27.01.2010
Interview mit Yahav Zohar

Aus technischen Gründen hat es mit dem Live-Chat heute nachmittag nicht geklappt. Wir haben dafür mit Yahav Zohar, Vertreter des Israeli Committee against House Demolitions (ICAHD) ein ausführliches Interview geführt. Vielen Dank für Eure Fragen.

1) Was sind die Ziele von ICAHD?

ICAHD wurde vor etwa 10 Jahren aus der Überzeugung heraus gegründet, dass Oslo kein wirklicher Friedensprozess war, sondern die Besatzung der palästinensischen Gebiete festigen sollte. Mit unseren palästinensischen Partnern gewannen wir die Überzeugung, dass Hauszerstörungen in diesem Zusammenhang ein wichtiger Punkt sind. 25.000 Häuser auf palästinensischem Gebiet sind seit 1967 zerstört wurden. Diese Maßnahmen werden als Notwendigkeit für die israelische Sicherheit deklariert, treffen aber keine Terroristen, sondern palästinensische Familien, die obdachlos werden.

2) Läuft man mit dem Boykott- und Sanktionsaufruf gegen Israel, den ICAHD unterstützt, nicht Gefahr viele Israelis zu verschrecken, die das Anliegen des ICAHD im Grunde teilen aber Wirtschaftssanktionen gegen den eigenen Staat ablehnen?

Ich wünschte, es gäbe genug Israelis, die die israelische Besatzungspolitik ablehnten. Aber der Großteil schert sich nicht um die Besetzung und verschließt bewusst die Augen. Wirtschaftliche Folgen für Israel könnten möglicherweise ein Umdenken bewirken. Die Idee, dass jeder, auch Palästinenser unveräußerliche Rechte besitzt, wird in Israel nicht wirklich hoch gehalten.

3) In Deutschland werden jüdische Israel-Kritiker wie Sie von anderen Juden und Israel-Freunden gerne als "Alibijuden/Self-Hating Jew" bezeichnet, weil sie angeblich nur Antisemiten in die Hände spielen. Wie begegnen Sie solchen Vorwürfen?

Ich kann nur für mich sprechen: Ich hasse mich nicht. Mein wichtigster Grund, warum ich mich engagierte, ist, dass der israelische Staat uns in einen Gewaltkreislauf führt. Ich tue das für mich gegen die Gewaltfalle - für eine normale Zukunft für mein Land. Anti-Semitismus und Kritik an der israelischen Politik werden häufig vermengt. Wenn Antisemiten auch Israel angreifen, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass unsere Haltung falsch ist. Unsere Arbeit dient israelischen und jüdischen Interessen. Israels Politik hingegen trägt zu Antisemitismus bei.

4) Ein Teil der israelischen Gesellschaft tendiert zunehmend zu rechtsextremen Positionen. Sicherlich bedeutet dies großen Widerstand gegen Ihre Arbeit. Woher nehmen Sie die Kraft, sich nicht vom Hass um Sie herum unterkriegen zu lassen? Welche Motivation treibt Sie an? Auch religiös begründete Motivation, etwa die Vorschrift bzw. Forderung im Judentum, sich für Gerechtigkeit und Schwache einzusetzen?

Es gibt viel Widerstand gegen unsere Arbeit. Häufig wird uns vorgeworfen: Ihr seid Verräter. Das größte Problem sind die Ratlosigkeit und Aussichtslosigkeit innerhalb der israelischen Gesellschaft in Bezug auf den Konflikt. Unser Ziel ist es nicht, die engstirnigen Rechtsradikalen zu bekehren, sondern den großen Teil der Israelis, deren Haltung vom Gefühl der Hoffnungslosigkeit hinsichtlich des israelisch-arabischen Konflikts geprägt ist. Deshalb müssen wir genau diese Menschen über die arabischen Friedensinitiativen informieren und ihnen Alternativen aufzeigen.
Die Tora hat viele Passagen, in denen universale Menschenrechte groß geschrieben werden – etwa wenn es um die Juden im ägyptischen Exil geht. Wir kooperieren eng mit der Organisation Rabbis for Human Rights. Deren Motivation ist die religiöse Überzeugung.

5) Wie könnte Ihrer Meinung nach ein arabisch-israelischer Kompromiss über Jerusalem (innerhalb einer Zwei-Staaten-Lösung) konkret aussehen?

