13.08.2011
Muslimbruderschaft gründet Partei: Ein Programm für die Brüder

Von Jannis Hagmann 
Erstmals in ihrer 83-jährigen Geschichte haben die ägyptischen Muslimbrüder eine politische Partei gegründet. Mit ihrem Programm unterscheidet sich die »Freiheits- und Gerechtigkeitspartei« nur noch geringfügig von ihren islamistischen Konkurrenten.

Unter den mittlerweile sechs neuen Parteien aus dem islamischen Spektrum in Ägypten ist die »Freiheits- und Gerechtigkeitspartei« (FJP, Freedom and Justice Party) in institutioneller und programmatischer Hinsicht die reifste. Allein die seit 15 Jahren um Anerkennung ringende, nach der Revolution nun aber ebenfalls offiziell anerkannte neue Wasat-Partei kann auf vergleichbare Erfahrungen zurückblicken. Sie hatte sich in den neunziger Jahren von der Muslimbruderschaft (MB) abgespaltet.

Anders als die Wasat-Partei wird die FJP nicht als unabhängige politische Partei agieren. Vieles spricht dafür, dass die MB-Mutterorganisation sie an der kurzen Leine halten wird. Dies zeigt sich bereits daran, dass die Spitzenämter der im Juni offiziell registrierten Partei nicht durch organisationsinterne Wahlen bestimmt, sondern im autoritären Stil durch den Konsultationsrat ernannt wurden. Und diese Ernennung traf altgediente und treue MB-Mitglieder der mittleren Generation. Für Newcomer der jungen, dynamischeren MB-Generation war vorerst kein Platz.

Als sich die Muslimbruderschaft 2007 mit der Veröffentlichung eines ausführlichen und viel beachteten Programmentwurfs der Kritik der Öffentlichkeit aussetzte, fragten viele nach ihren Beweggründen, denn Wahlen standen nicht an. Wozu dann ein Programm? Die Revolution hat die Antwort geliefert: Man wollte vorbereitet sein.

Das neue Programm der FJP basiert auf dem Entwurf von 2007. Ganze Absätze sind bis auf den Wortlaut identisch. An anderen Stellen wurde ergänzt und – besonders an den umstrittenen Stellen – gestrichen. Damit folgt die Muslimbruderschaft dem bereits seit langem eingeschlagenen Weg, ihr Handeln an einer politischen Logik auszurichten und sich nicht an dogmatisch-ideologischen Standpunkten festzuklammern. Im Folgenden sollen einige in der Vergangenheit kontrovers diskutierte Standpunkte dargestellt werden.

Politisches System
In ihrem Programm fordert die FJP einen republikanisch und parlamentarisch verfassten demokratischen Rechtsstaat. Das Volk (umma) sei die Quelle der Gewalten; Menschen seien gleich und Staatsbürgerschaft bestimme die Rechte und Pflichten aller Ägypter. Der Begriff des »islamischen Staates« wird weitestgehend vermieden. Allein in einem Paragrafen wird erklärt, dass der »islamische Staat« naturgemäß ein »ziviler Staat« ist, also weder das Militär noch die Kleriker die Macht innehaben. Vielmehr gebe es im Islam keine Kleriker, sondern nur Rechtsgelehrte, die zwar besonders qualifiziert seien, aber kein Monopol auf die Auslegung des Korans hätten. Folglich seien die Herrscher im islamischen Staat vom Volk gewählte Bürger. Als Kriterien für die Wahl nennt die FJP Effektivität, Erfahrung und Glaubwürdigkeit.

Der Unterschied zu einem nicht-islamischen Staat liege darin, dass die Scharia die allgemeinen Richtlinien und Prinzipien festsetze. Die Details sollen der vernunftgeleiteten Rechtsfindung aus den religiösen Quellen (ijtihad) und der Gesetzgebung überlassen werden, so dass diese dem Zeitalter entsprechend von den Legislativorganen festgelegt werden. Den Artikel 2 der bisherigen ägyptischen Verfassung, der die Prinzipien der Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt, möchte die FJP beibehalten.

Die FJP tritt vehement für ein demokratisches System mit regelmäßiger Machtzirkulation ein, da dieses derzeit die beste Ausprägung des islamischen Schura-Prinzips darstelle. Die knifflige Frage, wie sich der allgemeine Scharia-Vorbehalt und das Bekenntnis zur demokratischen Entscheidungsfindung zueinander verhalten, hatte 2007 für politischen Sprengstoff gesorgt. Über die im 2007er Programm enthaltene Forderung nach einem mit legislativen Befugnissen ausgestatteten Gelehrtenrat hatte auch innerhalb der MB kein Konsens geherrscht.

