Im Mai 2009 kam das Nachrichtenmagazin Der Spiegel mit einer Meldung heraus, die im Libanon und darüber hinaus für großes Aufsehen sorgte: Unter Berufung auf Quellen aus der Umgebung des UN-Sondertribunals in Den Haag berichtete der Redakteur Erich Follath, dass die Hizbullah für die Ermordung des ehemaligen libanesischen Premierminister Rafik Hariri im Februar 2005 verantwortlich war. Im Libanon wurde der Bericht unisono als als halbgare Spekulation abgetan, das Gericht in Den Haag schwieg seither noch beharrlicher über den Fortgang der Ermittlungen.
Doch nun hat kein geringerer als Hizbullah-Generalsekretär Hassan Nasrallah persönlich erklärt, dass in den kommenden Monaten mehrere Mitglieder seiner Organisation wegen der Beteiligung am tödlichen Attentat auf Hariri angeklagt werden. Auf einer Pressekonferenz am Donnerstag plauderte Nasrallah auch gleich noch aus, wer ihm diese Information zusteckte. Der Sohn des Mordopfers und jetzige libanesische Regierungschef, Saad Hariri, habe ihm vor einigen Wochen verraten, dass eine Anklage gegen Hizbullah-Mitglieder bevorstehe. Hariri habe ich jedoch beeilt Nasrallah zu versichern, dass »undisziplinierte Mitglieder der Organisation« für den Mord verantwortlich seien und die Partei Gottes selbst nichts mit der Ermordung seines Vaters zu tun hätte.
Sollte Saad Hariri diese Worte tatsächlich geäußert haben, so ist es höchst unwahrscheinlich, dass er sie selbst glaubt. Wenn die Ermittlungen in den vergangenen fünf Jahren irgendetwas gezeigt haben, dann die Tatsache, dass der Bombenanschlag im Zentrum Beiruts nicht das Werk von Teilzeit-Terroristen gewesen sein kann. Der logistische Aufwand für das Attentat legt den Schluss nahe, dass der Anschlag nicht ohne das Wissen oder die Billigung hochrangiger Personen im libanesischen Sicherheits- und Geheimdienstkreisen durchgeführt werden konnte. Dies gilt umso mehr wenn man davon ausgeht, dass die Anschlagsserie auf Politiker, Journalisten, und Militärs, die den Libanon im Anschluss an den Hariri-Mord erschütterte, von der selben Gruppe verübt wurde. Dass Mitglieder einer straff organisierten und disziplinierten Organisation wie der Hizbullah ohne Wissen der Führung Attentate gegen führende Köpfe des Landes planen, scheint ausgeschlossen.
Hassan Nasrallah nutzte die Pressekonferenz am Donnerstag um das Sondertribunal für den Libanon zu diskreditieren. Das Verfahren sei Teil einer »Verschwörung gegen Libanon und den Widerstand«, also die Hizbullah. Die Entscheidung, seine Partei für den Mord verantwortlich zu machen, habe das Gericht bereits 2008 gefällt. Seither warte man in Den Haag nur auf günstige politische Umstände, die Israel und den USA in die Hände spielten, so Nasrallah weiter. Gleichzeitig erinnerte der Hizbullah-Chef daran, dass die UN-Sonderermittler anfangs stets Syrien für den Anschlag verantwortlich gemacht hatten und hierfür sogar falsche Zeugen vorgeladen hätten.
In der Tat lässt der Verlauf der Ermittlungen daran zweifeln, dass die wahren Hintermänner des Attentats jemals zur Rechenschaft gezogen werden. Mitverantwortlich hierfür ist der Berliner Oberstaatsanwalt Detlev Mehlis, der die Ermittlungen im Fall Hariri zwischen Mai 2005 und Januar 2006 leitete. Er legte sich früh auf eine Verwicklung syrischer Offizieller in dem Mordkomplott fest und ließ im August 2005 vier von Syrien eingesetzte libanesische Generäle als Drahtzieher des Attentats verhaften. Mehlis' Nachfolger waren deutlich hinsichtlich derartiger Vorhaltungen deutlich zurückhaltender. Im April letzten Jahres mussten die vier Tatverdächtigen aus Mangel an Beweisen wieder auf freien Fuß gesetzt werden. Der Glaubwürdigkeit des ganzen Verfahrens hat dieses Hin und Her großen Schaden zugefügt. Noch wichtiger: In den Wochen nach dem Hariri-Mord bildete sich im Libanon eine breite politische Koalition, das so genannte March 14-Bündnis, das auf den Anschuldigungen gegen Syrien gründete, bis heute die Politik des Landes weitgehend bestimmt und Mehrheit im Parlament hält. Jetzt, da sich abzeichnet, dass Syriens Regime aus dem Blickfeld der Ermittler rückt, geraten diese innenpolitischen Rivalen der Hizbullah in Erklärungsnot.
Nasrallah jedenfalls ist mit seinen Äußerungen vom Donnerstag in die Offensive gegangen. Sollten im September und Oktober tatsächlich, wie von ihm vorhergesagt, einzelne Hizbullah-Mitglieder angeklagt werden, so kommt diese Nachricht nicht mehr überraschend. Durch die Tatsache, dass die Anklagen frühzeitig durchsickerten, hat Nasrallah die Glaubwürdigkeit des Sondertribunals noch einmal untergraben.
Noch interessanter als die Worte Nasrallahs sind die von ihm kolportierten Äußerungen Saad Hariris. Sie sind Ausdruck der schwierigen innenpolitischen Lage, in der sich der Premierminister befindet. Einerseits ist er sich selbst, seiner Familie und nicht zuletzt seinen sunnitischen Anhängern schuldig, die Mörder seines Vaters zur Verantwortung zu ziehen. Gleichzeitig hängen sein politisches Überleben und die Stabilität des Libanon entscheidend vom Wohlwollen der Hizbullah ab. So lässt sich erklären, dass Saad Hariri zwischen einzelnen »undisziplinierte Mitgliedern« und der Organisation als ganzer zu unterscheiden versucht.
In mancherlei Hinsicht ist das Sondertribunal fünf Jahre nach dem Mord zu einer Gefahr für die Entwicklung des Libanon geworden. Seit zwei Jahren ist die politische Lage im Land stabil, die Parlamentswahlen im vergangenen Jahr verliefen ohne Probleme, die Wirtschaft erholt sich und Millionen Touristen strömen ins Land. Die Polarisierung der libanesischen Politik in zwei feindliche Lager im Anschluss an das Hariri-Attentat wurde seit der Parlamentswahl zumindest zögerlich überwunden. Sollten hochrangige Hizbullah-Mitglieder angeklagt werden, womöglich ohne zweifelsfrei zu belegen, dass diese tatsächlich allein für den Mord verantwortlich sind, würden neue Gräben aufgerissen in einem Land, das noch nicht einmal den Bürgerkrieg der Jahre 1975 bis 1990 aufgearbeitet hat. Hizbullah-Anhänger werden den Beteuerungen ihrer Führung glauben, dass sämtliche Beweise von Israel gefälscht worden sind, ein großer Teil der libanesischen Sunniten wird in der schiitischen Hizbullah den Mörder ihres Übervaters sehen. Für einen neuen bewaffneten Konflikt im Libanon wäre dies der ideale Nährboden.