12.11.2012
Geschlechtsspezifische Diskriminierung im Libanon: "Gewalt gegen Frauen kennt keine Konfessionen und keine Klassen"
Libanesische Frauen auf einer Demonstration auf dem Märtyrerplatz in Beirut. Foto: Bodo Straub
Libanesische Frauen auf einer Demonstration auf dem Märtyrerplatz in Beirut. Foto: Bodo Straub
Trotz seines liberalen Images sind im Libanon Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen ein verbreitetes Problem. Gesellschaftlich debattiert wird dieses Thema jedoch kaum. Kafa, die führende Frauenrechtsorganisation des Landes, versucht seit Jahren das Schweigen zu brechen und Frauen vor Gewalt zu schützen. Alsharq sprach mit Hiba Abbani, Projektkoordinatorin bei Kafa, über die Benachteiligung der Frau im Libanon und über eine Gesetzesvorlage, die häusliche Gewalt gegen Frauen unter Strafe stellen soll.
Das Interview führte Maximilian Felsch

Frau Abbani, Sie und Ihre Organisation Kafa engagieren sich gegen Diskriminierung und geschlechtsspezifische Gewalt im Libanon. Können Sie uns zunächst erklären, was unter geschlechtsspezifischer Gewalt zu verstehen ist?
Geschlechtspezifische Gewalt ist jede Form von Schaden, der einer Frau angetan wird, allein weil sie eine Frau ist. Das kann sich auf physische, psychologische oder ökonomische Gewalt beziehen. Das schließt auch das Verbot ein, sich als Frau am öffentlichen Leben zu beteiligen oder Bildungseinrichtungen zu besuchen.
Welche Formen geschlechtspezifischer Gewalt sind im Libanon besonders verbreitet?
Das Problem existiert natürlich nicht nur im Libanon. Es ist ein universales Phänomen, das auf patriarchalen Systemen und Ideologien beruht. Jedes Land weist in diesem Punkt spezifische Probleme auf. Speziell im Libanon wird die Frau als minderwertiger Bürger wahrgenommen. In der libanesischen Gesellschaft ist immer noch das Rollenverständnis verbreitet, wonach die Frau sich vor allem um den Haushalt und um die Kinder kümmern soll.
Ist das nicht ein Gesellschaftsmodell, das in den meisten Ländern immer noch vorherrscht?
Das ist richtig, aber anders als in vielen westlichen Ländern wird dieses Modell im Libanon sehr offen vertreten und offensiv als „normale“ Rollenverteilung verteidigt. Die meisten Libanesen haben sehr genaue Vorstellungen davon, welche Rolle die Frau zu erfüllen hat und welche Rolle dem Mann zukommt. Frauen sollen sich um das Haus kümmern und ihrem Mann folgen. Und dass Frauen ihre eigene Sexualität besitzen, das wird überhaupt nicht akzeptiert. Sogar Menschen, die sich in NGOs engagieren und modern und aufgeklärt erscheinen und erklären, sie stünden für Gleichberechtigung, vertreten oft die Meinung, dass Frauen, die unabhängig und stark sind, eher Männern gleichen.
Abgesehen von diesen kulturell-basierten Aspekten, welche Formen legaler Diskriminierung von Frauen sind im Libanon verbreitet?
Zunächst möchte ich sagen, dass aus meiner Sicht die gesellschaftliche Wahrnehmung durch die Gesetzgebung beeinflusst wird und umgekehrt. Das lässt sich nicht so leicht trennen. Das patriarchale System wird durch die Gesetze gestärkt und erhalten.
Können Sie uns ein paar Beispiele legaler Diskriminierung nennen?
Im Libanon herrscht ein konfessionalistisches System vor [in dem jede Religionsgemeinschaft autonom in Fragen der Personenstandsrechts agiert, einschließlich einer unabhängigen Gerichtsbarkeit, Anm. M.F.] und keine einzige Gemeinschaft erlaubt es Frauen, sich scheiden zu lassen. Frauen haben auch nicht den Anspruch, den gleichen Teil wie ihr Bruder zu erben – sie bekommen in der Regel nur halb so viel. Da es im Libanon kein ziviles Recht in diesen Fragen gibt, können Frauen dieser patriarchalen religiösen Rechtssprechung nicht entkommen. Im Fall der muslimischen Gemeinschaften, die die Gesetze der Scharia anwenden, gelten z.B. Zeugenaussagen von Frauen nur halb so viel wie die von Männern. Und wenn ein Paar heiratet, braucht es als Trauzeugen entweder zwei Männer oder einen Mann und zwei Frauen oder aber vier Frauen, um der Ehe Rechtmäßigkeit zu verleihen.
