Ein Beitrag von Amina Nolte
Anfang August wurde in Amman das Finale der 29. jordanischen Fußballmeisterschaft ausgetragen. Zum achten Mal hat sich die Mannschaft „Wihdat“ auf den ersten Platz der nationalen Liga gekickt - nur knapp gefolgt von der Mannschaft „Faisali“, die den Titel in diesem Jahr nicht verteidigen konnte und mit nur sechs Siegen hinter Wihdat zurückbleiben musste.
So sehr es auf dem Feld nur um das Spiel, den unmittelbaren Sieg gehen mag, so sehr ist der Fußball aber auch Ausdruck weitaus tiefer liegender Spannungen und Konflikte in der jordanischen Gesellschaft: Wihdat ist nicht nur der Name des Siegerteams, es ist auch der Name und die Mannschaft eines palästinensischen Flüchtlingslagers in Amman. Faisali hingegen vertritt überwiegend die Fußballfans, die sich als regierungstreue Konservative oder auch als die „echten Jordanier“ verstehen. Somit ist in Amman mehr im Spiel, wenn es auf dem Feld augenscheinlich nur um Fußball geht. Denn es ist zugleich auch ein Wettstreit um Anerkennung, Deutungshoheit und politischen Einfluss in Jordanien. Und ist somit auch Ausdruck der Suche und des Ringens um eine gemeinsame jordanische Identität.
Doch diese Suche findet in Jordanien nicht nur auf dem Fußballfeld statt: auch die Regierung und das Königshaus haben auf die zunehmenden innergesellschaftlichen Spannungen reagiert: „We are all Jordan“ so heißt die dritte nationale Kampagne innerhalb von zehn Jahren. Diese kann als Versuch verstanden werden, eine hochgradig heterogene Gesellschaft mit vielen Subidentitäten zumindest in ihrem nationalen Selbstverständnis unter einem Slogan zu vereinen und dabei auch mögliche innergesellschaftliche Konflikte zu überlagern.
Denn so sehr das „We“ das Bild einer geeinten und inklusiven jordanischen Gesellschaft transportieren soll, so sehr wirft es auch die Frage auf, wer Teil dieses jordanischen „Wir-Gefühls“ ist, sein darf, und auch zukünftig sein wird. Für eine konstruktive innergesellschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Frage im Alltag bleibt aber kaum noch Zeit, denn am 9. November ist die jordanische Bevölkerung dazu aufgerufen, sich durch Wahlen an der neuen Zusammensetzung des nationalen Parlamentes zu beteiligen.
Die Wahlen sind das politische Menetekel der gesellschaftlichen Spannungen. Es sind die ersten nach einem veränderten Wahlgesetz, das erst im Juni 2010 von der jordanischen Regierung verabschiedet wurde. Dieses folgte der Auflösung des Parlamentes und der Regierung durch König Abdullah II im November 2009, was zum einen eine politische Krise Jordaniens, zum anderen den Willen zur politischen Reform, vor allem aber zur wirtschaftlichen Liberalisierung des Landes, zum Ausdruck brachte.
Doch auch das neue Wahlgesetz hat die Spannungen nicht beilegen können, sondern scheinbar noch zu deren Verstärkung beigetragen. Von vielen politischen Akteuren war eine Veränderung des Wahlgesetzes nachdrücklich eingefordert und erhofft worden. Das Resultat jedoch enttäuschte vor allem die reformwilligen und demokratischen Kräfte in Jordanien: weder die gewünschte Umstrukturierung hin zu einem Proporz-System war berücksichtigt, noch die von vielen verlangte Wahl des Premierministers durch das Parlament (und nicht, wie gehabt durch den König) umgesetzt worden. Auch das „one-man, one-vote“-System wurde beibehalten. Diesem wird vorgeworfen, Clan- und Familienstrukturen zu begünstigen und somit die Mitwirkungen von Parteien im politischen Prozess bewusst zu erschweren. Als Ausdruck dieser Diskrepanz wird das Wahlsystem des Weiteren dafür kritisiert, dass es die partikularen und lokalen Interessen von bestimmten Randgruppen zum Nachteil von gemeinsamen nationalen Interessen bevorteilen würde.
