Liebe Leser,
es folgt ein Interview mit Dr. Muriel Asseburg zum Gazakrieg und seinen Folgen.
Dr. Muriel Asseburg leitet die Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Sie hat Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Völkerrecht in München studiert und dort mit einer Dissertation zum Staatsbildungsprozess in den palästinensischen Gebieten promoviert. Sie hat in den USA, Jerusalem, Ramallah, Damaskus und Beirut gelebt.
Israels Regierung erklärt, die IDF habe ihre Kriegsziele erreicht. Teilen Sie die Einschätzung, dass die Hamas langfristig geschwächt und das israelische Abschreckungspotential wiederhergestellt ist?
Die israelische Regierung hatte ihre Kriegsziele nur sehr vage formuliert. Sie wollte Hamas einen entscheidenden Schlag versetzen und die Sicherheitssituation im Süden Israels verändern. In der Militäroffensive ist es Israel tatsächlich gelungen, einen Großteil der militärischen Infrastruktur der „Islamischen Widerstandsbewegung“ zu zerstören und wichtige Führungspersonen zu töten. Israel hat auch einen Großteil der Tunnels bombardiert, die den Gaza-Streifen mit Ägypten verbinden und die in den letzten Jahren der verschärften Blockade nicht nur dem Waffenschmuggel gedient haben, sondern auch die einzige Möglichkeit boten, die Bevölkerung im Gaza-Streifen mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs zu versorgen. Dies wird es Hamas in der Tat erschweren wieder aufzurüsten. Es wird aber auch die Situation der Bevölkerung weiter verschlechtern, wenn die Grenzen nicht schnell und dauerhaft geöffnet werden.
Dass Hamas militärisch nicht besiegt ist, hat die Bewegung durch das Abfeuern von Raketen auch nach der von Israel verkündeten Waffenruhe versucht deutlich zu machen. Vor allem aber ist fraglich, ob Hamas durch den Krieg langfristig politisch geschwächt wurde. Nach wie vor ist Hamas gesellschaftlich tief verwurzelt. Dass Hamas auch politisch relevant bleibt, ist auch daran deutlich geworden, dass Israel zunächst indirekt mit Hamas über einen Waffenstillstand verhandelt hat. Vor allem aber ist kaum anzunehmen, dass Israel durch den Waffengang, insbesondere aufgrund der extrem großen Zerstörung ziviler Infrastruktur und der hohen zivilen Opferzahl, die Palästinenser davon überzeugen konnte, dass es an einem friedlichen Ausgleich interessiert ist. So sind durch den Krieg die sogenannten „moderaten“ palästinensischen Kräfte weiter geschwächt worden.
Beide Kriegsparteien haben einseitige Waffenstillstände erklärt. Deutet irgendetwas daraufhin, dass die Waffenruhe von Dauer sein wird?
Bislang nicht. Denn ein Waffenstillstand kann nur dann tragfähig sein, wenn er das Sicherheitsbedürfnis beider Seiten berücksichtigt und wenn er wirtschaftliche Entwicklung im Gaza-Streifen ermöglicht. Letztere aber kann unter den Bedingungen der nahezu vollständigen Blockade nicht stattfinden, unter der das Gebiet seit der Entführung des israelischen Soldaten Shalit im Juni 2006 und, weiter verschärft, seit der gewalttätigen Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 steht. Eine dauerhafte Öffnung der Grenzübergänge zum Gaza-Streifen, wie sie das 2005 von US-Außenministerin Rice verhandelte Agreement on Movement and Access vorsieht, gehört zu den elementaren Voraussetzungen für Wiederaufbau und wirtschaftliche Entwicklung. Letztlich muss ein Waffenstillstand, um tragfähig zu sein, auch die West Bank einschließen.
Während des Krieges kursierten Meldungen laut denen es Spannungen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den Hamas-Kadern in Gaza und der Exilführung in Damaskus gegeben haben soll. Wissen Sie etwas darüber?