Aber auch das libanesische Zivilrecht diskriminiert Frauen. Da gibt es z.B. den Paragraphen 522, für dessen Abschaffung wir uns seit Jahren stark machen. Dieses Gesetz besagt, dass ein Mann, der eine Frau vergewaltigt hat, dann straffrei bleibt, wenn er seinem Opfer anbietet, es zu heiraten. Für die Straffreiheit ist es unerheblich, ob die Frau dieses Angebot annimmt. In den meisten Fällen jedoch wird durch die Familie und das soziale Umfeld Druck auf die Frau ausgeübt, dieses Angebot tatsächlich anzunehmen. Dieses Gesetz existiert nicht nur im Libanon, sondern in vielen arabischen Staaten.
Schließlich werden Frauen im Libanon auch durch ein geringeres Gehalt systematisch diskriminiert. Nach dem Gesetz steht Frauen im öffentlichen Dienst für die gleiche Position weniger Gehalt zu als Männern. Auch Sozialleistungen für Kinder und Familien werden nur an Männer ausgezahlt. Und schwangere Frauen sind rechtlich nicht geschützt – nicht selten wird ihnen im letzten Monat ihrer Schwangerschaft gekündigt.
Wie rechtfertigt der Staat diese Diskriminierungen?
Die Regierung versteht den Mann als Oberhaupt der Familie, daher stehen nur ihm staatliche Leistungen zu und deshalb benötigt vor allem er ein auskömmliches Gehalt.
Wo steht der Libanon in Frauenrechtsfragen im Vergleich mit anderen arabischen Staaten?
Die Situation der Frauen ist in allen arabischen Staaten ähnlich, auch wenn es in den Formen geschlechtsspezifischer Gewalt und Diskriminierung Unterschiede gibt. Das Besondere im Libanon ist, dass ihm das Image eines liberalen Landes anhaftet. Das liegt wahrscheinlich daran, dass Besucher zuerst die vielen Bars und Clubs auffallen. Doch wenn sie in den Süden fahren, ins Bekaa-Tal, nach Akkar oder auch schon in die Vororte Beiruts, also dorthin, wo die Familien wohnen, dann finden sie eine Gesellschaft vor, die genauso konservativ ist wie die anderer arabischer Länder. Im Bereich Bildung jedoch bietet der Libanon Frauen gleiche Chancen, was man von den meisten arabischen Staaten nicht behaupten kann. Auch die Verheiratung von Minderjährigen ist kein Thema im Libanon, anders als z.B. im Jemen. Dafür weist der Libanon eine sehr hohe Rate an sogenannten Ehrenmorden auf. Die besonders in Ägypten und Sudan verbreitete Genitalverstümmelung wird im Libanon zum Glück nicht praktiziert. Sexuelle Belästigung schließlich ist als Phänomen in der gesamten arabischen Welt verbreitet, am stärksten wahrscheinlich in Ägypten.
Gibt es denn auch positive Beispiele von Ländern, die Frauen vor Gewalt schützen?
Jordanien hat vor Kurzem ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt erlassen. Dieses Gesetz stellt physische Gewalt gegen die eigene Ehefrau unter Strafe, jedoch nicht sexuelle Gewalt. Es ist leider nicht sehr effektiv, da es versäumt wurde, weitere Schutzmechanismen für die Frau zu etablieren, sodass in der Realität kaum eine Frau tatsächlich ihren Ehemann bei der Polizei anzeigen wird.
Auch das libanesische Parlament diskutiert seit langer Zeit über ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Wie stehen Sie zu diesem Gesetz, an dessen Entwicklung Kafa ja auch beteiligt gewesen ist?
Wir haben zusammen mit 60 NGOs und vielen Anwälten ein Gesetzentwurf erarbeitet, der Frauen einen effektiven Schutz vor häuslicher Gewalt bieten würde. Nach intensiver Lobbyarbeit hat das Parlament eine Kommission gebildet, die diesen Gesetzentwurf diskutiert. Leider wurde es von dieser Kommission bereits so verwässert, dass es in dieser Form keinen effektiven Schutz mehr bieten würde. Wir haben gefordert, dass es speziell ausgebildete Polizeikräfte braucht, am besten weibliche Polizisten, denen sich Frauen eher anvertrauen könnten. Wir kennen die Erfahrungen von Frauen, die ihren Mann bei der Polizei anzeigen wollten. Oft werden sie von Polizisten gemobbt und ihnen wird meist gesagt, sie sollten schnell wieder nach Hause gehen. Wir haben auch gefordert, dass ein Jeder häusliche Gewalt zur Anzeige bringen kann, nicht nur das Opfer der Misshandlung selbst. Leider wollen die Parlamentarier, die das Gesetz beraten, keine dieser Schutzmechanismen. Sie wollen sogar den Namen des Gesetzes ändern. Anstatt „Gesetz zum Schutz der Frau vor häuslicher Gewalt“ soll es nun „Gesetz zum Schutz der Familie vor häuslicher Gewalt“ heißen. Hier wird einmal mehr deutlich, dass nicht anerkannt wird, dass es im Libanon ein Problem mit Gewalt speziell gegen Frauen gibt.
