02.08.2011
Innenpolitische Krise im Iran: Machtspiele unter Männern
Eine Analyse von Friedrich Schulze

Die Ränkespiele in der iranischen Führung verwirren Freund und Feind – und heizen das innenpolitische Klima an. Präsident Ahmadinejad probt die Konfrontation mit Revolutionsführer Ali Khamenei – doch wagt er auch den Bruch?

Die Krise lässt sich in den iranischen Zeitungen und Websites nachlesen. Im Iran verfügt jede Institution, jede Person, die Einfluss wirken lassen möchte, über eine Zeitung oder besser noch eine Homepage mit eigenen Wahrheiten. Es findet ein ständiger Medienkrieg statt. Dabei geht es um bestimmte Formulierungen, rhetorische Fragen, einzelne Wörter, oder um zahlreiche widersprüchliche Nachrichten, um eine Intention zu verbreiten oder eine diffuse Befürchtung zu schüren.

Doch was seit etwas mehr als vier Monaten im Iran passiert ist mehr als der gewöhnliche Schlagabtausch zwischen politischen Kontrahenten. Der iranische Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei und sein politischer Zögling und bisheriger »Lieblingspräsident« Mahmud Ahmadinejad stehen sich frontal gegenüber. Zwar war das Verhältnis de facto noch nie das Beste, doch konnte Ahmadinejad mit Populismus konservative Massen für sich gewinnen – und war damit ein gutes Instrument in Khameneis Händen.

Die starke Rückendeckung von Khamenei und die brutale Niederschlagung der Unruhen von 2009 nach der vermeintlichen Wiederwahl zum Präsidenten Irans verliehen Ahmadinejad wohl das Gefühl, als Ausnahmepräsident die Fäden der Zukunft des Landes in den Händen zu halten.
Am 17. April überschlugen sich die Ereignisse. Der Geheimdienstminister Heydar Moslehi, ein enger Vertraute von Khamenei, entließ den Mitarbeiter für parlamentarische Angelegenheiten und Gefolgsmann Ahmadinejads, Hosein Abdolahjan. Noch am selben Tag enthüllte Esfandiar Rahim Mashaei, Ahmadinejads vielleicht wichtigster und langjähriger Gefolgsmann sowie aktueller Chef des präsidialen Beratungsstabes, dass er gesetzeswidrig vom Geheimdienst überwacht werde. Auf Druck Ahmadinejads reichte Moslehi seinen Rücktritt ein, der jedoch nicht einmal eine Stunde später vom Revolutionsführer Khamenei rückgängig gemacht wurde.

Schattenkämpfe im Kabinett

Das direkte Eingreifen des Revolutionsführers in Kabinettspersonalien war ein Novum – und ein Affront, den Ahmadinejad nicht auf sich sitzen lassen konnte. Zur Kabinettssitzung am 20. April wurde Moslehi nicht eingeladen, obwohl er wie gewohnt in seinem Ministerium anwesend war. Zeitgleich soll Ahmadinejad mit seinem Rücktritt gedroht haben, falls Moslehi im Amt bleibe. Khamenei ließ darauf angeblich antworten, dass er dies tun solle, falls er es denn wollen würde und dass er ihm eine Woche Bedenkzeit gäbe. Ahmadinejad verweigerte die anschließenden 11 Tage die Arbeit, Kabinettssitzungen fielen aus – in den Worten des Präsidenten »Arbeiten aus Entfernung«.

Nachdem Ahmadinejad auch am 4. Mai Moslehi die Teilnahme an der Kabinettssitzung verweigerte, begann das Geheimdienstministerium dem Präsidenten nahe stehende Homepages zu zensieren. Etwa 29 Mitstreiter aus Ahmadinejads Netzwerk, darunter auch Abbas Amiri-Far, der nach Ahmadinejads Vorstellungen für den Posten des Geheimdienstministers vorgesehen war, sollen verhaftet worden sein. Daraufhin fügte sich der Präsident dem Druck und so saß sein verhasster Geheimdienstminister Moslehi am 8. Mai wieder am Kabinettstisch auf seinem Platz.

