12.06.2007
Mustafa Barghouthi in Berlin: "Israel errichtet Apartheidssystem"


Der palästinensische Informationsminister Mustafa Barghouthi hat gestern knapp 100 Tage nach Bildung einer palästinensischen Einheitsregierung aus Fatah, Hamas und kleineren Parteien in Berlin eine erste Bilanz gezogen. Der 54-jährige Generalsekretär der "Palästinensischen Nationalen Initiative" (al-Mubadara) sprach vor etwa 100 Zuhörern auf einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung.

Barghouthi bezeichnet sich selbst als einen der Architekten des Abkommens von Mekka, in dem Hamas und Fatah auf die Bildung einer gemeinsamen Regierung verständigten. Der Politiker erinnerte daran, dass die Hamas aus demokratischen, freien und transparenten Wahlen als Sieger hervorgegangen war und anschließend eine Regierung bildete, der die internationale Gemeinschaft die Zusammenarbeit verweigerte. Als Konsequenz sei die Bildung einer Einheitsregierung, die 96% der palästinensischen Wähler vertritt, alternativlos gewesen, weil als einzige Alternative ein "totales Desaster" stünde, nämlich der Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde.

Barghouthi, der 2005 bei den Wahlen zum Chef der Autonomiebehörde 20% der Wählerstimmen erhielt, unterstrich, das das Programm der in Mekka gebildeten Regierung kein Hamas-Programm sei. Das Regierungsprogramm sei vielmehr säkular ausgerichtet, fördere Frauenrechte und unterstreiche die Wichtigkeit eines unabhängigen Bildungswesens. Des weiteren habe es seit Februar mehrere Initiativen gegeben, den Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen einzustellen als Gegenleistung für ein Ende israelischer Gewalt gegenüber den Palästinensern, diese Angebote würden jedoch von israelischer Seite stets abgewiesen.

Israels Premierminister Ehud Olmert weigere sich jedoch sowohl Fragen der palästinensischen Souveränität zu diskutieren als auch über ein Ende des Finanzembargos gegen die PA zu reden. Des weiteren habe die palästinensische Regierung in den vergangenen Monaten eine Initiative für einen Gefangenenaustausch mit Israel gestartet. Die Geiselnehmer des israelischen Soldaten Gilad Shalit hätten der israelischen Regierung eine Liste mit den Namen von 350 Palästinensern, die in israelischen Gefängnissen einsitzen, überreicht. 350 von insgesamt 11000 Gefangenen unter denen sich nach Barghouthis Angaben 120 Frauen und mehr als 300 Minderjährige befinden. Auch auf diese Initiative sei Israel nicht eingegangen.

Ebenso enttäuscht zeigte sich Barghouthi über Israels Reaktion auf die Friedensinitiative des Arabischen Gipfels, die die Anerkennung Israels im Gegenzug für einen vollständigen israelischen Rückzug aus dem Westjordanland und die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates anbietet.

Unterdessen gehe das Embargo gegen die palästinensische Einheitsregierung weiter, Israel behält die Steuern der Palästinenser ein, der PA entgehen somit monatlich 63-65% ihrer Einnahmen - etwa 45 Millionen US-Dollar pro Monat. Die israelische Seite fordere die Aufrechterhaltung von Gesetz, Ordnung und Sicherheit in den palästinensischen Gebieten, nehme aber bewusst in Kauf, das die PA nicht in der Lage sei, die Löhne von Polizisten, Ärzten und Beamten zu zahlen. Auch die Europäische Union arbeitet noch immer nicht mit der Regierung zusammen. Die Minderheiten bei Fatah und Hamas, die gegen die gemeinsame Regierung sind, hätten es dadurch umso leichter die Gewalt immer wieder neu zu entfachen, da die palästinensische Regierung von Israel, den USA und der EU nicht ermächtigt werde, "ihren Job zu tun".

Informationsminister Barghouthi schilderte auch die Einschränkungen und Schikanen, denen er sich als demokratisch gewählter Parlamentarier und Minister von israelischer Seite ausgesetzt sieht. "Ich brauche 4 Genehmigungen um mein Land zu bereisen und meine Wähler zu besuchen. Ich brauche eine Genehmigung um in den Gaza-Streifen zu reisen, ich brauche eine Genehmigung, wenn ich nach Jerusalem, also in meinen Geburtsort will, ich brauche eine Genehmigung wenn ich ins Jordantal reisen will und eine Genehmigung
wenn ich ins Ausland möchte." Seit anderthalb Jahren verweigerten ihm die israelischen Behörden eine Reisegenehmigung für den Gaza-Streifen, den Ort in dem sein Ministerium liegt, seit Barghouthi Minister ist, also seit Februar, darf er auch nicht mehr nach Jerusalem. Der Politiker dazu: "Ich kann nach London oder Berlin fliegen und hier mit ihnen reden, meine Wähler in Gaza oder Jerusalem darf ich jedoch nicht besuchen."

Der gegenwärtige Bruderkrieg zwischen einzelnen Fraktionen innerhalb von Hamas und Fatah sei furchtbar, werde aber nach Barghouthis Einschätzung nicht von Dauer sein. Der Westen müsse seine Heuchelei aufgeben und mit der Regierung zusammenarbeiten - dies sei der einzige Weg zum Frieden. Die einseitige Unterstützung der Fatah durch die USA, etwa durch Waffenlieferungen sei der falsche Weg und habe lediglich zum Ziel den Krieg zwischen den Palästinensern am laufen zu halten um dadurch Israels Besatzungsregime Legitimation zu verschaffen.

