffentlichen.

Zum Video: Demonstrant_innen stimmten gestern in al-Hoceima an: „Wo auch immer du hingehst. Hogra. Kommissariat. Hogra. Gericht. Hogra. Krankenhäuser. Hogra.“ 

Mohsin Fikri und all die anderen sind die Opfer eines korrupten Staats. Sie sind die Opfer international gelobter Modernisierungsprozesse zur Neoliberalisierug des Landes, die von der EU in den vergangenen Jahren mitfinanziert wurden. Der Staat hat öffentliche Dienstleistungen verkauft - und zwar meist an europäische Investor_innen. In der Folge sind die Preise für Wasser und Strom in die Höhe geschossen. Für Selbstständige aus ärmeren Bevölkerungsteilen wird es immer schwieriger zu überleben.

Lukrativer Fischfang und Immobilienverträge

2014 hat Marokko einen Fischfangvertrag mit der EU ausgehandelt. Für gerade einmal 30 Millionen Euro sollen in den nächsten Jahren bis zu 120 Schiffe aus 11 Ländern der EU vor der marokkanischen Küste Fischfang betreiben dürfen. Teil des Vertrags waren auch Initiativen zur Förderung der Menschenrechte. In Anbetracht der strukturellen Ausbeutung scheinen sie allerdings nicht mehr als Augenwischerei zu sein.

Denn nur noch wenige Marokkaner_innen können heute noch vom Fischfang leben. Entweder ist es ihnen verboten - oder es ist nichts mehr übrig. “Früher habe ich so viel Fisch gefangen, ich konnte meine armen Nachbar_innen mit ernähren”, erzählt ein Fischhändler in Tamasint, Al-Hoceima, der niederländischen Aktivistin Mariam El-Maslouhi. Diese Zeiten sind augenscheinlich vorbei. Das Geschäft ist ruchlos. Als 2008 Proteste in der Fischerstadt Sidi Infi ausbrachen, wurden zehn Fischer von der Polizei getötet.

Die Frauen in Douar Ouled Dlim leben in absoluter Armut.

Deutschland arbeitet eng mit Marokko an Prestigeprojekten im Umweltbereich zusammen. Während das BMZ Solaranlagen in Ouarzazate baut, werden Anwohner_innen im ganzen Land enteignet, um Platz für Großprojekte zu schaffen. Häuser werden zerstört, Eigenanbau ausgerissen, Bäume gefällt. Lebenswerte Räume werden angeeignet, verkauft und gentrifiziert. Im Viertel “Douar Ouled Dlim” in Rabat konfiszierte die Regierung Land, um es an eine Immobiliengesellschaft weiterzuverkaufen.

Viele Anwohner_innen - die meisten Senior_innen, Frauen und Kinder - weigern sich bis heute, einfach Platz zu machen und leben in Wellblechhütten weiter. Sie alle sind Opfer ein und desselben Gewaltsystems und leiden an mangelnder Gesundheitsversorgung, schlechter Bildung und fehlender politischer Repräsentation. Die Folgen sind erhöhte Sterberaten, Depression, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, sexuelle und polizeiliche Gewalt. Junge Frauen und Männer treibt es immer öfter in die Sexindustrie. Da sie an einem der beliebtesten Zielorte des Sextourismus für westliche Männer leben, sehen sie hierin eine Chance für sozialen Aufstieg.

Proteste im Rif und Deutschlands vergessene Schande

Mohsin Fikri lebte in al-Hoceima im marokkanischen Rif-Gebirge. Jahrzehntelang hatte die marokkanische Regierung hier mit eiserner Faust regiert. Der ehemalige König Hassan II hatte während der Rif-Aufstände 1958-59 hier 80 Prozent der marokkanischen Truppen gegen die Demonstrant_innen eingesetzt. Auch Napalm kam zum Einsatz.

In den 1920er-Jahren rüsteten deutsche Unternehmen in derselben Region spanische Kolonial-Milizen mit Chemiewaffen aus. Bis heute weist die Region die höchste Krebsrate des Landes auf. In den 60er-Jahren warb Deutschland dann gezielt marokkanische “Gastarbeiter_innen” aus dem Rif an. Die Armut trieb Tausende nach Europa, um zum deutschen Wirtschaftswunder beizutragen. Heute werden Menschen wie Mohsin Fikri an Europas Grenzen abgewiesen.

Seit Fikris Tod protestieren in ganz Marokko Menschen. Noch am selben Tag fanden Großdemonstrationen in Nador, Tetouan, Marrakesch und Rabat statt. Am Montagmorgen gingen etwa 5000 Menschen in Richtung der Polizeipräfektur in Casablanca auf die Straße. Ob sich die Demonstrationen ausweiten und zu einer landesweiten Bewegung anwachsen, bleibt abzuwarten. Aber die Wut ist groß. Bereits vor Monaten demonstrierten tausende Studierende gegen Etatkürzungen, die es schwer machen, im Bildungssektor Arbeit zu finden. Wo ist die Würde in alldem? Wo ist die Sicherheit?

Aufnahmen von der Beisetzung Mohsin Fikris, geteilt durch den marokkanischen Aktivisten Hisham Almiraat 

Wer Verzweiflung sät, der erntet Flucht!

Statt über die psychologischen Folgen von Armut und Flucht, Korruption und Verzweiflung spricht man in Deutschland lieber über Herkunft und Kultur, um Menschen das Recht abzusprechen, Opfer zu sein. Diskurse über das moderne und stabile Königreich – das „sichere Herkunftsland“ – verschleiern die Realität. Das Land wird vielleicht moderner, aber das Volk bleibt zurück. Mohsin Fikri ist tot. Trotzdem werden Millionen junge Marokkaner_innen weiterhin um jeden Preis für ihre eigenen Lebensperspektiven und ihre eigene Würde einstehen. Auch wenn das bedeutet, sich bis nach Europa durchzukämpfen. Wer Verzweiflung sät, der erntet Flucht!

Artikel von Mohamed Lamrabet