Da gibt es viele Ansätze, die praktikabel sind. Eine Lösung kann der Bau einer Mauer entlang der Grenzen von 1967 sein, bei der die Altstadt Israelis und Palästinensern zugänglich gemacht wird. Die Ideallösung wäre in meinen Augen die Schaffung zweier getrennter Verwaltungen ohne eine Mauer in der Mitte.

6) Wie bewusst sind sich israelische Juden der Realität in den Palästinensergebieten- kennen die Menschen in Tel Aviv beispielsweise die derzeitigen Lebensbedingungen in Gaza, die infrastrukturelle Vernachlässigung/Zerstörung rund um Jerusalem, etc? Übernimmt die ICAHD eine solche Aufklärungsarbeit innerhalb Israels? Und wenn ja, wie sieht dies aus?

Die Israelis sind sich der Realität in den palästinensischen Gebieten nicht bewusst und es ist ihre bewusste Entscheidung sich nicht dafür zu interessieren. Tel Aviv ist eine europäische Stadt und genauso wie die Deutschen ihre Augen vor der Wirklichkeit in Afghanistan verschließen, ignorieren die Menschen in Tel Aviv die Realität im Gazastreifen.
Wir organisieren Touren in die West Bank, um Israelis die Lebensbedingungen für die Palästinenser vor Ort zu zeigen. Ich engagiere mich zudem in der Organisation „Combatants for Peace“, in der sich ehemalige israelische Soldaten und palästinensische Kämpfe zusammengeschlossen haben um von ihren Schicksalen zu berichten. Die Bewegung „Breaking the Silence“ versucht ebenfalls Aufmerksamkeit für die Lage in den palästinensischen Gebieten zu erzeugen. Weil Palästinenser nicht nach Israel kommen können, müssen wir Israelis in die Besetzten Gebiete führen. Diese Zusammentreffen sind viel wichtiger als alle Worte.

7) Gab es auf Ihrer Vortragsreise in Deutschland auch ein Treffen mit dem Zentralrat der Juden? Und wie ist Ihr Verhältnis zu dieser Organisation?

Nein. Wir haben Anfragen an viele verschiedene Einrichtungen geschickt. Wir haben Antworten von fast allen bekommen, sogar vom Bundestag, wo ich morgen vor dem Menschenrechtsausschuss reden werde. Nur von den jüdischen Gemeinden habe ich entweder keine Antworten bekommen oder mir wurde gesagt, man würde sich bei mir melden, was dann nicht geschah. Ich glaube, es muss irgendjemand Hochrangigen geben, der dafür gesorgt hat, dass kein Treffen mit jüdischen Vertretern in Deutschland zu Stande kam. Wenn das hier jemand von einer jüdischen Gemeinde liest: Ich bin gerne bereit zu Ihnen zu kommen und würde jede andere Veranstaltung absagen, um ein Treffen zu ermöglichen.

8) Viele junge Menschen in Deutschland würden sich gerne engagieren und helfen- wissen jedoch nicht wo und wie sie anfangen sollen. Welche Möglichkeiten bieten sich innerhalb Deutschlands, welche in Israel/Palästina?

Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu engagieren. Im August veranstaltet ICAHD wieder ein Wiederaufbau-Camp, bei dem wir zerstörte palästinensische Häuser wiederaufbauen. Es gibt viele verschiedene Projekte. Interessierte Leute sollen sich einfach bei uns melden und wir werden ihnen helfen, etwas Passendes zu finden. Es gibt mehr als genug Arbeit. In Deutschland würden wir gerne eine Kampagne starten, die auf Deutschlands Rolle bei der Besatzungspolitik aufmerksam macht. Zum Beispiel müsste Druck auf deutsche Rüstungsunternehmen ausgeübt werden, die Waffen und Munition nach Israel exportieren, die dann gegen Palästinenser eingesetzt werden. Außerdem werden auch in deutschen Läden Waren verkauft, die in israelischen Siedlungen auf besetzten Gebiet produziert werden. Auch dagegen sollte protestiert werden. Am 25. Februar veranstalten wir einen weltweiten Aktionstag für die Öffnung der Shuhada-Straße, der wichtigsten Straße in Hebrons Altstadt. Obwohl der Oberste Israelische Gerichtshof die Öffnung der Straße angeordnet hat, wurde dieser Beschluss bislang nicht umgesetzt Es wäre schön, wenn sich daran auch Menschen in Deutschland beteiligen würden. Wenn ihr mehr wissen wollt, wendet euch einfach an ICAHD.

