Internationales Recht soll universell gültig sein – dessen Geltung aber ist lokal umstritten. Das ist die zentrale Ambivalenz, derer sich die israelische Besatzung Palästinas bedient, um Un-Recht abzuwickeln. Doch wie funktioniert das im Detail – und wie kann Recht dabei überhaupt geltend gemacht werden?
Zu diesen Fragen veröffentlichen wir in den kommenden Tagen einen Artikel, der aus drei Teilen besteht: Dieser erste Teil beschreibt, wie Recht in Israel umgangen wird. Der zweite Teil stellt dar, wie Recht in den besetzten palästinensischen Gebieten aufgeteilt wird. Und der dritte Teil schildert, wie Recht auf internationaler Ebene vertagt wird.
So werden die Mechanismen der andauernden Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung deutlich. Um an dieser Realität etwas zu ändern, bedarf es allerdings vor allem der politischen Auseinandersetzung, weil Recht, das nur für Einzelne gilt, lediglich Willkür ist.
Israel: „Demokratische“ Schlupflöcher
In Israel basiert die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung nicht auf einer rechtlichen Grundlage. Das ist im doppelten Sinne gemeint: Zum einen gibt es keine israelischen Gesetze, die explizit die palästinensische Bevölkerung attackieren, zum anderen verletzt deren anhaltende Diskriminierung grundsätzliche Aspekte internationalen Rechts.
Israel hat zwar keine Verfassung, dafür gibt es aber einige wesentliche Gesetzestexte. Zudem hat Israel eine Reihe von internationalen Verträgen ratifiziert, die die Regierung uneingeschränkt zum Schutz von Menschenrechten verpflichten.[1] Offiziell gelten für alle Menschen Israels also die gleichen Rechte; alle sollen von der „demokratischen Entwicklung“ Israels profitieren, von Eisenbahnlinien von West- bis ins annektierte Ost-Jerusalem, Autobahnen vom Mittelmeer durch die besetzten palästinensischen Gebiete bis zum Jordan und von segregierten Freizeitmöglichkeiten für die Bevölkerung. Ganz selbstverständlich.
Doch einzelne Verordnungen geben eine Priorität vor, die vom Großteil der jüdischen israelischen Bevölkerung vermeintlich unterstützt wird, was deren „Rechtfertigung“ bedeuten soll. So ist es den Familienangehörigen palästinensischer Israelis aus dem Westjordanland, dem Gaza-Streifen oder anderen arabischen Ländern zum „Schutze Israels“ nicht erlaubt, nach Israel zu kommen. Viele leben daher „illegal“ im Land, woraufhin alle palästinensischen „Eindringlinge“, aber auch afrikanische Flüchtlinge, deren Kinder sowie alle, die ihnen helfen wollen, von Staats Wegen kriminalisiert, ausgewiesen und eingesperrt werden können. Zudem dürfen israelische Gemeinden über den Zuzug neuer Anwohner entscheiden, weshalb häufig arabische Israelis auf der „rechtlichen Grundlage“ unterschiedlicher Lebensstile und des „Gemeinwohls“ ausgeschlossen werden.
Auch im Bildungssystem gibt es klare Tendenzen und große Defizite. Viele Schulen für die palästinensische Bevölkerung Israels sind nicht gut genug ausgestattet und haben nicht die Kapazitäten, alle Schüler zu unterrichten. Zudem vernachässigt und verleugnet der offizielle Lehrplan die Geschichte der Palästinenser. Das befördert eine Normierung, im Zuge derer kritische Stimmen sanktioniert und allein die Erinnerung an die palästinensische Geschichte bestraft werden, weil sie „die Existenz Israels gefährden“.
Diskriminierung mit legalem Anschein, aber ohne rechtliche Grundlage
Doch gibt es (bisher) keine offiziellen Vorschriften, die Palästinenser explizit in ihrer Arbeit, Wohnraum und Gemeinschaft einschränken. Die israelische Regierung bedient sich vielmehr Schlupflöcher, Ausreden und Vorwände, um Palästinenser davon abzuhalten, in sogenannten sensiblen Posten zu arbeiten, Renovierungsarbeiten und Erweiterungen in ihren Wohnungen vorzunehmen oder nach deren Belieben zu siedeln. Auch ohne rechtliche Grundlage hat sich die Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung so institutionalisiert. Palästinenser arbeiten demnach häufig in unsicheren Verhältnissen, auf dem Bau, in der Gastronomie, manchmal illegal, oft ohne Sozialleistungen und meist für weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 160 Schekel pro Tag. Weil Palästinenser darüber hinaus die notwendigen Genehmigungen von der israelischen Regierung nur selten erhalten, sind sie häufig Opfer der Zerstörung „illegal“ errichteter oder renovierter Häuser. Während momentan Wohnungen für 200,000 Menschen in Ost-Jerusalem gebaut werden, ist keine einzige davon für Palästinenser vorgesehen. So soll die ganze Stadt „judaisiert“ werden. Im Zuge dessen ist zudem in den vergangenen 20 Jahren mehr als 15,000 Palästinensern das Wohnrecht in Jerusalem entzogen worden.
In den vereinzelten Gerichtsverfahren am Obersten Gerichtshof Israels, in denen die Causa Besatzung verhandelt wird, bekommt diese Diskriminierung einen Anschein von Legalität verpasst. In Israel, der „einzigen Demokratie im Nahen Osten“ (für die jüdische Bevölkerung), herrscht schließlich Meinungsfreiheit, wird Vielfalt zelebriert und es wird so kontrovers diskutiert, wie es die biedere Polemik gebietet. Doch rechtliche Einsprüche werden ebenso häufig abgetan wie Urteile gegen die Praxis der Besatzung nicht verfolgt werden. Das bedeutet Straffreiheit und macht die Rechtsprechung zum Komplizen der Besatzung, indem sie sakrosankten nationalen Prämissen unterworfen wird. Dazu zählen allen voran der jüdische Charakter Israels und dessen Sicherheitgebote.