Was ist der Grund dafür, dass das Gesetz noch immer nicht verabschiedet ist?  
Das Hauptproblem ist, dass politische Parteien eng mit religiösen Institutionen vernetzt sind. Bei jeder Wahl sind die Parteien auf Bündnisse mit religiösen Würdenträgern angewiesen, um gewählt zu werden. Die religiösen Institutionen sind daher sehr mächtig und sie können Menschen zu Großdemonstrationen mobilisieren. Kaum ein Politiker wird gegen die Interessen dieser Institutionen agieren. Auf der muslimischen Seite gibt es keine religiöse Institution, die dem Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt zustimmt. Das Dar al-Ifta [die höchste religiöse Institution der Sunniten im Libanon, Anm. M.F.] zum Beispiel lehnt das Gesetz ab, weil es angeblich die Familien zerstören und den orientalischen Werten zuwider laufen würde. Vor zwei Jahren hat Dar al-Ifta sogar eine Gegenkampagne zu unserer Gesetzesinitiative gestartet und Proteste organisiert.
Das heißt, dass die religiösen Autoritäten im Libanon das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt als eine illegitime Einmischung in ihre internen Angelegenheiten auffassen?
Genauso ist es. Und aus diesem Grund sagen uns zwar Politiker im direkten Gespräch oft, dass sie unsere Initiative unterstützen würden, aber wenn es um die Punkte geht, die das Gesetz erst effektiv machen würden, dann machen sie einen Rückzieher. Daher wurde es auch abgelehnt, dass das Gesetz auch Strafen für eheliche Vergewaltigung vorsieht.
Gibt es denn auch politische Kräfte, die das Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt unterstützen?
Ja, etwa die maronitisch-christlichen Parteien Kataeb und die Lebanese Forces und die sunnitische Mustaqbal unterstützen uns auch offiziell. Jedoch steht Samir al-Jisr – der Vorsitzende des parlamentarischen Komitees zur Beratung des Gesetzes und zugleich Mitglied der Mustaqbal – leider dem Dar al-Ifta sehr nahe. Al-Jisr ist der Überzeugung, dass das Gesetz das islamische Recht verletzen würde. Unser Dilemma ist, dass alle Kräfte des „14. März“ unser Anliegen zumindest offiziell unterstützen, das Regierungslager es jedoch ablehnt. Daher werden wir oft in eine politische Ecke gedrängt, obwohl wir ein politisch unabhängiger sowie nicht-konfessioneller Akteur sind. 
Ist geschlechtsspezifische Gewalt ein Phänomen aller Religionsgemeinschaften oder gibt es Unterschiede?
Gewalt gegen Frauen kennt keine Konfessionen und keine Klassen. Aber ich will nicht unerwähnt lassen, dass die maronitische Kirche und der maronitische Patriarch Bechara Rai unser Anliegen zum Schutz vor häuslicher Gewalt unterstützen.
Mit welchen Mitteln versucht Kafa, die Gleichberechtigung von Frauen im Libanon zu verbessern und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen?
Unser wichtigstes Projekt ist unser „Zuhör- und Therapiezentrum“. Wir glauben, dass wir das Schweigen über Gewalt gegen Frauen brechen müssen. Das Problem ist, dass Frauen keine Möglichkeiten und keine Macht haben, um über Gewalt, die ihnen angetan wird, zu sprechen. Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein Verbrechen, vor dem die Augen verschlossen werden. Wir dokumentieren Fälle von Gewalt gegen Frauen und machen sie publik. Und wir betreiben Lobbyarbeit bei Medien, damit sie über diese Themen berichten. So wollen wir ein öffentliches Bewusstsein schaffen und die Gesellschaft für Fragen der Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen sensibilisieren.
Frau Abbani, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. 

Hiba Abbani hat Journalismus studiert und arbeitet seit einem Jahr als Projektkoordinatorin bei Kafa. Kafa (bedeutet übersetzt so viel wie "genug") wurde 2005 als unabhängige und gemeinnützige Organisation gegründet und setzt sich für die Rechte der Frauen im Libanon ein.