Muslimbrüder wie Issam al-Iryan und Sa’d Katatni hatten sich mit ihrer Kritik nicht zurückgehalten. Die Forderung habe nicht durch einen demokratischen Entscheidungsfindungsprozess Einzug in den Entwurf gehalten und würde von ihnen nicht unterstützt. Gamal Hishmat hatte sogar Parallelen zwischen der politischen Kultur des autoritären Mubarak-Regimes und der Muslimbruderschaft gezogen.    

Anders lief es 2011. In dem neuen Programm wurde der umstrittene Passus gestrichen. Allein das Verfassungsgericht solle die Kontrolle über den (an die Bestimmungen der Scharia gebundenen) Entscheidungsfindungsprozess ausüben. Der umstrittenste Punkt des Programmentwurfs ist damit entfernt worden.

Medien
Eine wichtige Rolle im künftigen Ägypten wird den Medien zugesprochen. Während in einem Reformmanifest der Muslimbrüder von 2004 noch eine »Säuberung« der Medien von allen unislamischen Inhalten angestrebt worden war, liest sich das Medienkapitel des FJP-Programms um einiges liberaler. Die Partei wird nicht müde, die massenkommunikative Funktion von Medien in demokratischen Systemen hervorzuheben. Andererseits hebt sie ihre Aufgabe bei der Verankerung islamischer Werte und Sitten in der Gesellschaft hervor. »Die Presse ist frei und wird keiner Form der Kontrolle unterworfen, außer der Kontrolle durch die Berufsethik, die gesellschaftlichen Werte sowie das Gesetz.« Der kleine, fast unüberlegt wirkende Zusatz, der eine Kontrolle durch das Gesetz ermöglichen soll, erscheint jedoch problematisch. Sollte die MB eine solche Formulierung etwa in der Verfassung verankern wollen, würde dem Gesetzgeber freie Hand bei der Medienzensur gegeben werden.

Religionsfreiheit
In Hinblick auf ägyptische Christen und Angehörige anderer Religionen bekräftigt die FJP den Grundsatz der Glaubensfreiheit. Erstmals in der Geschichte der Muslimbruderschaft wird sie nicht mehr nur den Angehörigen der »himmlischen Religionen«  –  Islam, Christentum und Judentum – sondern anscheinend allen zugesprochen. Zur schwierigen Frage des Apostasieverbots bezieht die Muslimbruderschaft keine Stellung. Da die Scharia die Gesetzgebung bestimmen soll und die Konversion zu anderen Religionen als dem Islam von Theoretikern wie Yusuf al-Qaradawi, der den Muslimbrüdern sehr nahe steht, strikt abgelehnt wird, liegt allerdings nahe, dass die Partei an dieser Position festhalten wird.

Strafrecht
In strafrechtlicher Hinsicht ist auffallend, dass, während der Programmentwurf von 2007 noch die Forderung beinhaltete, die Scharia und die im Westen verhassten koranischen Hadd-Strafen zur Grundlage der Strafgesetzgebung zu machen, dies im neuen Programm so explizit nicht mehr erwähnt wird.

Gleichberechtigung der Geschlechter
Weiterhin fordert die FJP die Gleichstellung von Mann und Frau sowie die volle Verwirklichung der Rechte der Frau. Diese Reform solle sich im Sinne und im Rahmen der Scharia vollziehen und dürfe den grundlegenden gesellschaftlichen Werten nicht widersprechen. Mann und Frau werden dabei nicht gleich behandelt, sondern sind gleichwertig. Die Frau brauche Schutz, insbesondere in Hinblick auf ihre geforderte aktive Rolle in der Gesellschaft. Die FJP möchte die Berufstätigkeit von Frauen fördern, indem entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Wie diese genau aussehen, etwa wenn es um Geschlechtertrennung am Arbeitsplatz geht, wird nicht ausgeführt. Auffallend ist, dass viele illiberale Standpunkte, die in früheren Programmen der Muslimbrüder enthalten waren, nicht mehr vertreten werden. In der Reforminitiative von 2004 sollte die Ehefrau noch verpflichtet werden, vor Verlassen des Hauses oder im Falle der Aufnahme von Berufstätigkeiten eine Erlaubnis des Ehemannes einzuholen. Auch forderte die Muslimbruderschaft die Wiederbelebung des islamischen »Hisba«-Systems im Sinne einer für die Einhaltung gesellschaftlicher Normen verantwortlichen staatlichen Behörde. Dies erinnerte stark an die Institution der Religionspolizei in Saudi-Arabien, die sich auf das gleiche islamische Gebot beruft und derzeit wohl am ehesten als Modell dienen könnte. Seit 2004 ist diese Forderung jedoch nicht wieder aufgetaucht.

