10.11.2010
Konflikt um Westsahara: Mundtot in Marokko

Bei schweren Kämpfen in der Westsahara sind in den letzten Tagen mehrere Menschen getötet worden. Auch 35 Jahre nachdem Marokko das Wüstengebiet im Nordwesten Afrikas annektierte, liegt eine Lösung des Konflikts noch immer in weiter Ferne

Bei den schwersten Unruhen seit Jahrzehnten sind in der Westsahara in den letzten Tagen mindestens fünf Menschen getötet und Dutzende verletzt worden. Am Montag stürmten marokkanische Sicherheitskräfte ein Zeltlager, das Protestierende außerhalb der Hauptstadt El Aaiun errichtet hatten und in dem sich in den letzten Wochen bis zu 12.000 Angehörige des Sahrawi-Volkes versammelt hatten.

Mit der Errichtung des Protestlagers Gdeim Izzeik wollten die Demonstranten auf die miserable wirtschaftliche Lage in der seit 1975 von Marokko annektierten Westsahara aufmerksam machen. Unter anderem forderten die Protestler mehr Arbeitsplätze und größere Investitionen in ihre Heimat. Außerdem kritisierten sie die Ausbeutung der Rohstoffvorkommen in der Westsahara, von denen zwar die Zentralregierung in Rabat, nicht aber die Sahrawis profitierten.

Politische Forderungen nach größerer Autonomie oder gar Unabhängigkeit vom marokkanischen Königreich rückten dem gegenüber in den Hintergrund, auch weil die Initiative für den Protest nicht von der Polisario, der größten und mächtigsten Unabhängigkeitsbewegung in der Westsahara ausging. Den Bewohnern von Gdeim Izzeik nutzte die Distanzierung von der Polisario, die in Marokko als Staatsfeind Nummer Eins betrachtet wird, jedoch wenig. Am Montagmorgen stürmten Polizisten und Paramilitärs das Protestlager vor den Toren der saharischen Hauptstadt.

Marokko verhindert eine unabhängige Berichterstattung

Binnen weniger Stunden griffen die Kämpfe auch auf El Aaiun über. Marokkanische Behörden bestätigten bislang den Tod von fünf Sicherheitskräften und Feuerwehrleuten. Die Polisario meldet den Tod eines 26-jährigen Sahrawis, die marokkanische Seite dementiert diese Behauptung bislang. Offiziell begründete Marokkos Regierung die Erstürmung des Lagers damit, dass man Menschen befreien wollte, die gegen ihren Willen in Gdeim Izzeik festgehalten wurden.

Unabhängige Berichte aus der Westsahara gibt es derzeit nicht. Die marokkanischen Behörden haben das Gebiet weiträumig abgeriegelt und versuchen eine unabhängige Berichterstattung um jeden Preis zu verhindern. Der Westsahara-Konflikt ist für die Regierung in Rabat seit jeher ein rotes Tuch. Kritische Stimmen, die den Hoheitsanspruch Marokkos über das Wüstengebiet in Frage stellen, werden rigide unterdrückt. Erst vor 14 Tagen wurde dem führenden arabischen Nachrichtensender al-Jazeera die Arbeit im Königreich untersagt. Die Begründung: »Al-Jazeeras Berichterstattung hat das Bild Marokkos verzerrt und seine Interessen massiv beschädigt, allen voran die territoriale Integrität.« Die Marokkaner erzürnten besonders al-Jazeeras Berichte aus der Westsahara, in denen regelmäßig Vertreter der Polisario zu Wort kommen.

Durch die Kämpfe in Gdeim Izzeik rückt der Konflikt nun jedoch wieder ins internationale Blicklicht. Genau zu dem Zeitpunkt, da sich Vertreter Marokkos und der Polisario in den USA zu einer neuen Verhandlungsrunde für eine Beilegung des Konfliktes treffen. Die UN und die Vereinigen Staaten bemühen sich seit einem Waffenstillstand 1991 um eine friedliche Konfliktlösung. Bislang scheiterten jedoch alle Verhandlungsrunden an der Weigerung Marokkos, ein Referendum über das Selbstbestimmungsrecht der Westsahara zuzulassen. Die Polisario und ihr langjähriger Unterstützer Algerien sind wiederum nicht willens von ihrer Maximalforderung, der Unabhängigkeit der Westsahara, abzurücken.

Der Polisario droht ein ähnliches Schicksal wie der PLO

Die Ereignisse in Gdeim Izzeik zeigen jedoch, dass die Polisario Gefahr läuft, ihren Alleinvertretungsanspruch für das sahrawische Volk aufs Spiel zu setzen. Die Errichtung des Lagers hat gezeigt, dass es eine große Protestbewegung in der Westsahara gibt, der eine kurzfristige Verbesserung der Lebensbedingungen wichtiger ist, als die wage Hoffnung auf die Unabhängigkeit in ferner Zukunft. Die Führungselite der Polisario droht eine ähnliche Entwicklung zu nehmen wie die PLO in Palästina. Nach Jahrzehnten des Kampfes gegen ein Besatzungsregime ist der Kontakt zu Teilen der eigenen Anhängerschaft brüchig und der Blick für die alltäglichen Probleme der Menschen getrübt worden. Erschwert wird die Lage der Unabhängigkeitskämpfer dadurch, dass ein großer Teil der Polisario-Führung seit Jahren im algerischen Exil lebt.

Kurzfristig dürfte eine mögliche Schwächung der Polisario der Regierung in Marokko in die Hände spielen, getreu der Devise: »Ein gespaltener Gegner ist ein schwacher Gegner.« Auf lange Sicht macht eine Spaltung der sahrawischen Unabhängigkeitsbewegung eine Konfliktlösung jedoch immer schwieriger. Sollten islamistische Gruppen in den kommenden Jahren die Westsahara als Operationsfeld entdecken, dürfte sich die Freude in Rabat über die Schwächung der Polisario bald legen.