von Robert Chatterjee, Christoph Dinkelaker und Björn Zimprich
Bisher hat sich der Libanon von den Umwälzungen in der Region ausgeklinkt. Nun aber fallen Regierungskrise und die Eskalation in Syrien zusammen – mit unvorhersehbaren Folgen. Dem Zedernstaat stehen ungemütliche Wochen bevor.
Am 30. April nahmen Armeepanzer die Omari-Moschee im Herzen von Daraa unter Feuer. Sechs Tage nun war die Stadt abgeriegelt, die Dynamik von brutaler Repression und trotzigem Protest in Syrien erreichte eine neue Stufe. Ungeachtet von Schießbefehl und Massenverhaftungen hallte der Ruf des Arabischen Frühlings nun auch durch die Straßen von Daraa, Baniyas, Homs und selbst Damaskus: »Al-Sha´ab yurid Isqat al-Nizam«.
80 Kilometer westlich der syrischen Hauptstadt erklingt das Mantra des Protestes aus wummernden Boxen. »Al-Sha´ab yurid Isqat al-Nizam«, unterlegt mit treibenden Techno-Beats. Am Abend des 30. April ruft die beliebte West-Beiruter Bar »T-Marbouta« zum letzten Abfeiern vor der Schließung. Über Facebook wurde das Event angekündigt, der Alkohol wird in Massen und zum halben Preis ausgeschenkt und auf den Tischen schwitzt und hüpft die im Viertel Hamra omnipräsente Beiruter Bohème. Derselbe Ruf und doch zwei so unterschiedliche Welten: Die einen riskieren ihr Leben, die anderen eine heisere Stimme und einen deftigen Kater einer fiesen Whiskey-Cola-Mischung. Ende April, so schien es, war der Arabische Frühling am Libanon vorbeigerollt und seine Schockwellen in heiteren Tanzrhythmen aufgegangen.
Einen Monat später sind die Rollläden vor dem »T-Marbouta« längst gefallen und das Land ist sich schmerzlich bewusst, dass die Front des Arabischen Frühlings direkt vor der eigenen Haustür verläuft – und immer näher heranrückt. Der Libanon ist nicht in der Art von den Umwälzungen in der Region betroffen wie die autoritären, zentralistischen Regime von Rabat bis Sana´a. Ein wenig war der Libanon, diese levantinische Diva, die sich stets als das kulturelle und zivilisatorische Epizentrum der Region sieht, pikiert, als sich Anfang des Jahres ausgerechnet die Tunesier, dann die Ägypter, ihrer Regime entledigten, sich ins Zentrum des Weltinteresse demonstrierten und ganz nebenbei als neue Meister der »sozialen Medien« mauserten. Khalid Said, Mohamed Bouazizi und die zahlreichen »Tage des Zorns« versammelten erst virtuell auf Facebook, dann reell Hunderttausende auf den Straßen. Im Libanon bemühten sich Facebook-Aktivisten um die Aufnahme einer Tropfsteinhöhle zu den »Neuen Sieben Weltwundern« und feierten den größten Kichererbsenbrei der Welt.
Auf der anderen Seite war man vielleicht auch ein wenig erleichtert, mal nicht im Fokus der Konfrontation zu stehen: kein iranisch-saudischer Stellvertreterkrieg, gespannte aber verlässliche Ruhe an der Südgrenze zu Israel, ein florierender Tourismus- und Finanzsektor. Fast drei Jahre Aufschwung und Optimismus. Dass das Land seit Januar ohne Regierung ist, wurde dann halb achselzuckelnd, halb augenzwinkernd hingenommen – monatelange Hängepartien und Allianzrochaden ist man im Libanon gewohnt.
Den »Arabischen Frühling« und die latente Regierungskrise konnte der Libanon solange ignorieren, bis die Welle in Syrien angekommen war. Dass sich ausgerechnet im Nachbarland die Bevölkerung erheben würde, das hätte vor ein paar Monaten wohl niemand für möglich gehalten, und schon gar nicht die Libanesen. Im Zedernstaat kannte man die Syrer entweder als ungehobelte Besatzer oder als ungebildete Tagelöhner – beides keine idealen Revolutionsbedingungen für einen Aufstand im Reich der Assads, aber irgendwie doch wie eine Versicherung für den Libanon. Denn eines wissen die Libanesen aus ihrer jüngeren Geschichte genau: Sollte sich der Status Quo in Syrien ändern, betrifft es auch den Libanon – in mannigfaltiger Weise.