Die Geschehnisse rissen tiefe Wunden in das politische Establishment und entfachten einen Kampf um Posten und Einfluss, welcher besonders durch die bevorstehenden Parlamentswahlen im März 2012 und auf lange Sicht durch die Präsidentschaftswahlen 2013 befeuert wird.
Ahmadinejad und Mashaei waren dabei, sich für die Parlamentswahlen stark aufzustellen, um der Hegemonie Khameneis und des Parlamentssprechers Ali Larijani, ein langjähriger Widersacher der beiden, möglichst Einhalt zu gebieten. Auch wurde gemunkelt, dass Mashaei, der von dem Revolutionsgarden-Kommandeur Mojtaba Zolnour als »Schattenpräsident« im Hintergrund bezeichnet wurde, von der Gruppe um Ahmadinejad in Stellung gebracht werden sollte, um als Präsidentschaftskandidat anschließend die Wahl zu gewinnen.

Gegenseitiges Drohpotenzial

Mashaei gilt als Chefideologe des Netzwerkes um Ahmadinejad und fiel immer wieder durch Aussagen auf, die für das System der Islamischen Republik und ihrer »Herrschaft des Rechtsgelehrten« geradezu atemberaubend sind. Im Prinzip erhebt das System des »Velayat-e Faqih« einen universellen Herrschaftsanspruch des Revolutionsführers, um die Welt auf die Wiederkehr des 12. Imams – den Mahdi – vorzubereiten, und so die Gesellschaft dem gerechten Zielideal möglichst nahe zu bringen.

Das gefährliche an der neokonservativen Ideologie für Khamenei ist nun, dass Ahmadinejad und seine Gefolgsleute, allen voran Mashaei, den Glauben verbreiten, die Rückkehr des Mahdi stehe nicht nur kurz bevor – sondern sein Wegbereiter und -begleiter sei bereits vor Ort, nämlich der aktuelle Präsident Irans. Dieser würde demnach die Ablösung Khameneis durch den Mahdi als sein Gefährte überdauern. So gibt es tatsächlich innerhalb der gefürchteten Basij-Milizen auch Gruppen, die sich als »Neo-Basiji« bezeichnen. Diese fühlen sich Ahmadinejad und nicht – wie es die Führung vorgibt – Khamenei verpflichtet.

Zugleich stellen Ahmadinejad und Mashaei die Bedeutung des Nationalstaates Iran zunehmend vor die der Islamischen Republik, etwa bei der geforderten Geschlechtertrennung an Universitäten. Der Revolutionsführer sah sich daraufhin zum Handeln gezwungen. Doch sollte man trotz Aussagen Ahmadinejads, dass die »Kleidervorschriften nicht so streng gehandhabt werden müssten« nicht dem Glauben verfallen, dass sich der Präsident als liberaler Befreier entpuppt. Vielmehr ist er möglicherweise pragmatischer als gemeinhin angenommen – und kann mit derlei Aussagen wieder einmal die Populismus-Karte ausspielen. Dass er damit gleichzeitig den erzkonservativen Hardlinern um Khamenei vor den Bug schießt, zeigt vor allem, dass er, wie er auch in der Vergangenheit schon öfter bewiesen hat, ein guter Stratege – oder zumindest gut beraten ist.

Der Kampf zwischen Ahmadinejads Netzwerk und Khamenei hat sich mittlerweile so zugespitzt, dass das Parlament die Befragung des Präsidenten zu »Gesetzesverstößen« fordert und Ahmadinejad androhte. »unangenehme Wahrheiten« zu enthüllen. Da er als Zweitmächtigster im Staat über zahlreiche sicherheitsrelevante Informationen verfügt, könnte er diesen Zugang auch gegen seinen ehemaligen Gönner einsetzen, indem er etwa eine direkte Befehlskette zwischen Khamenei und der Niederknüppelung von Demonstranten nachweisen könnte. So verwundert es nicht, dass die Befragung von Ahmadinejad immer wieder im letzten Moment verhindert wurde. Doch das gesamte Szenario ist für Ahmadinejad wesentlich bedrohlicher als für den Revolutionsführer selbst.