Es gibt immer wieder Spannungen und Meinungsunterschiede zwischen den verschiedenen Führungszirkeln der Hamas, sei es zwischen der Inlands-Hamas in Gaza und der Exilführung in Damaskus, sei es zwischen der politischen und der militärischen Führung im Gaza-Streifen. Denn natürlicher Weise haben die unterschiedlichen Zirkel unterschiedliche Perspektiven und Prioritäten. Allerdings sollte man sich nicht dazu verleiten lassen anzunehmen, dass Hamas deshalb tief gespalten oder handlungsunfähig sei. Bislang hat die Bewegung es verstanden, letztlich immer zu einer geeinten, von allen wichtigen Kadern mitgetragenen Position zu finden – viel deutlicher etwa, als dies bei der Konkurrentin Fatah der Fall ist.
Insbesondere in den Staaten, die von der westlichen Politik gerne als „moderate“ Staaten bezeichnet werden, ist die Wut der Bevölkerung groß darüber, dass ihre Regierungen sich nicht viel deutlicher gegen den Krieg gestellt und Maßnahmen ergriffen haben, um Israel anzuprangern und abzustrafen. Dies wirkt sich negativ auf die Legitimität der Regime aus. In Ägypten hat die Regierung zwar versucht, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und dadurch den Krieg zu beenden. Sie hat aber auch den Grenzübergang Rafah geschlossen gehalten – und damit den einzigen Ausweg verbaut, den es für die Zivilbevölkerung gegeben hätte, um den Bombardierungen zu entfliehen. Das ist für viele Ägypter unerträglich. Bislang haben sich Proteste gegen die offizielle Politik allerdings in keinem Land in kraftvolle Bewegungen umgewandelt, die einen Politikwechsel bewirken oder auch nur eine ernsthafte Gefahr für die Regime darstellen würden.
Es liegt auf der Hand, dass Syrien die indirekten, von der Türkei vermittelten Gespräche nicht weiter führen kann, solange Gaza bombardiert wird. Das heißt aber nicht, dass Syrien kein Interesse an einer Fortsetzung dieser Gespräche hat. Im Gegenteil, Syrien hat sehr deutlich signalisiert, dass es diese Kontakte unter der neuen US-Administration auf eine neue Ebene heben und in direkte, US-vermittelte Verhandlungen überführen möchte.
Die Vorschläge, die bislang von Deutschland und den Europäern gemacht worden sind, werden nicht ausreichen, um eine dauerhafte Waffenruhe zu erreichen. Auf keinen Fall sollte sich die EU auf Wiederaufbauhilfe – für einen Wiederaufbau, der allerdings notwendig ist, unabhängig davon, wer den Gaza-Streifen regiert – und Almosenvergabe zur Linderung der humanitären Notlage im Gaza-Streifen beschränken. Natürlich würde es auch zu kurz greifen, wenn die Europäer vor allem technische Hilfestellungen leisten würden, um die Zugänge zum „Gefängnis Gaza“ möglichst effizient zu kontrollieren und die Tunnels, die eben auch der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Gütern des alltäglichen Bedarfs gedient haben, dauerhaft zu versiegeln. Den Vorschlag einiger europäischer Regierungschefs, Israel dabei unter die Arme zu greifen, den Waffenschmuggel seeseitig zu unterbinden, wird Israel kaum ernst nehmen.
Jetzt muss es darum gehen, gemeinsam mit der neuen US-Administration konsequent auf eine tragfähige und umfassende Konfliktregelung hinzuarbeiten. Eine entsprechende europäisch-amerikanische Initiative müsste auf jeden Fall drei Hauptelemente beinhalten: 1) ein neuerliches Machtteilungsarrangement zwischen Hamas und Fatah; 2) die Umsetzung der Vereinbarung von 2005 (Agreement on Movement and Access), die nach dem israelischen Abzug darauf abzielte, den Zugang für Personen und Waren nach Gaza offen und die Verbindung zwischen Gaza und West Bank zu erhalten, ergänzt durch Maßnahmen, die Waffenschmuggel effektiv verhindern können; 3) eine politische Perspektive, also die Umsetzung einer Zwei-Staaten-Lösung und einer umfassenden Friedenslösung in der Region in absehbarer Zeit. Eine solche Initiative kann nur gelingen, wenn wichtige Konfliktparteien, insbesondere die Hamas und Syrien, einbezogen werden.