Auf dieser Grundlage werden Bürgerrechte von Staatsbürgerschaft abgekoppelt, um die Geltung von Bürgerrechten durch eine ethnisch-religiöse Definition von Staatsbürgerschaft zu begrenzen. Palästinensische Israelis werden auf diese Weise um viele Rechte gebracht. Obwohl sie rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, stehen ihnen offiziell nur 3,5 Prozent des Landes zur Besiedlung zu. Das offenbart ein Spannungsverhältnis, das sich aus den Ambitionen des politischen Zionismus ergibt: nämlich die Vormacht eines Teils der Bevölkerung Israels im ganzen Land gegen die demokratische Anforderung an gleiche Rechte für dessen gesamte Bevölkerung durchzusetzen.
Unverletzliche nationale Prämissen
Dieses Spannungsverhältnis ist so eklatant, dass sogar die Regierung des Landes sich genötigt fühlt, darauf zu reagieren. So hat die israelische Justizministerin Zipi Livni ein Rechtsgutachten beauftragt, um festzulegen, nach welchen Maßstäben sich die jüdische Identitiät mit demokratischen Werten verbinden lässt. Wohlgemerkt in dieser Reihenfolge.
Der Knessetabgeordnete Yariv Levin geht sogar noch einen Schritt weiter. Er will endlich alle Zweifel beseitigen. Levin, der Mitglied der Likud-Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu ist, hat ein „Basic Law“ vorgestellt, das den alleinigen Anspruch der jüdischen Bevölkerung auf Israel deklariert und so die Rechtsprechung des Staates dahingehend beeinflussen soll, die jüdische Identität in politischen Auseinandersetzungen gegenüber demokratischen Prämissen bevorzugt zu behandeln. Der inoffiziellen Praxis der Apartheid würde so ein legaler Rahmen verpasst werden.
Die Regierungskoalition rechtfertigt den Entwurf damit, dass die Rechte der Bevölkerung an Verantwortungen geknüpft seien, mit denen die Loyalität gegenüber Israel erwiesen werde. So heißt es, dass so lange die palästinensische Bevölkerung ihre Verantwortungen wie den Armeedienst nicht erfüllt (was sie aber gesetzlich nicht darf), es daher auch nicht diskriminierend sei, ihnen nicht die gleichen Rechte zuteil werden zu lassen wie jüdischen Israelis.
Un-Recht mit Prinzip
Diese Argumentation hat Prinzip: erst wird die diskriminierende Präzedenz geschaffen, der dann Folge geleistet wird, um vermeintliche Rechtmäßigkeit zu demonstrieren. Auf diese Weise wird es erschwert, Unrecht zu bestimmen, weil ein Maßstab fingiert wird, der falsche Prioritäten vorgibt. Das gibt Anlass zu Maximalforderungen. So wird berechtigte Kritik, die sich gegen konkretes Unrecht wendet, durch den Verweis auf die (ostentative) Notwendigkeit ausgebootet, die jüdische Bevölkerung zu beschützen.
Dabei geht es bei dieser Kritik gerade nicht darum, das Existenzrecht Israels anzuzweifeln oder zu verkennen, wie viel Terror auch von palästinensischen Angriffen ausgeht. Auch geht es nicht darum, zu vertuschen, dass auch in anderen Ländern viel Unrecht passiert. Denn das sind die Vorwände, durch die Kritik an der Politik Israels zum Antisemitismus umgedeutet und Einwände als feindselig missbilligt werden. Der Verweis auf internationales Recht wird so oft als Euphemismus für die Rechte der Palästinenser abgetan. Denn obwohl Rechte universell gültig sein sollten, wird deshalb vorsätzlich argumentiert, Rechte seien exklusiv. So soll deren Geltung für einen Teil der Bevölkerung dadurch begründet werden, diese Rechte einem anderen Teil der Bevölkerung abzusprechen.
Doch leidet unter dem Regime dieser Diskriminierung nicht nur die palästinensische Bevölkerung. Orientalische und äthiopische Juden sind davon ebenso betroffen wie viele afrikanische Immigranten. Daneben tragen große Teile der säkularen jüdischen Bevölkerung die horrenden Kosten für die Besatzungspolitik. Auf unterschiedliche Weise sind so viele Menschen dem anhaltenden Unrecht und einer Regierung ausgeliefert, die dazu ermächtigt ist, dieses Unrecht zu begehen. Das gibt dem Bemühen, universelle Rechte in Israel zu erwirken, einen konkreten lokalen Bezug: der Politik eines Regimes Einhalt zu gebieten, das Menschen auf Grundlage ihrer Nationalität, Herkunft, Religion und politischer Ansichten kontrolliert. Doch dieses Regime ist machtvoll. So sehr, dass das Bemühen um gleiche Rechte immer wieder kompromittiert und untergraben wird.
Wie das in den besetzten palästinensischen Gebieten geschieht, ist Thema des nächsten Teils dieses Artikels.
Fußnote:
[1] Israel hat folgende internationale Verträge ratifiziert, durch die es zum Schutz von Menschenrechten angehalten ist: Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte; Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte; UN-Kinderrechtskonvention; UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau; Internationales Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung; UN-Antifolterkonvention.