16.03.2016
Kämpfe um Deir ez-Zor: Die geschundene Stadt
Ausschnitt eines YouTube-Videos über die Bombardierung von Deir ez-Zor, Dezember 2015. Photo: CC-BY ivano03
Ausschnitt eines YouTube-Videos über die Bombardierung von Deir ez-Zor, Dezember 2015. Photo: CC-BY ivano03

Seit Beginn der Revolution vor genau fünf Jahren war die Stadt Deir ez-Zor in der gleichnamigen Provinz im Osten Syriens Schauplatz von Kämpfen zwischen Regierungstruppen und Aufständischen. 2013 konnte der so genannte Islamische Staat seinen Einfluss in der Region ausweiten und kontrolliert inzwischen 90% dieser vom Krieg geschundenen Stadt. Der syrische Journalist Mohammed Hassan berichtet 

Die Organisation Islamischer Staat (Anm.d.Ü.: Der Autor bezeichnet den „Islamischen Staat“ im Text meist als „die Organisation“) attackiert weiterhin Stellungen des syrischen Regimes in der Provinz Deir ez-Zor im Osten Syriens. Seit dem Morgengrauen des 16. Januars 2016 bis zum Tag der Niederschrift dieses Berichts halten die Kämpfe an, wobei es der Organisation gelungen ist, die Kontrolle über das östliche Stadtviertel al-Baghliyya und eine Menge militärischer Ausrüstung sowie Waffen und Munition zu erlangen.

Ayyash-Waffenlager in der Hand des Islamischen Staats

Insbesondere die Eroberung des Ayyash-Waffenlagers westlich der Stadt Deir ez-Zor war ein großer Erfolg für die Organisation, denn Ayyash ist das drittgrößte Waffenlager des Regimes im Osten Syriens.

Mohammed Khader von der Organisation „Sound and Picture“ (صوت وصورة), die sich auf die Dokumentation der Vergehen der Organisation Islamischer Staat spezialisiert hat, sagte in einer Erklärung: „Nachdem die Organisation die Einheiten des Regimes vertrieben hatte, übernahm sie die volle Kontrolle über das Waffenlager Ayyash. Es enthält leichte und schwere Waffen und Munition sowie tausende Liter an Treibstoff – Diesel, Benzin und Kerosin –, welchen das Regime zur Nutzung seiner Militärfahrzeuge in der Region Deir az-Zor verwendet hat.“

Khader fügte hinzu: „Die wichtigste Munition, welcher die Organisation sich bemächtigen konnte, sind Panzergranaten, Kornet Panzerabwehrlenkwaffen und Flugabwehrraketen vom Typ SAM 6; außerdem tausende Kalaschnikov-Patronen und Luftabwehrmunition vom Typ 23 mm, 14,5 mm und 12,5 mm. Auch einige Panzer und gepanzerte Fahrzeuge gehören zu den Eroberungen.“

Den Quellen zufolge, plant die Organisation, den Inhalt der Lagerhallen möglichst schnell durch zivile Kräfte und einige ihrer Gefangenen in Gebiete zu transportieren, die stärker unter der eigenen Kontrolle sind, das heißt vor allem in die ländlichen Gebieten von Deir ez-Zor. Sie befürchtet, dass die Lagerhallen Angriffsziel von Flugzeugen werden könnten und wissen, dass die Menge an Waffen und Munition ausreicht, um die Organisation eine lange Zeit militärisch zu versorgen.

Abd al-Nasser al-Ayed, ein ehemaliger Offizier der syrischen Luftwaffe, betonte, dass die Organisation von den Flugabwehrraketen SAM 6 nicht profitieren würde, da diese veraltet und sehr schwer zu bedienen seien. Man bräuchte hierfür Expert_innen und genau daran fehle es der Organisation. Jeglicher Defekt mache die Raketen aus Mangel an Ersatzteilen darüber hinaus unbrauchbar, so Ayed.

Schwere Verluste auf Seiten des syrischen Regimes

Die Organisation Islamischer Staat konnte während der letzten Kämpfe den Kräften des Regimes und den mit ihnen verbündeten Milizen erheblichen Schaden zufügen.

So berichtet Omar Abu Laila, Geschäftsführer der Gruppe „Deir ez-Zor 24 al-ilamiyya“ (دير الزور 24 الإعلامية): „Bei Zusammenstößen zwischen den beiden Gruppen westlich der Stadt wurden 108 Mitglieder der Regierungstruppen und der mit ihnen verbündeten Milizen durch die Organisation Daesh getötet, darunter vier hochrangige Offiziere. Außerdem wurden mehr als 30 Soldaten der Regierungstruppen bei Kämpfen am Militärflughafen von Deir ez-Zor östlich der Stadt getötet."

Ein Sprecher der Nachrichtenagentur „Omaq al-akhbariyya“ ( أعماق الإخبارية) sagte, dass unter den Getöteten auch Kämpfer der libanesischen Hisbollah gewesen seien, welche an der Seite der Regierungstruppen in Syrien kämpfe. Abu Laila jedoch stritt dies ab und betonte, dass die Organisation bei den letzten Zusammenstößen in Deir ez-Zor keine Mitglieder der Hisbollah getötet habe, da sich letztere nur im Innern des vom Regime gehaltenen Militärflughafens aufhielten und sich vor allem bei der strategischen Planung beteiligten. Nur in seltenen Fällen seien sie direkt in die Kämpfe involviert.