Die Grüne Bewegung verharrt in Wartestellung

Der erste Präsident Irans, Abolhassan Bani Sadr, entging nur knapp einem Attentat, nachdem er den Revolutionsführer – damals noch Ruhollah Khomeini – durch ein Referendum praktisch zum Duell herausgefordert hatte, und floh danach ins Exil nach Paris, wo er bis heute lebt. Seitdem hatte kein Präsident ähnliches gewagt. Ahmadinejad scheint diese »rote Linie« wieder überschritten zu haben.
Dennoch scheint der Revolutionsführer zurzeit einen – stark geschwächten – Ahmadinejad im Amt halten zu wollen. Bei einem vorzeitigen und offenen Bruch müsste er damit rechnen, auch ein paar Kratzer abzubekommen und würde Gefahr laufen, eine ernstzunehmende Systemkrise mit unüberschaubaren Folgen für das gesamte Land zu provozieren. Es wird nun an der Führungsstärke Khameneis liegen, ob er die Hetzwelle gegen Ahmadinejad unter Kontrolle halten kann, ohne dass sich der Präsident zu sehr in die Ecke gedrängt fühlt – und möglicherweise alles auf eine Karte setzt. Solch eine Krise vor dem Hintergrund regionaler Umwälzungen zu wagen, erschiene auch ohne die Ereignisse des Arabischen Frühlings äußerst riskant.
Dabei kam dieser nur stark abgeschwächt im Iran an und abgesehen von einem kurzen Aufblitzen im Februar 2011 in Teheran musste die Grüne Bewegung in einem kürzlich veröffentlichten Manifest eingestehen, dass sie ein echtes Mobilisierungs- und Organisationsproblem zu überwinden hat. Die beiden Helden der Bewegung Mehdi Karroubi und Mir Hossein Mussawi stehen seit den letzten Demonstrationen unter Hausarrest und sind praktisch von der Bildfläche verschwunden. Momentan macht man sich vor allem Sorgen um ihre Gesundheit. Ihre Anhänger verharren eher in einer Wartestellung. Sie warten auf den nächsten scheinbar guten Moment. Vielleicht sind es die nächsten Präsidentschaftswahlen. Vielleicht ist es der Tod des Revolutionsführers, der schon des längeren krank sein soll. Doch niemand weiß es so genau und im veröffentlichten Manifest wird ein Schwerpunkt auf »Enthüllungpropaganda« gegen das Regime, stillen Protest und Boykott gelegt.
Doch wenn in anderen Ländern die unterdrückte Bevölkerung ihre Despoten stürzt und im Iran weiterhin die Demonstrationen niedergeschlagen werden, verliert das Regime an Glaubwürdigkeit. Dies hat innen- wie außenpolitische Konsequenzen. Im Land beginnen immer mehr Personen an der »Volksnähe« des eigenen Systems zu zweifeln, wodurch die Konfrontationen im Establishment verschärft werden. Und außerhalb des Irans werden die Reden von Khamenei oder Ahmadinejad noch stärker als zuvor als Farce angesehen.

Ambivalente Haltung des Ex-Präsidenten

Der ehemalige Präsident Mohammad Khatami forderte für die nächsten Parlamentswahlen 2012 die Freilassung aller politischer Gefangener – inklusive Mir Hossein Mussawi und Mehdi Karroubi - und, dass Oppositionsparteien frei arbeiten dürften, insgesamt der politische Raum geöffnet werde und dass sich jeder an die Gesetze des Landes halten müsse. Zudem forderte er die reform-orientierten Politiker auf, die bevorstehenden Wahlen zu boykottieren, falls seine Bedingungen nicht erfüllt werden sollten.
Diesen konfrontativen Kurs nahm Khatami erst auf, nachdem er von Oppositionellen, etwa aus den Reihen der Grünen Bewegung, starke Kritik auf sich gezogen hatte. So hatte er zuvor davon gesprochen, dass die gegenwärtige Situation die Sicherheit des Landes gefährde und alle allen verzeihen sollten, da dem Volk wie Revolutionsführer Unrecht angetan wurde.
Seine neue Position und vor allem seine bisherige Standfestigkeit entgegen aller Kritik der Revolutionsgarden könnte ihm vielleicht nicht nur seinen Spitznamen als »lächelnder Sayyed« kosten. Doch es wäre schon überraschend, wenn er nach 31 Jahren in der iranischen Politik plötzlich denjenigen vor den Kopf stoßen würde, der entschied, nur Mussawi und Karroubi und nicht auch Khatami unter Hausarrest zu stellen. So lässt sich damit durchaus die Hoffnung verbinden, dass Khatami die Oppositionsbewegung kanalisiert und wieder in das politische Spiel der Islamischen Republik bringt. Genau dies wird ihm sogar vom Sprecher Mehdi Karroubis vorgeworfen: Einerseits würde er die Bewegung spalten, andererseits an den Verhandlungstisch mit Personen holen, die im Endeffekt niemals auf deren Forderungen eingehen würden.
Der Riss im politischen Establishment Irans geht somit durch das gesamte politische wie religiöse Spektrum. So verwunderte es nicht, dass die Grüne Bewegung nie zu einer Massenbewegung wurde und echte Chancen auf Veränderung hatte. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu den herausragenden Vorbildern des arabischen Frühlings wie Ägypten oder Tunesien.

