29.12.2009
Iran - Auf dem Weg ins Ungewisse
Von Christoph Dinkelaker und Christoph Sydow

Straßenkämpfe in Großstädten von Tabriz bis Shiraz, bis zu 15 getötete Demonstranten – im Iran brennt die Luft. Im Zuge der Beerdigung des regierungskritischen Großayatollahs Hossein Ali Montazeri und der Aschura-Prozessionen sind die Auseinandersetzungen zwischen der grünen Protestbewegung um Oppositionsführer Mir Hossein Moussawi und dem Regierungslager mit seinem (para-)militärischen Sicherheitsapparat in den letzten Tagen eskaliert.

Wirklich überraschend kommt das erneute Aufflammen der Gewalt nicht: Die Protestwelle gegen Präsident Ahmadinejad und Revolutionsführer Ali Khamenei war entgegen der Berichterstattung zahlreicher westlichen Medien nie ganz abgeebbt. Im Gegenteil erschütterten Berichte über Folterungen und Vergewaltigungen im berüchtigten Evin-Gefängnis und Schauprozesse gegen Oppositionelle das Vertrauen weiter Teile der Bevölkerung in die Islamische Republik nachhaltig. Auch die Anlässe für den neuerlichen politischen Protest können als geradezu klassisch bezeichnet werden: Beerdigungen ranghoher populärer Kleriker und Aschura-Kundgebungen bieten in repressiven Phasen eine seltene Möglichkeit, sich in der Öffentlichkeit zu versammeln. Die politische Umdeutung der religiösen Botschaft Aschuras – Schiiten gedenken während der Prozessionen dem Martyrium Imam Husseins – als Aufruf zum Widerstand gegen die Tyrannei hatte zudem nicht zuletzt der Vater der Islamischen Revolution, Ruhollah Khomeini, propagiert.

Die letzten Tage sind von mehreren neuen Entwicklungen gekennzeichnet. Zum Einen steigt sowohl auf Seiten der Polizei als auch der Demonstranten die Gewaltbereitschaft. Ali Habibi Mussawi, 43 Jahre alter Neffe des ehemaligen Präsidentschaftsbewerbers, wurde am Sonntag offenbar gezielt erschossen. Gleichzeitig griffen einige Demonstranten auf den Kundgebungen einzelne Polizisten an und entwaffneten diese. Je länger der Machtkampf zwischen der iranischen Straße und dem Regime andauern wird, umso größer wird die Gefahr einer weiteren Eskalation der Gewalt.

Die Staatsführung geht unterdessen mit seit Jahren nicht gesehener Härte gegen oppositionelle Geistliche vor. Die Häuser mehrerer Kleriker aus dem Umfeld des verstorbenen Hossein Ali Montazeri wurden in der vergangenen Woche angegriffen. Die Zahl der in den letzten Monaten inhaftierten politischen Gefangenen geht in die hunderte.

Die Regierungen im Westen tun sich nach wie vor schwer, eine angemessene Reaktion auf die Revolte im Iran zu finden. Die Sympathie für die Oppositionsbewegung ist allenthalben groß. Gleichwohl laufen EU und USA Gefahr durch eine allzu offensichtliche Parteinahme für die Regimegegner diese dem Vorwurf auszusetzen, ausländische Interessen zu verfolgen. Außerdem muss der Westen wohl oder übel bis auf Weiteres mit der aktuellen Regierung über das iranische Atomprogramm verhandeln. Daher hat niemand Interesse die eigene Verhandlungsposition im Vorfeld zu schwächen.

Auch über ein halbes Jahr nach dem Ausbruch der Revolte gegen das Regime fehlt der iranischen Protestbewegung noch immer eine Führungsfigur, die eine klare Alternative zum gegenwärtigen System darstellt. Die unterlegenen Präsidentschaftskandidaten Moussawi und Karroubi gehören genauso zur Machtelite wie Ahmadinejads Intimfeind, der Milliardär Ali Akbar Hashemi Rafsanjani. Die Demonstranten wenden sich in Sprechchören gegen das iranische Herrschaftssystem der „Welayat-e Faqih“, die wichtigsten Politiker des Oppositionslagers sind jedoch seit 30 Jahren Vertreter eben dieses Systems.

Das Fehlen einer charismatischen Führungsfigur ist zugleich Stärke und Schwäche der grünen Oppositionsbewegung. Auf der einen Seite erschwert die dezentrale Organisation dem Regime das Vorgehen gegen die Oppositionellen. Andererseits fehlt den Systemgegnern eine Figur, der eine deutliche Alternative zu Khamenei und Co. formuliert. Aus diesem Grund wird das iranische Regime auf absehbare Zeit wohl nicht stürzen. Dennoch haben die letzten Tage noch einmal deutlich gemacht, dass die Islamische Republik in der schwersten Krise seit der Revolution steckt. Ayatollah Khamenei und Mahmud Ahmadinejad steht ein turbulentes Jahr 2010 bevor.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...