Wie bereits in einem Grundsatzpapier von 1994 verfügen Frauen dem FJP-Programm zufolge über das aktive und passive Wahlrecht. Erstmals ist jedoch auch der kontroverse Punkt, dass Frauen und Nicht-Muslime vom Präsidentenamt ausgeschlossen sind, gestrichen worden. 2007 war die Präsidentschaft von Frauen und Christen noch ausdrücklich abgelehnt worden. 2004 war zudem noch in religiöser Terminologie vom Imamat die Rede, das Frauen nicht offen stehen könne. Trotz der Streichung im aktuellen Programm äußerten sich Mitglieder der Muslimbruderschaft jüngst aber weiterhin ablehnend.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Absatz im 2007er Programm sowie eine Äußerung des damaligen MB-Chefs Mahdi ´Akif aus demselben Jahr: Der Ausschluss sei lediglich die Interpretation des göttlichen Gesetzes durch die Muslimbrüder. Andere Meinungen würden nicht nur toleriert, sondern durchaus auch als religionsrechtlich legitim, also als andere Auslegung der normativen Quellen, anerkannt. Die ebenfalls islamisch argumentierende Wasat-Partei beispielsweise hat bezüglich der Präsidentschaft von Frauen und Christen noch nie ein Problem erkannt.
     
Beschneidung der Macht des Präsidenten
Im Zusammenhang mit dieser anscheinend noch nicht endgültig geklärten beziehungsweise umstrittenen Frage ist eine Forderung der Muslimbrüder interessant, die ihre Programme schon länger umfassen. Das Präsidentenamt soll in ein rein repräsentatives Amt umgewandelt und alle Exekutivbefugnisse dem Ministerpräsidenten zugesprochen werden. Dies könnte einen Kompromiss darstellen, der die MB-Interpretation der Scharia und Forderungen nach absoluter Gleichberechtigung von Frauen und Christen miteinander in Einklang zu bringen versucht – die Möglichkeit also, das Amt des Ministerpräsidenten für alle zu öffnen, das weniger wichtige Amt des Staatsoberhauptes aber ausschließlich muslimischen Männern zugänglich zu machen.

Für die Muslimbruderschaft im Haschemitischen Königreich Jordanien und die eng an sie gebundene politische Partei IAF spielt die Frage, ob Frauen und Christen das Amt des Staatsoberhauptes bekleiden dürfen, beispielsweise keinerlei Rolle, da das Staatsoberhaupt ohnehin ein männliches, muslimisches Mitglied der Königsfamilie ist. Alternativ zu einer solchen Kompromisslösung ist jedoch auch vorstellbar, dass sich die ägyptische Muslimbrüderschaft von ihrer bisherigen Interpretation der Scharia verabschiedet und den gleichen Weg betritt wie die Wasat-Partei, die in ihrem Programm von 2009 das Amt des Staatsoberhauptes explizit für alle öffnet. Ungeachtet dieser theoretischen Diskussion, liegt die tatsächliche Möglichkeit, dass eine Frau oder ein Christ Ministerpräsident werden, in weiter Ferne.

Tourismus
Bezüglich des für die ägyptische Wirtschaft wichtigen Tourismus wurden zahlreiche Passagen aus dem FJP-Programm gestrichen. Zuvor war gefordert worden, dass sich ausländische Touristen im Vorhinein über die »islamischen Regeln« informieren. Vertreter der MB hatten dies in der Presse im Sinne einer Praxis konkretisiert, nach der die Regeln des Alkoholausschanks während des Fastenmonats Ramadan auf das gesamte Jahr ausgedehnt werden sollten.

Dieser »Ramadan-Regel« zufolge würde Alkohol nur noch an ausländische Touristen in Touristen-Hotels ausgeschenkt. Im neuen Programm finden derartige Überlegungen keinerlei Erwähnung mehr. Vielmehr solle der Tourismus stark gefördert werden, indem die Bettenkapazität verdoppelt, die touristische Infrastruktur ausgebaut und der allgemeine Service verbessert würde.