Als einziger (wenn auch kleiner) Erfolg wird die strukturelle Veränderung des Gesetzes hinsichtlich der neuen Zuteilung der Sitze auf die Städte verbucht. Viele sehen darin eine lange geforderte Änderung der Wahlkreiszuteilung zugunsten der palästinensischen Bevölkerung, die vor allem in den größeren Städten ansässig ist und sich durch das bisherige Wahlgesetz im Parlament unterrepräsentiert fühlte. Durch die erfolgte Änderung haben Amman, Irbid und Zarqa an Sitzen im Parlament hinzugewonnen, das nun insgesamt über 120 statt 110 Sitze verfügt.
Diese Veränderung spielt zugleich den Ängsten der Nationalisten in die Hände, die sich historisch als Ost- bzw. Transjordanier verstehen. Schon seit 1988, dem Jahr in dem Jordanien auf jeglichen Anspruch auf die Westbank verzichtete, sprechen sie sich gegen den zunehmenden Einfluss der palästinensischen Bevölkerung auf die jordanische Politik und Gesellschaft aus. Der Argwohn der Transjordanier gilt der vermeintlichen Überfremdung bzw. „Überpalästinensisierung“ der traditionell tribalen jordanischen Gesellschaft. Besonders deutlich wurde dies in einer im April gestarteten Kampagne des „National Comittee of Military Veterans“. Diese beinhaltete unter anderem die Forderung, die palästinensische Bevölkerung von der vollen jordanischen Staatsbürgerschaft auszuschließen. Des Weiteren forderte die Kampagne eine Rücksendung von Palästinensern in die Westbank und somit deren Unterstellung unter die politische Kontrolle der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Deutlichster Scheidepunkt und Sinnbild für die Konfliktlinie innerhalb der Bevölkerung ist daher der Jordan-Fluss. Der eine Teil der jordanischen Bevölkerung stammt aus dessen Westen (heute: palästinensische Gebiete und Israel) und der andere sieht seine Heimat in dessen Osten (Transjordanien). Die Jordanier palästinensischer Herkunft, 1948 oder 1967 von den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und den arabischen Armeen bedroht, flohen in die Gebiete östlich des Jordans und fanden dort Exil. Seitdem stellen sie ca. 60-70% der jordanischen Bevölkerung und sind somit – entgegen offizieller Verlautbarungen – keine Minderheit in Jordanien. Die meisten besitzen die volle jordanische Staatsbürgerschaft. Doch für viele hat diese nur auf dem Papier tatsächliche Bedeutung. Emotional bleibt die Identifizierung mit Palästina der Hauptbezugspunkt der palästinensischen Bevölkerung Jordaniens und Ausdruck eines Gegensatzes zwischen Loyalität mit Jordanien und dem Kampf für einen freien palästinensischen Staat sowie das Rückkehrrecht in die einstige Heimat.
So wird auch deutlich, dass der „We are all Jordan“-Slogan anstelle der Besiegelung einer homogenen jordanischen Identität, eher als Ausdruck dreier unterschiedlicher Verständnisse von nationaler Einheit verstanden werden kann: dem Königshaus und der Regierung geht es vor allem um den Erhalt der politischen Stabilität des Landes und eine Vorreiterrolle als arabischer Staat im regionalen Mächtegleichgewicht ; die Transjordanier hingegen versuchen sich vor allem ihre bisherige Vorherrschaft im staatlichen Sektor (Bürokratie, Polizei, Militär, Geheimdienst) zu sichern. Dadurch wollen sie die Wichtigkeit von Clan- und Familienstrukturen betonen und sich somit die Deutungshoheit über eine kollektive und genuine jordanische Identität sichern.