Spannungen in Tripoli, Showdown in Beirut und Anschlag in Saida
Und diese Auswirkungen werden von Woche zu Woche spürbarer im Libanon. Am 30. April vermeldeten libanesische Zeitungen den Beginn der Flüchtlingswelle. Insbesondere in der verarmten Akkar-Ebene im Nordlibanon suchten mehr und mehr Syrer Schutz im Nachbarland. Inzwischen haben etwa 5.000 die Grenze überquert, wie viele es nicht schafften, ist nicht bekannt. Der Druck auf die libanesischen Behörden wuchs und so dauerte es nicht lange, bis die libanesischen Sicherheitskräfte in Koordination mit den Syrern die Grenze abriegelten. Keine der beiden Seiten hat an ein Interesse, eine Flüchtlingsproblematik überhaupt einzugestehen, geschweige denn zu regeln und sich dann dazu öffentlich äußern zu müssen. Solange die libanesischen Sicherheitskräfte an den Grenzen einigermaßen geordnet sind, kann der Libanon sich noch Zeit borgen.
Doch gleichzeitig steigen die Spannungen in der nordlibanesischen Stadt Tripoli. In der mehrheitlich sunnitische Hafenmetropole, die wirtschaftlich und durch transnationale Familienbeziehungen eng an Syrien angebunden ist, lebt auch eine größere alawitische Gemeinde – wiederum die staatstragende Konfession in Syrien, der auch Präsident Baschar al-Assad angehört.
Gleichzeitig gilt Tripoli als die Hochburg der Salafisten im Libanon. Einige von ihnen flüchteten Anfang der 1980er aus Syrien in den Libanon, als der Vater des jetzigen syrischen Präsidenten Hafez al-Assad einen islamistischen Aufstand in Hama mit der Bombardierung der gesamten Stadt beantwortete. Auch der aktuelle Aufstand in Syrien wird vom syrischen Regime als rein islamistische Erhebung gebrandmarkt.
Entsprechend explosiv ist die tripolitanische Mischung. Alawiten und Salafisten leben nur eine Straße voneinander entfernt. Ein Funke reicht aus, um die Kämpfe aus dem Jahre 2008 wieder aufzunehmen. Als Puffer wurden damals in Tripoli Armee und Sicherheitskräfte stationiert. Würde das auch in diesem Jahr funktionieren? Dass es innerhalb der libanesischen Sicherheitskräfte durchaus verschiedene Loyalitäten gibt und offensichtlich immer tiefere Risse, wurde in der vergangenen Woche offenbar.
»Die Vernunft hat im Libanon wohl Urlaub genommen«
In Beirut kam es am Donnerstag zum Showdown. Beteiligt waren Telekommunikationsminister Charbel Nahhas von der »Freien Patriotischen Bewegung«, Teil des Bündnisses des 8. März um die schiitische Hizbullah, Einheiten der sunnitisch dominierten »Internal Security Forces«, die als loyal zu Übergangs-Premier Saad Hariri und dessen Bündnis des 14. März gelten, sowie Innenminister Ziyad Baroud, der ähnlich wie der maronitische Präsident Michel Suleiman versucht, einen neutralen Kurz zwischen den Blöcken zu fahren.
Laut Medienberichten wollte Telekommunikationsminister Charbel Nahhas ein drittes, seiner Ansicht nach illegales, Mobilfunknetzwerk des staatlichen Monopolisten OGERO deaktivieren. Zu diesem Zweck fuhr er in Begleitung mehrerer Mitarbeiter zu einem der Ministerialgebäude im Ost-Beiruter Stadtteil Adliyeh. Dort angekommen warteten bereits mehrere hundert Einheiten der »Internal Security Forces«, die dem Minister den Zutritt verwehrten.
Innenminister Ziyad Baroud gab den – theoretisch seinem Ressort unterstellten – Sicherheitskräften daraufhin die Order, sich unverzüglich aus dem Gebäude zurückzuziehen. ISF-Chef Aschraf Rifi ignorierte Barouds Anordnung und rechtfertigte sein Vorgehen mit einem Schutzauftrag seitens der OGERO-Führung.
Als Reaktion auf die Geschehnisse hat Innenminister Baroud unterdessen seinen sofortigen Rücktritt erklärt. Auf einer Pressekonferenz erklärte der sichtlich entnervte Baroud: »Es scheint mir, dass die Vernunft im Libanon Urlaub genommen hat und das Recht eine persönliche Meinung ist«, und fuhr fort: »Ich möchte kein Minister sein, dessen Kompetenzen sich darauf beschränken, die Post des Ministeriums zu unterschreiben. Deshalb habe ich mich heute von meinen Pflichten entbunden.«
Der nächste Knall folgte dann am Freitag Nachmittag. Um vier Uhr Ortszeit explodierte in Rmeileh nördlich von Saida eine Bombe am Straßenrand. Der Anschlag galt einem Fahrzeug italienischer UNIFIL-Soldaten im Südlibanon. Bisher hat sich niemand zu dem Anschlag bekannt. Sechs Soldaten wurden verletzt, davon zwei schwer. Italien kündigte anschließend an, seine Beteiligung an der UNIFIL-Mission schrittweise zu reduzieren.