Die Muslimbruderschaft verfügt mit dem FJP-Programm über eine ausgearbeitete Programmatik und bezieht zu zahlreichen Themen ausführlich Stellung. Die erwähnten Punkte sind lediglich allgemeine Grundlagen und generell umstrittene Positionen. Über weite Strecken beschäftigt sich das Programm dagegen auch mit wirtschafts- und bildungspolitischen Themen, sozialer Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung sowie mit spezifischen Themen wie der Situation von Menschen mit Behinderungen – Fragen, die für die ägyptischen Wähler entscheidender sein werden als etwa die Diskussion um den Zugang zur Staatspräsidentschaft für Christen und Frauen. 

Verschwimmen die Profile von FJP und Wasat-Partei?

Indem das FJP-Programm einerseits die Bedeutung der Scharia für Gesetzgebung und Moral betont und andererseits die Forderung nach einem nicht-religiösen Legislativsystem umfasst, nimmt es im islamistischen Diskurs und dem real existierenden Islamismus keine konservative Position ein – man denke hier an die politischen Systeme Saudi-Arabiens oder des Irans. Allerdings haben sich im post-revolutionären Ägypten bereits verschiedene andere Parteien aus dem islamischen Spektrum in ähnlichen Breitengraden positioniert wie die FJP.

Unter ihnen ist die neue Wasat-Partei, die aus einer Initiative des Muslimbruders Abu l-´Ala Madi hervorging, die sich bereits 1996 von der Muslimbruderschaft loslöste, unter Mubarak jedoch keine Zulassung als politische Partei durchsetzen konnte. Im Zentrum ihrer Programmatik steht das Konzept des »zivilisatorischen Islams«. Madi und der Christ Rafiq Habib, ehemaliges Wasat-Mitglied, nun jedoch stellvertretender FJP-Vorsitzender, sind zwei prominente Vertreter dieses Theorems. Nicht mehr die Religion Islam, sondern die islamische Kultur ist die Identifikationsquelle der Gemeinschaft. Das Konzept des zivilisatorischen Islams ermöglicht es der Partei, eine staatstragende Ethik zu proklamieren, die auf einem religiösen Fundament basiert, die Religion als solche aber nicht in Anspruch nimmt.

Ein Vergleich der aktuellen Programme der Wasat-Partei und der FJP zeigt jedoch, dass die Profilgrenzen der beiden Parteien zunehmend verwischen. In vielen Punkten ist die Muslimbruderschaft der programmatischen Entwicklung der Wasat-Partei gefolgt. So hatte diese etwa den Vorbehalt der Religionsfreiheit für die Offenbarungsreligionen, der noch in ihrem 2004er Programm enthalten war, bereits 2009 gestrichen. Die Muslimbruderschaft vollzog diesen Schritt in dem aktuellen FJP-Programm. Auch das Konzept des zivilisatorischen Islams findet sich ansatzweise im wertegeleiteten Scharia-Verständnis der FJP wieder. Nach den Modifikationen des FJP-Programms liest sich dieses an vielen Stellen sogar liberaler als das der meist als moderate MB-Abspaltung bezeichneten Wasat-Partei. Letztere räumt typisch islamistischen Themen mehr Raum ein als die FJP, etwa dem Sittenverfall in Kultur und Kunst, der Notwendigkeit der Zurückweisung westlicher Hegemonialbestrebungen oder dem Thema Palästina.

Aus dem FJP-Programm wurden beispielsweise die Forderung nach einem palästinensischen Staat auf dem »gesamten Gebiet des historischen Palästinas« sowie der Begriff des »zionistischen Gebildes« gestrichen. Übrig bleiben noch zwei Zeilen, in denen ein eigenständiger Staat mit der Hauptstadt Jerusalem gefordert wird – eine Forderung, die mit der Position der UN durchaus in Einklang zu bringen ist.

Auch die Forderung, dass der Friedensvertrag mit Israel einer Volksabstimmung unterworfen wird, wurde gestrichen. Das Wasat-Programm, in dem das Thema Palästina auch quantitativ sehr viel mehr Platz einnimmt, betont hingegen ausdrücklich das Recht der Palästinenser auf bewaffneten Widerstand.
  
