Chokri Belaid war einer der prominentesten Kritiker der Regierung in Tunesien. Seine Anhänger machen die von Islamisten dominierte Regierung für den Mord an dem Oppositionellen verantwortlich. Während die Wirtschaft stagniert, wächst die Polarisierung der Gesellschaft zwischen Säkularen und Islamisten. Besonders die Salafisten bedrohen die demokratische Entwicklung des Landes.
Die große tunesische Zeitung al-Sabah nimmt kein Blatt vor den Mund: „Eine Katastrophe erschüttert Tunesien und die Regierung trägt die Verantwortung“. Die Katastrophe – das ist der Mord an Chokri Belaid. Der Jurist und Chef der marxistischen Partei „Bewegung der demokratischen Patrioten“ wurde am Montag von Unbekannten niedergeschossen. Belaid war unterwegs in seinem Wagen und wurde darin mit vier Kugeln niedergeschossen, woraufhin er seinen schweren Verletzungen kurz darauf erlag.
Al-Sabah gibt mit ihrer Schlagzeile vom Donnerstag eine Meinung wieder, die bei vielen Tunesiern verbreitet ist: Die Regierung, allen voran die Partei ElNahda, ist für den Mord an Belaid verantwortlich. Seine Witwe Basma sagte, ElNahda-Chef Rachid Ghannouchi persönlich stecke hinter dem Angriff. Chokri Belaid selbst soll am Tag vor dem Attentat erklärt haben: „Alle, die sich ElNahda entgegenstellen, werden zum Ziel der Gewalt.“ Zuvor hatten am Wochenende Unbekannte ein Treffen von Belaids Anhängern angegriffen, „Söldner des Regimes“ sollen es seiner Meinung nach gewesen sein.
Doch Belaids ärgste Feinde waren die Salafisten. Seit dem Sturz des Langzeitdiktators Zine al-Abidine Ben Ali haben diese immer mehr an Macht gewonnen und treten selbstbewusster auf denn je. Obwohl eine gesellschaftliche Minderheit, bestimmen die Salafisten zunehmend den politischen und kulturellen Diskurs in Tunesien. Sie legen im Alltag fest, was als islamisch gelten kann und somit gesellschaftlich akzeptabel ist.
Salafisten sollen Belaid mit dem Tode bedroht haben
Aufgrund ihres Drucks wurden in den vergangenen Jahren Filme zensiert, Theatervorführungen abgesagt, Kunstausstellungen geschlossen. Auch vor Gewalt schrecken die Salafisten nicht zurück: Im März 2012 stürmte ein Schlägertrupp die Universität Manouba, holte die tunesische Fahne von Flaggenmast und hisste stattdessen die schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis. Im gleichen Monat griffen Extremisten ein Kino an. Ihre Forderung ist eindeutig: ein islamistischer Staat in Tunesien. Belaid war der lautstärkste und prominenteste Gegner der radikalen Islamisten. Sie sollen ihn in den vergangenen Monaten deshalb mehrfach mit dem Tode bedroht haben.
Nach außen erklären auch Nahda-Vertreter, sie lehnten den Einfluss der Salafisten in Tunesien entschieden ab. Doch tatsächlich hat die Partei ein taktisches Bündnis mit ihnen geschlossen. Schon bei der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung im Oktober 2011 kamen Salafisten über Listenplätze der ElNahda ins Parlament.
Wer gehofft hatte, diese politische Einbindung würde die Radikalen mäßigen, sah sich getäuscht. Stattdessen hat der wachsende Einfluss der Salafisten – gestärkt durch üppige Finanzspritzen aus den Golfstaaten – dazu geführt, dass auch ElNahda-Vertreter sich immer radikaler äußern. Sie lehnen die Gleichberechtigung von Mann und Frau ab, fordern Frauen auf, ein Kopftuch zu tragen und stärken die Rechte islamischer Geistlicher. Führende Parteivertreter erklären in Interviews und auf Wahlveranstaltungen, Frauen sollen sich ihrer Ansicht nach aus dem Arbeitsleben fernhalten und sich um den Haushalt kümmern. ElNahda-Chef Ghannouchi hat öffentlich erklärt, die meisten Frauen seien für öffentliche Ämter ungeeignet. Die Hoffnung, die Partei könne an der Regierung eine ähnliche Entwicklung nehmen wie die konservativ-islamische AKP in der Türkei, hat sich bislang nicht erfüllt.
Die Wirtschaft entwickelt sich schlecht
Doch nicht nur der gesellschaftspolitische Kurs der Regierung erzürnt viele Tunesier und besonders die jungen Tunesier aus den Städten. Noch frustrierter sind sie darüber, dass ElNahda vorrangige Belange der Sicherheit und Wirtschaft im Land nicht in den Griff bekommt. Viele beklagen, dass die Polizei nicht ihre Aufgaben wahrnehme. Stattdessen hätten in einigen Gegenden selbsternannte Bürgerwehren die Kontrolle übernommen, die unliebsame Bürger schikanierten. So mancher traut sich deshalb abends nicht mehr auf die Straße.
Hinzu kommt die schlechte wirtschaftliche Lage. Tunesien ist abhängig vom Tourismus, doch wegen der Instabilität meiden viele Urlauber die Strände von Djerba und Hammamet. Die Löhne stagnieren landesweit, gleichzeitig steigen jedoch die Lebenshaltungskosten. Fleisch und Gemüse wird immer teurer, auch die Mieten steigen seit Monaten – auch weil viele Libyer nach dem Sturz Gaddafis in ihr westliches Nachbarland gezogen sind.
Kritiker werfen der Regierung vor, diese Probleme nicht anzugehen, sondern stattdessen Günstlinge mit Posten und Vorteilen zu versorgen, ganz ähnlich also wie es Ben Ali fast 24 Jahre lang tat.
Der anstehende Wahlkampf wird Tunesien weiter polarisieren
Die Wut darüber brach sich nach dem politischen Mord an Belaid Bahn. Tausende Tunesier demonstrierten vor dem Innenministerium auf der Avenue Bourguiba, der Hauptstraße von Tunis. Doch auch andernorts gingen die Menschen auf die Straße, etwa in der Bergarbeiterstatt Gafsa, die traditionell als links gilt und schon zu Ben Alis Zeiten ein Ort war, indem Arbeiter gegen das Regime aufbegehrten. Für den Freitag haben Gewerkschaften zu einem landesweiten Generalstreik aufgerufen.
Damit scheiterte auch der Versuch von Ministerpräsident Hamadi Jebali, mit der Bildung einer Technokratenregierung den Protestierenden den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Land steht vor Neuwahlen, der Wahlkampf verspricht turbulent zu werden. Die Polarisierung der Gesellschaft zwischen Islamisten verschiedener Couleur auf der einen und säkularen Kräften auf der anderen Seite wird sich weiter verschärfen. In der jungen Demokratie, das zeigt der Mord an Belaid, drohen jene die Oberhand zu gewinnen, die demokratische Grundwerte nicht nur ablehnen, sondern gewaltsam bekämpfen.