Eine Hizbullah in Schwierigkeiten wird unberechenbar
Interims-Premierminister Saad Hariri verurteilte den Anschlag in einer ersten Stellungnahme.
Das libanesische Territorium dürfe nicht genutzt werden, um die internationale Gemeinschaft zu warnen, so Hariri. Diese Aussage spiegelt Spekulationen aus dem Lager des 14. März wider, nach denen Syrien hinter dem Anschlag stecken könnte. Konfrontiert mit verschärften internationalen Sanktionen versuche das Assad-Regime, die internationale Gemeinschaft mit diesem Anschlag von neuerlichen Zwangsmassnahmen abzuschrecken, so die Argumentation.
Seinen Einfluss im Libanon hat Damaskus in den vergangenen Jahren immer wieder auch über die Hizbullah spüren lassen. Doch selbst die oft so übermächtig wirkende Schiiten-Partei hat so ihre Probleme, sich in diesen turbulenten Zeiten richtig zu positionieren. Eigentlich stand für 2011 auf der Agenda, das Sondertribunal für den Libanon (STL) auseinanderzunehmen. Dafür hatte man sich seit dem vergangenen Sommer warm geschossen und planmäßig im Januar die Regierung Hariri zu Fall gebracht. Doch dann kam Syrien dazwischen und eine Regierungsbildung, die der Hizbullah vor allem als Absicherung für die Abwicklung des Sondertribunals gilt, steht in weiter Ferne, solange Damaskus alle Hände voll zu tun, die eigene aufmüpfige Bevölkerung unter Kontrolle zu bringen.
Insbesondere Generalsekretär Hassan Nasrallah, noch vor einem Jahr wohl einer der populärsten Figuren der ganzen Region, kann nicht wirklich auf die Revolutionswelle aufspringen und wirkt in seinen sonst rhetorisch ausgefeilten Reden verblüffend inkonsistent – und fast ein wenig blutleer. In der vergangenen Woche nahm er das Thema, zu dem er und seine Partei bislang verdächtig lang geschwiegen hatten, in einer Fernsehansprache auf. Der Widerspruch zwischen dem leidenschaftlichen Plädoyer gegen die brutale Repression des bahrainischen Königshauses gegen die dortige, inzwischen mehrheitlich schiitische, Protestbewegung und der bedingungslosen Solidarität mit dem Assad-Regime muss ihm wohl selber aufgefallen sein. Wohl deshalb spulte Nasrallah seine Loyalitätsbekundung so schnell herunter, als ob er das Thema am liebsten ganz vom Tisch hätte. Liegt hier die Chance für eine Schwächung für der bei nicht wenigen unbeliebten Hizbullah? So einfach wird sich die Partei Gottes nicht abkanzeln lassen. Eines wissen die Libanesen genau: Wird Hizbullah in die Ecke gedrängt, ist sie am gefährlichsten, weil unberechenbar.
Alkoholpegel als Krisenbarometer
Viele Libanesen begreifen die Ereignisse als wegweisend: Die Sicherheitslage hat sich innerhalb von wenigen Tagen rapide verschlechtert. Die veränderte Realität wirkt sich nun auch auf den libanesischen Alltag aus. Seit dem Anschlag auf die UNIFIL am späten Freitag Nachmittag hat sich der Verkehr in Libanons Hauptstadt Beirut merklich reduziert. Ein wichtiges Indiz dafür, dass die aktuellen Vorkommnisse als Vorboten einer schwerwiegenderen Krise wahrgenommen werden.
Hat sich die Krise bereits angedeutet, als am 15. März in den Straßen von Daraa erstmals Blut und durch die Zapfhähne im »T-Marbouta« noch regelmäßig frisches Almaza-Bier floss? Sicher, niemand hatte derartige Entwicklungen in Syrien für möglich gehalten. Aber in diesem Frühjahr haben sich die Dynamiken geändert, in Tunesien, Ägypten, Libyen und dem Jemen. Das konnten auch die Libanesen beobachten und das Undenkbare denken.
Vielleicht aber waren sich die Tanzwütigen an jenem Abend am 30. April dessen auch so bewusst wie nie. Die Libanesen sind bekannt dafür, auch, vielleicht sogar gerade, in den schlimmsten Krisen fast trotzig weiterzufeiern, als gäbe es keinen Morgen. Der Alkoholpegel als Krisenbarometer. Ende Mai ist der Libanon mit einem dicken Kater in der Realität aufgewacht.