Die Organisation ihrerseits erlitt, laut Abu Laila, ebenfalls große Verluste bei diesen Zusammenstößen: Mehr als 70 ihrer Mitglieder wurden getötet, davon seien 50 lokale Kämpfer und 20 ausländische arabische Kämpfer gewesen.

Die russische Luftwaffe tötet Zivilisten

Angesichts der Ausbreitung der Organisation Islamischer Staat in Deir ez-Zor, verstärkte die russische Luftwaffe ihre Angriffe auf die Stadt und ihre Umgebung und bombardierte dabei auch zivile Ziele, einige davon weit entfernt von den Kampfschauplätzen. (Anm.d.R.: Der Text wurde vor dem georderten Abzug des russischen Militärs aus Syrien verfasst.)

Muthana al-Issa, ein Arzt aus Deir ez-Zor, bestätigte, dass seit der Intervention Russlands in Syrien – unter dem Vorwand des Kampfs gegen den Terrorismus – die russischen Flugzeuge nicht das Hauptquartier der Organisation, sondern Orte bombardiert hätten, die voller Zivilist_innen waren. Er fügte hinzu: „Allerdings haben sich die russischen Luftangriffe in letzter Zeit auch verstärkt gegen Daesh gewandt, nachdem diese vermehrt Stellungen des Regimes in der Stadt angegriffen hatte.“ Dennoch: 90% der Angriffe der russischen Kampfflugzeuge zielten, so al-Issa, auf zivile Dörfer, die relativ weit entfernt seien von den Kampfschauplätzen und Zentren der Organisation.

Al-Issa fügte hinzu, dass die russischen Angriffe während der ersten sieben Tage nach Beginn der Auseinandersetzung mehr als 200 zivile Todesopfer gefordert hätten, darunter Frauen und Kinder. Auch sei es zu 60 Fällen schwerer Verletzungen gekommen. In den Dörfern al-Bulil, Mahmida, al-Kharita, al-Janina, al-Hussainiyya, Shaqra, Ayyash und al-Gasbi seien ganze Familien ausgelöscht worden – und dies obwohl diese Dörfer weit von den Kampfschauplätzen zwischen dem Regime und der Organisation Islamischer Staat entfernt lägen. Demgegenüber seien nur drei getötete Mitglieder der Organisation im Zuge dieser Bombardierungen verzeichnet worden.

Verhaftungen im Viertel al-Baghliyya

Nachdem die Organisation Islamischer Staat die Kontrolle über das Viertel Baghliyya im Osten der Stadt übernommen hatte, führten ihre Mitglieder vor Ort Verhaftungen durch unter dem Vorwand, nach Mitgliedern der Miliz National Defence Forces (ميلشيات جيش الدفاع الوطني) zu suchen, welche an der Seite des syrischen Regimes kämpft. Die Gefangenen wurden in die Städte Madan, al-Kharita und Shamitiyya gebracht, welche sich im ländlichen Gebiet östlich von Deir ez-Zor befinden.

Ein Mädchen aus dem Viertel al-Baghliyya sagte aus: „Die Organisation hat einige Leute innerhalb des Viertels verhaftet und andere, als diese versuchten, das Viertel zu verlassen, um in die befreiten ländlichen Gebiete zu gelangen. Den Bewohner_innen war es zu diesem Zeitpunkt bereits verboten, sich in die Gebiete zu begeben, welche unter der Kontrolle des Regimes standen. Frauen und Kinder unter 14 Jahren wurden letztlich aus dem Gefängnis freigelassen, alle Männer zwischen 14 und 50 Jahren wurden jedoch im Gefängnis behalten um dort verhört zu werden.“

Die Organisation hatte in den Moscheen verkündet, dass alle Gefangenen verhört werden würden. Diejenigen, bei denen keine Verbindung zum Regime festgestellt werden könne, würden nach dem Verhör freigelassen werden. Diejenigen, welchen man eine Verbindung zum Regime oder einer regimenahen Miliz nachweisen könne, würden vor ein Gericht der Organisation gestellt und verurteilt.

Eine private Quelle gab an, dass bisher etwa 100 Personen aus dem Viertel al-Baghliyya in Gefängnissen der Organisation säßen, ohne dass man über ihr Schicksal Bescheid wisse.

Die Stadt Deir ez-Zor liegt im Osten Syriens nahe der irakischen Grenze und befindet sich in einer Gegend, die sehr reich an Öl ist. Sie war eine der ersten Städte, welche gegen das Regime von Bashar al-Assad revoltierte und wurde zum Opfer vieler seiner Verbrechen. Deir ez-Zor erlebte in der jüngsten Vergangenheit viele Tragödien; zuletzt die Eroberung durch die Organisation Islamischer Staat, welche im Juli 2014 nach siebenmonatigen Kämpfen die Freie Syrische Armee aus diesem Gebiet vertrieben hatte. Die Organisation beging in dieser Zeit abscheuliche Verbrechen, beispielsweise töteten sie mehr als 1200 Angehörigen des sunnitischen Clans der al-Shaitat, welcher gegen sie revoltiert hatte. Heute kontrolliert sie etwa 90% der Stadt, die restlichen 10% sind unter der Kontrolle des syrischen Regimes.

Die Organisation Islamischer Staat greift in alle Bereiche des Lebens ein, um die Revolution zu ersticken und die Stadt in Schwarz zu hüllen.

 

Aus dem Arabischen von Laura Overmeyer

 

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