9) Lässt sich ein bestimmter sozialer/ethnischer Hintergrund bei denjenigen feststellen, die sich bei der Häuserzerstörung hervortun? Verschiedene Offiziere schilderten mir, dass gerade russische Einwanderer besonders gezielt sich für solche Einsätze melden. Stimmt das?

Nein. Es ist ein ganzes System, das dahinter steckt. Fakt ist, dass die Border Patrol – ein Mittelding zwischen Polizei und Armee - für die Zerstörung der Häuser verantwortlich ist. Die Border Patrol lockt mit der Aussicht darauf, Palästinenser verprügeln zu können und dafür auch noch mehr Geld zu bekommen. Das ist sehr lukrativ für junge Israelis aus der Unterschicht – also mehrheitlich Beduinen, Äthiopier und Immigranten aus den südlichen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die machen die schmutzige Arbeit. Aber schuld daran ist wie gesagt das israelische Besatzungssystem.

10) Sieht das israelische Recht Strafen für die mutwillige Zerstörung palästinensischer Häuser/Eigentümer durch israelische Staatsbürger, die zur Zeit der Tat nicht im Militär dienen, vor?

Hauszerstörungen werden von der Regierung angeordnet. Gleichzeitig gehört es beispielsweise für Siedler in Hebron zur Gewohnheit, palästinensisches Eigentum zu beschädigen und zu zerstören. Theoretisch müssten diese Siedler bestraft werden, aber in der Realität verschafft niemand dem Recht Geltung.

11) Welche Ortschaften sind besonders betroffen? Lässt sich ein Muster erkennen, nachdem vorgegangen wird? (zum Beispiel, dass Hauszerstörungen in Ostjerusalem sehr viel häufiger als in Ramallah stattfinden)

Man kann durchaus ein Muster beobachten. Während in den Bevölkerungsinseln der Westbank, den so genannten A-Gebieten, kaum Häuser zerstört werden, sind Hauszerstörungen in den C-Gebieten, die 60% der Westbank ausmachen, sehr häufig. Außerdem ist insbesondere Ostjerusalem betroffen, das Israel versucht zu annektieren.

12) Auf der Homepage des ICAHD wird die Häuserzerstörung im alten Stadtkern von Jaffa geschildert. Dort sollen viele Häuser abgerissen werden und dafür touristische Sightseeing-Projekte/Hotels entstehen. Wie weit sind diese Baumaßnahmen respektive Häuserzerstörungen fortgeschritten?

Jaffa stellt einen Sonderfall dar, da die Stadt auf israelischem Gebiet liegt. Denjenigen Flüchtlinge von 1948, die nach Jaffa zurückkehren konnten, wurde erlaubt sich in der Altstadt wieder niederzulassen. Allerdings wurden gleichzeitig alle Grundstücke zum Staatseigentum erklärt, weshalb die Araber hier nunmehr zur Miete leben. Durch Gentrifizierungsprozesse wurde die Altstadt in den letzten Jahren zunehmend interessant für israelische Unternehmer. Seitdem wird die arabische Bevölkerung aus der Altstadt verdrängt und außerhalb der Altstadt angesiedelt. Die Zerstörung Jaffas 1948 war ein Schlüsselereignis während der Nakba, da Jaffa das Handelszentrum Palästinas war.

13) Haben sich ehemalige Wehrdienstleistende/Offiziere dem Projekt angeschlossen?

Ich selbst zum Beispiel. Neben meiner Tätigkeit bei ICAHD engagiere ich mich außerdem bei den bereits angesprochenen “Combattants for Peace”. Gerade die Soldaten und Kämpfer beider Seiten sehen, dass es für diesen Konflikt keine militärische Lösung gibt. Die Aktivisten von „Breaking the Silence“ handeln aus ähnlichen Beweggründen.

14) Nimmt die israelische Presse Ihre Organisation wahr? Wenn ja wie fällt die Berichterstattung aus?

