Ein Gastbeitrag von Jakob Hensing
Das UN-Sondertribunal zur Aufklärung des Mordes am libanesischen Premierminister Hariri offenbart einmal mehr das Dilemma der internationalen Strafjustiz. Statt Stabilität durch Gerechtigkeit verheißen die aktuellen Haftbefehle dem Zedernstaat eine neue Zerreißprobe.
Als Hizbullah-Chef Hasan Nasrallah vor einigen Tagen nach Bekanntwerden der Haftbefehle gegen Mitglieder seiner Bewegung im hauseigenen Fernsehsender al-Manar verkündete, diese würden »in 300 Jahren« nicht vollstreckt werden, war dies für seine Verhältnisse eine moderate Äußerung. Lange bevor das UN-Sondertribunal für den Libanon überhaupt Haftbefehle wegen des Mordes an Premierminister Hariri im Jahr 2005 erlassen hatte, hatte der Chef der Partei Gottes immerhin angekündigt, jede Hand, die seine Kämpfer antasten wolle, werde »abgeschlagen«.
Nasrallah kann es sich erlauben, so zu reden, er genießt in Teilen der Bevölkerung großen Rückhalt und eine Regierungsbildung ohne Hizbullah ist momentan undenkbar. Dass die libanesische Regierung, die die Haftbefehle binnen 30 Tagen umsetzen muss, somit in eine prekäre Lage gebracht wurde und die politische Zukunft des ohnehin instabilen Landes einmal mehr auf dem Spiel steht, darf insofern niemanden überraschen.
Angesichts offen zur Schau gestellter Gewaltbereitschaft und Verachtung für internationale Rechtsnormen verspürt wohl mancher Erschrecken und Ohnmacht. Nicht so die Beteiligten des UN-Tribunals: Würden die Haftbefehle nicht vollstreckt, werde das Verfahren eben in Abwesenheit der Angeklagten geführt, hatte der Kanzler des Gerichts schon zuvor klargestellt. Wem soll damit gedient sein?
Das Hariri-Verfahren steht exemplarisch für das Dilemma der internationalen Strafjustiz, das in den letzten Jahren immer wieder deutlich wurde. Ihre Anhänger hegen einen nahezu unerschütterlichen Glauben an die zivilisatorische, friedensstiftende Kraft des Rechts – sehen sich dann aber mit Fällen wie dem des sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir konfrontiert, der einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs nicht nur ignorierte, sondern gleich zum Anlass nahm, internationale Hilfsorganisationen des Landes zu verweisen.
Verfehlte Hoffnungen und grobe Schnitzer
Die Logik der Verfahren ist durchaus ähnlich: Es besteht keine realistische Aussicht darauf, die Hauptverdächtigen tatsächlich zur Rechenschaft zu ziehen, das Chaospotential der betreffenden Partei ist hoch, und dennoch wird das Verfahren vorangetrieben in der vagen Hoffnung, schwindende politische Legitimität würde die Akteure zum Einlenken bewegen.
Diese Hoffnung war im Fall der Hizbullah schon deshalb deplatziert, weil eine wesentliche Legitimationsquelle der Partei in den Augen ihrer Anhänger der Widerstand gegen Israel und die USA ist. Sich gegen das maßgeblich von den USA unterstützte Tribunal positionieren zu können, spielte Nasrallah innenpolitisch somit sogar in die Hände.
Dass es ihm zudem leicht fiel, das Tribunal zu diskreditieren, haben sich die Ermittler zum Teil selbst zuzuschreiben. In der Frühphase der Ermittlungen hatte man den syrischen Sicherheitsapparat und seine Unterstützer im Libanon als Hauptverdächtige ausgemacht und mehrere Festnahmen veranlasst. Nachdem deutlich wurde, dass die belastenden Zeugenaussagen keiner Prüfung standhalten würden, mussten die Inhaftierten wieder freigelassen werden. Der absurde Höhepunkt dieser Vorgänge war erreicht, als Syrien 2010 seinerseits einen Haftbefehl gegen zwei deutsche Ermittler wegen vermeintlich unsauberer Methoden erließ. Ob es diesmal eine solide Grundlage für die jüngsten Haftbefehle gibt, wird von vielen Beobachtern durchaus in Zweifel gezogen.
Die Aufklärung eines Falls wie des Hariri-Mordes wäre selbst unter günstigen Bedingungen eine Herausforderung. In einem politisch aufgeheizten Umfeld, in dem die Verstrickungen verschiedener Personen kaum zu durchschauen sind und in dem permanent ermittlungsrelevante Details an die Öffentlichkeit gelangen, ist die Wahrscheinlichkeit solcher Fehler ungleich höher. Dass so kein glaubwürdiges Verfahren zustande kommt, ist absehbar.
Eine bittere Ironie
Anstatt diese Affäre zum Anlass zu nehmen, mit größerer Besonnenheit für die politischen Realitäten vorzugehen, überraschte das Tribunal im Februar dieses Jahres mit einem Grundsatzurteil, nach dem terroristische Anschläge künftig unter bestimmten Umständen von internationalen Strafgerichten verfolgt werden können. Lokale Kooperation, die im Hariri-Verfahren zumindest theoretisch durch Abkommen zugesagt war und für die Abwendung solcher Fehlschläge unabdingbar ist, wäre somit nicht mehr zwingend notwendig. En passant wurde damit eine internationale Rechtsnorm geschaffen, die zum Rezept für fehlgeleitete Verfahren taugt.
Internationale Strafverfolgung kann lokale politische Prozesse nicht ersetzen. Dieser Appell richtet sich vor allem an die Staaten des UN-Sicherheitsrats, die sowohl das Libanon-Tribunal als auch die problematischsten Fälle des Internationalen Strafgerichtshofs mandatiert haben. Wenn die jüngsten Entwicklungen den von manchen Staaten offenbar erwünschten Effekt haben sollten, dass auch der politische Arm der Hizbullah international als illegitim angesehen wird, ist damit für den Libanon nichts erreicht. In welche Sackgassen dieser Umgang mit politisch relevanten Akteuren führt, hat der Fall Hamas hinlänglich gezeigt.
Während seiner Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat sollte Deutschland darauf hinwirken, dass solche Strafverfahren ohne Aussicht auf Umsetzung bei gleichzeitig hohem Risiko nicht verantwortungslos mandatiert werden. Anlass zu einer solchen Positionierung dürfte es angesichts der Umbrüche in der arabischen Welt erneut geben, auch wenn der Fall Gaddafi schon beschlossene Sache ist.
Der Vorsitzende des Tribunals, Antonio Cassese, wiederholt in einem Gastbeitrag in der New York Times das Mantra, dass echte Stabilität nur möglich sei, wenn die Verantwortlichen solcher Verbrechen zur Rechenschaft gezogen und Feindschaften zwischen gesellschaftlichen Gruppen ausgeräumt werden. Doch statt Frieden und Gerechtigkeit zu stiften, zwingt das UN-Tribunal die libanesische Regierung nun zur Schadensbegrenzung. In den libanesischen Medien wird darauf spekuliert, dass die Regierung unter Premier Najib Mikati den Anschein erwecken wird, die Haftbefehle umsetzen zu wollen, ohne es jedoch tatsächlich zur Konfrontation kommen zu lassen.
Die libanesische Wirtschaft und Gesellschaft haben in den letzten Jahren eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, trotz politischer Dauerkrise und schier unüberwindbarer Gräben einigermaßen funktionsfähig zu bleiben. Es wäre mehr als bittere Ironie, wenn das UN-Tribunal die schwelenden Konflikte nun zur Explosion bringen würde.
Jakob Hensing
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.