Die Palästinenser hingegen kämpfen an zwei Fronten: zum einen um ein größeres Maß an politischer Mitbestimmung in Jordanien, zum anderen aber gegen die staatliche Politik einer Normalisierung des Verhältnisses zu Israel. Gerade in der Fortführung und Vertiefung von politischen und ökonomischen Beziehungen zum jüdischen Staat sehen sie das größte Hindernis für einen souveränen palästinensischen Staat.
Es verwundert daher nicht, dass viele palästinensische Jordanier sich vom Staat politisch nicht repräsentiert fühlen und sich politischen Kräften anschließen, die eine Normalisierung mit Israel verhindern und bekämpfen wollen. Eine wichtige Rolle, nicht nur in dieser Hinsicht, spielt die Islamische Aktionsfront. Sie ist ein Ableger der ägyptischen Muslimbruderschaft. Im Gegensatz zu Ägypten, wo die Muslimbruderschaft offiziell vor dem Hintergrund des Notstandsparagraphen verboten ist, ist die Muslimbruderschaft seit der jordanischen Staatsgründung ein legaler Akteur im gesellschaftlichen Prozess. Ihr politischer Arm, die islamische Aktionsfront (IAF), existiert seit 1992, dem Jahr in dem die Gründung und politische Arbeit von politischen Parteien durch König Hussein wieder erlaubt wurde. Diese gilt als wichtige, wenn nicht wichtigste Oppositionspartei im Land und findet zunehmend Zustimmung bei der Bevölkerung (geschätzte 30%). Es war auch die IAF, die auf eine Änderung des Wahlgesetztes gedrängt und eine Neueinteilung der Wahlbezirke gefordert hatte. Als Reaktion auf das nur unwesentlich veränderte Wahlgesetz hat die IAF nun einen Boykott der Wahlen im November angekündigt und sich somit als politischer Akteur aus dem Wahlkampf zurückgezogen. Sie wirft der Regierung vor, mit dem neuen Wahlgesetz und dem beibehaltenen Stimmensystem die tribalen und königstreuen Kräfte weiterhin und bewusst zu Gunsten des Status Quo zu bevorteilen.
Die Entscheidung des Wahlboykotts der IAF sollte in ihrer Bedeutung für den politischen Prozess in Jordanien nicht unterschätzt werden: zum einen weil sie sich damit politisch bewusst ins Abseits katapultiert und somit auch jeder parlamentarischen Kontrolle entzieht. Zum anderen stellt der Boykott aber auch eine herbe Niederlage für den jordanischen Staat dar, der es somit verpasst seine politischen Kräfte in den nationalen Prozess einzubinden und durch eine Demokratisierung des Wahlsystems die Integration von wichtigen politischen Kräften zu sichern und somit deren Marginalisierung bzw. vielleicht auch Radikalisierung zu verhindern.
Es bleibt also abzuwarten welche politischen Veränderungen und Konstellationen sich durch das geänderte Wahlgesetz und die Wahlen im November ergeben werden. Eine umfassende politische Öffnung und Veränderung der politischen Strukturen wird wohl, wie auch schon in der zögerlichen und unwesentlichen Veränderung des Wahlgesetzes angedeutet, vorerst ausbleiben.
Bis dahin bleibt das Feld den gesellschaftlichen Kräften in Jordanien überlassen, deren Vorstellung von der Zukunft eines jordanischen Staates teilweise weit auseinandergehen. Eine Sache jedoch eint die Jordanier, egal ob von Stadt oder Land, östlich oder westlich des Jordanflusses oder ob nun Wihdat oder Faisali-Fan: Jordanien hat sich für den Asia Cup 2011 in Qatar qualifizieren können. Das ganze Land fiebert dem großen Fußballtunier der arabischen und ostasiatischen Länder entgegen und hofft auf einen glorreichen Sieg der jordanischen Mannschaft auf dem Spielfeld. Somit schafft der Fußball vielleicht, was in Jordanien zwar politisch gewollt, gesellschaftlich und strukturell aber noch lange nicht geschafft ist: den Bezug auf eine gemeinsame jordanische Identität.