Wir bekommen sehr wenig Berichterstattung. Bei unseren Aktivitäten, etwa dem Wiederaufbau von zerstörten Häusern, kommen holländische, britische und arabische Fernsehteams, aber keine einzige israelische Lokalzeitung. Wenn in den israelischen Medien über uns berichtet wird, werden wir in der Regel als exotische Gruppierung porträtiert.

15) Sheikh Jarrah war ein sehr umkämpfter Stadtteil 1948. In der israelischen Geschichtsschreibung wird Jordanien/palästinensischen Freischärlern vorgeworfen, gezielt Ärzte/Krankenschwestern auf dem Weg zum Haddassah-Krankenhaus umgebracht zu haben. Spielen solche Ereignisse neben der "Judaisierung Jerusalems" eine Rolle bei der Häuserzerstörung in diesem Stadtteil?

Nein, die Geschehnisse von damals haben mit der heutigen Situation nichts zu tun. Wichtiger sind bestimmte jüdische Gruppen, die behaupten, dass ihnen das Land vor 1948 gehört habe. Die Palästinenser, die jetzt dort leben, wurden nach 1948 von den Vereinten Nationen hier angesiedelt, nachdem sie aus Haifa oder Westjerusalem vertrieben wurden. Jetzt sollen sie zum zweiten Mal Flüchtlinge werden.
Wenn die jüdischen Organisationen behaupten im Recht zu sein, dann sollten die Palästinenser das Recht bekommen, ihre Grundstücke im heutigen Israel wieder in Besitz zu nehmen. Das „Absentee Property Law“, das sie nach ihrer Flucht enteignete ist rassistisch und widerspricht dem gesunden Menschenverstand.

16) Gibt es eine Zusammenarbeit mit lokalen Behörden? Wenn nein, werden gezielt Hindernisse in den Weg gelegt?

Die lokalen Behörden erschweren unsere Arbeit, indem sie keine Erlaubnis für Wiederaufbauprojekte ausstellen. Mit dem Militär gibt es keine Kooperation. Bereits vier Mal wurde unsere Begegnungsstätte, das Arabia-House, zerstört. Eine gewisse Unterstützung erfahren wir vom Obersten Gericht, das die Armee zumindest formaljuristisch dazu zwingt, sich an bestehende Gesetze zu halten und palästinensischen Bauern Zugang zu ihrem Land nahe israelischer Siedlungen verschafft.

17) Welche Rolle spielt die "Kfir-Brigade" (Nablus) bei der Zerstörung palästinensischer Häuser?

Ich bin kein Experte in dieser Hinsicht. Aber da die Kfir-Brigade in der Westbank stationiert ist, sichert sie zwangsläufig Häuserzerstörungen. Sie erfüllt Befehle der Armeeführung und agiert nicht unabhängig.

18) Inwieweit war die "Regierung der Nationalen Einheit" 1967-69 ausschlaggebend für die Besiedlung in der Besetzung (speziell: Allon-Plan)?

Alle israelischen Regierungen seit 1967 verfolgen eine konsistente Besatzungspolitik, unabhängig ob der Likud oder die Arbeitspartei an der Macht war. Die Leitlinien des Allon-Plans, die eine begrenzte Autonomie der Palästinensergebiete vorsehen, wobei die äußeren Grenzen der Kontrolle Israels unterliegen, finden sich bei allen Regierungen wieder.

19) Teddy Kollek wird als "ewiger Bürgermeister Jerusalems" und wird als Freund der Palästinenser dargestellt. Welche Rolle spielte er bei den ersten Überlegungen nach dem sog. "Sechstagekrieg" die Stadt zu judaisieren?

Kollek spielt eine wichtige Rolle, da während seiner Amtszeit große Siedlungsblöcke in Ostjerusalem gebaut wurden. Allerdings liegt die Verantwortung nicht nur bei der Stadtverwaltung, sondern auch beim Innenministerium, das ebenso für die Judaisierung Jerusalems zuständig ist. Kollek hatte die Aufgabe, diese Politik international zu verkaufen. Nach seiner Pensionierung 1993 gab er offen zu, nichts für die Entwicklung der palästinensischen Gebiete in Ostjerusalem getan zu haben. Lediglich das Abwassersystem wurde modernisiert, aber auch nur, um die Ausbreitung von Seuchen nach Westjerusalem zu verhindern.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...