Revolutionsgarden werden immer mächtiger

So bleibt es ungewiss wann es wieder große Konfrontationen zwischen Bevölkerung und Staatsapparat im Iran geben wird. Die Geheim- und Sicherheitsdienste wurden seit den Unruhen 2009 und nochmals seit Beginn des Arabischen Frühlings hochgefahren. Die Atmosphäre ist zunehmend angespannt und immer unüberschaubarer. So wurden zum Beispiel die Kleiderverordnungen nochmals verschärft, je nach Tagesform wird auf die neuen Kleidervorschriften mehr oder weniger Wert gelegt. Befragungen und Verhaftungen durch Polizei oder Revolutionsgarden machen den Alltag im Iran noch unberechenbarer und gefährlicher. Auch nimmt seit Februar die Anzahl und Frequenz der offiziellen Hinrichtungen alarmierend zu.
Die aktuelle Tendenz zu einer noch stärkeren Militarisierung der Gesellschaft, der Wirtschaft und Politik wird vor allem durch die Revolutionsgarden vorangetrieben. So scheinen die von Khomeini 1979 gegründeten Revolutionsgarden von politischen Konflikten zwischen Regime, Regierung, Opposition oder Bevölkerung immer wieder profitieren zu können. Sie wurden ins Leben gerufen, um die unsichere Situation nach der Revolution zu stabilisieren und ein treues Machtinstrument des Revolutionsführers zu sein. So kommen sie unter der Schirmherrschaft des »unanfechtbaren« Führers in allen für das System brenzligen Situationen zum Zug und sollen durch die Regierung verfassungsgemäß in Friedenszeiten auch für Versorgung, Bildung, Produktion und den Dschihad eingesetzt werden.
Mittlerweile üben sie entscheidenden wirtschaftlichen wie politischen Einfluss auf den iranischen Staat aus und stellen neben der regulären Armee eine wichtige (para-)militärische Kraft im Land dar. So ist ihnen nicht nur die Basij-Miliz unterstellt, sondern sie sollen auch die Kontrolle über das angebliche Atomwaffenprogramm ausüben.
Im Iran-Irak Krieg (1980-1988) spielten sie die entscheidende Rolle zur Verteidigung und Rückeroberung des Landes. Und so wirkt die zunehmende Kontrolle der Beschützer Irans wie die Übernahme einer Kreatur über ihren Schöpfer. Ihr eigentlicher Befehlshaber Khamenei, der von Beginn an Legitimationsschwierigkeiten hatte, ist daher immer mehr gezwungen, sich stärker an ihnen zu orientieren und wird intern zunehmend eine schwächere Führungsfigur.
Die Konsequenzen dieser Entwicklungen sind kaum abzusehen. Doch das eine sich religiös legitimierende paramilitärische Staats- und Wirtschaftsmacht durch eine iranische Fortsetzung des Arabischen Frühlings die Kontrolle über ein so reiches Gas- und Ölland wie Iran nehmen lassen möchte, wäre wohl genauso überraschend wie die Wiederkehr des 12. Imam auf Erden höchstpersönlich.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...