Barghouthis Sicht zufolge klafft zudem eine große Lücke zwischen der Realität in den palästinensischen Gebieten und der Berichterstattung in den westlichen Medien. Innerpalästinensische Kämpfe würden einen breiten Platz in den Zeitungen und Nachrichtensendungen einnehmen, die israelische Gewalt gegen die Palästinenser erscheine hingegen allenfalls als Randnotiz. Ein wirkliches Bild von der Lage könne man sich jedoch nur vor Ort machen. Barghouthi weiter: "Mich beschämt das gegenseitige Töten der Palästinenser, jedoch nicht aus dem Grund, das seich Palästinenser nicht gegenseitig umbringen sollten, sondern weil sich Menschen nicht gegenseitig umbringen sollten."

Der israelischen Regierung bescheinigte der Minister kein Interesse an einem Frieden mit den Palästinensern zu haben, ihr gehe es darum Zeit zu gewinnen um am Boden Fakten zu schaffen. Nach dem Teilungsplan der UN aus dem Jahre 1947 sollten den Palästinensern 45% des Mandatsgebiets zugesprochen werden, nach dem 6-Tage-Krieg blieben den Palästinensern noch 22%. Mit dem Ausbau der Sperranlage und der Errichtung hunderter Checkpoints im Westjordanland habe Israel ein Apartheidssystem geschaffen. Gegenwärtig gebe es im gesamten Westjordanland nicht weniger als 543 permanente und 612 mobile Checkpoints an den die Palästinenser oft Stunden warten müssten und häufig Schikanen ausgesetzt seien.

Selbst die Weltbank, eine Organisation die der einseitigen Parteinamhem für die Palästinenser unverdächtig sei, kam zu dem Schluss, dass Israel mit diesen Checkpoints die Wirtschaft im Westjordanland systematisch ruiniere. Bei Abschluss der Osloverträge betrug das Verhältnis des Bruttosozialprodukts pro Kopf zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten 6:1, drei Jahre später 12:1, heute beträgt es 30:1 zu Gunsten Israels. Ziel des Sperrzauns sei daher eine Konsolidierung des Aprtheidsystems, nicht die israelische Sicherheit. Von den 996 Millionen Kubikmetern Wasser, die dem Westjordanland jährlich zur Verfügung stehen, gelngen nur 126 Millionen Kubikmeter zu den Palästinensern, der Rest werde von israelischer Seite abgezweigt.
Als Konsequenz sei ein lebensfähiger palästinensischer Staat und der den jetzigen Bedingungen nicht möglich. Effektiv habe sich der Anteil des Landes, über das die Palästinenser selbst bestimmen können, im Lauf der Jahrzehnte so verändert: Karte: http://www.muz-online.de/middleeast/israel.html

Als Hauptgrund für Israels Weigerung den Friedensprozess wiederzubeleben macht Barghoti weniger die fragile innenpolitische Situation Israels, sondern die noch immer vorhandene Dominanz der zionistischen Idee in der israelischen Politik aus, die die Anwesenheit der Palästinenser als "historischen Fehler" betrachte. Da Deportationen anders als 1948 heute nicht mehr möglich seien, bilde nun das Apartheidssystem das wichtigste Mittel der israelischen Politik, die Barghouthi als "das Ergebnis eine falschen Traums" bezeichnete.

Die Lage der Palästinenser sei das wichtigste moralische Thema des 21.Jahrhunderts, so Barghouthi weiter, und es gebe keine Rechtfertigung für das Dulden ihres Leidens. Die Lage der Palästinenser sei längste keine Sache mehr der Araber sondern Sache der gesamten Menschheit. Der israelischen Regierung und israelischen Lobbygruppen sei es in den letzten Jahren jedoch verstärtkt gelungen a) die Palästinenser zu entmenschlichen, b) die palästinensische Sache zu deligitimieren und c) Israel als Opfer darzustellen.

Das Ziel aller Bemühungen um Fireden könne nur eine 2-Staaten-Lösung sein, nicht zuletzt weil den Palästinensern laut internationalem Recht ein eigener Staat zustehe. Braghouthi schlug die Stationierung von UNO- oder NATO-Truppen entlang der Grenze beider Staaten vor, wenn Israel dies wünsche. Ein Frieden zwischen beiden Völkern sei jedoch nicht möglich, wenn Israel den Palästinensern buchstäblich das Wasser abgrabe und versuche soviel palästinensisches Territorium wie möglich zu sichern.

Die von Israel im Westjordanland errichtete Mauer sei Teil eines Systems der Segregation. Es sei "verrückt" zu glauben sie diene allein der israelischen Sicherheit. Schließlich sei es an einigen Stellen noch immer möglich die Sperranlage zu überqueren, auch Barghouthi selbst gab an die Möglichkeiten zu nutzen um unerlaubt nach Jerusalem zu gelangen. Die Tatsache, dass es seit über einem Jahr keinen Selbstmordanschlag mehr in Israel gegeben habe, sei daher auch nicht das Ergebnis der Errichtung der Mauer, sondern Ergebnis eines Umdenkens unter den palästinensischen Gruppen, die in der Vergangenheit Selbstmordattentäter nach Israel geschickt hatten. Organisationen wiie die Al-Aqsa-Brigaden seien zum dem Schluß gekommen, dass Selbstmordattentate kein Mittel des Kampfes gegen die Besatzung seien. Auch Barghouthi, dessen Mubadara-Bewegung keinen bewaffneten Arm unterhält erklärte, dass der gewaltlose Kampf der beste, effektivste und moralischste Weg zum Frieden sei.

"Grundlage für jede Lösung", so Barghouthi in seinem Schlusswort, "ist die gegenseitige Akzeptanz als geleichberechtigte Menschen mit gleichen Rechten."