Neue Konkurrenz aus dem islamischen Spektrum

Neben der Wasat-Partei haben sich im Juni junge MB-Aktivisten von der Mutterorganisation abgespalten und angekündigt, einen Antrag auf Gründung einer »Partei der ägyptischen Strömung« zu stellen. Sie äußerten starken Unmut darüber, dass die junge Generation innerhalb der Organisation nicht über genügend Mitspracherechte verfüge. Zudem kritisierten sie die mangelnde Trennung zwischen Muslimbruderschaft und FJP sowie die undemokratische Entscheidungsfindung bei der Bestimmung der FJP-Führungspositionen. Das Gründungsmanifest, das auf Facebook veröffentlicht wurde, erwähnt die Rolle von Moral, Werten und religiösen Prinzipien, nennt aber im Gegensatz zur Wasat-Partei und der FJP nicht die Scharia als Bezugsrahmen. MB-Generalsekretär Muhammad Hussein zeigte sich verärgert über den Vorstoß der abtrünnigen Parteijugend. 

Zusätzlich zur FJP, der Wasat-Partei und der »Partei der ägyptischen Strömung« ist von verschiedenen anderen Parteiinitiativen aus dem islamischen Spektrum berichtet worden: Die Nour-Partei wurde bereits vom Parteienkomitee anerkannt. Die vom ehemaligen MB-Mitglied Khalid Dawud ins Leben gerufene Riyada-Partei sowie die »Partei für Entwicklung und Aufstieg« von Ibrahim az-Za’farani sind über die eigene Gründung hingegen noch nicht hinausgekommen.

Politik bleibt nicht auf das Parlament beschränkt

Jedoch ist Partizipation als offizielle politische Partei nicht die einzige Möglichkeit, politischen Einfluss auszuüben. Dies beweist kein anderer zivilgesellschaftlicher Akteur besser als die ägyptische Muslimbruderschaft selbst. Obwohl die Organisation zwischen 1954 und 2011 verboten war, konnte sie sich unter den Präsidenten Sadat und Mubarak durch Gewerkschaftsarbeit als einflussreicher Akteur etablieren. Ägypten hat über zwanzig Gewerkschaften und Berufsvereinigungen, in denen zwischen drei und vier Millionen Angehörige des berufstätigen ägyptischen Mittelstands organisiert sind.

Die Revolution hat die ägyptische Gewerkschaftslandschaft in Bewegung gebracht. So musste etwa der Mubarak-treue Vorsitzende der Journalistengewerkschaft Makram Muhammad Ahmad noch im Februar zurücktreten, während kurz darauf eine »Unabhängige Journalistenvereinigung« sowie eine »Ägyptische Online-Journalistenvereinigung« ins Leben gerufen wurden. Sollte eine Demokratisierung Ägyptens tatsächlich langfristig Fuß fassen, hätte dies erhebliche Auswirkungen auf die Gewerkschaften. Dass die Muslimbruderschaft dabei eine wichtige Rolle spielen wird, steht außer Frage. Wie diese aussehen wird, wird sich jedoch frühestens nach den ersten gewerkschaftsinternen Wahlen beurteilen lassen.

Eine Diskussion der künftigen Rolle der Muslimbrüder in Ägypten sollte sich daher nicht auf die FJP beschränken. Vielmehr finden sich Argumente, die gegen eine starke parlamentarische Rolle der MB sprechen. Ihre Position als einzige wirkliche Oppositionskraft hat sie verloren. Auch den Anspruch, Führer der ägyptischen Demokratiebewegung zu sein, wird sie nach der demokratischen Revolution nicht mehr aufrechterhalten können. Zudem machen ihr die zahlreichen Parteiinitiativen aus dem islamischen Spektrum Konkurrenz.

Andererseits wird die FJP von ihrer ausgereiften Programmatik und der langjährigen Erfahrung der Muslimbrüder als zivilgesellschaftlicher Akteur profitieren können. Die MB-Mutterorganisation wird künftig zudem freier agieren können als in vergangenen Jahrzehnten. Auch wenn sie mit mehr internen Problemen und Abspaltungen zu kämpfen haben wird, wird sie nicht mehr unter ständiger Repression leiden. Weiterhin wird sich die Muslimbruderschaft neben der Gewerkschaftsarbeit auch an den Universitäten freier engagieren können. In den vergangenen Jahren hatte die Regierung in die Wahlen zu den Studierendenvertretungen, für die auch Muslimbrüder kandidierten, massiv eingegriffen.