Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehöre, wird immer wieder aufgegriffen, wenn es politisch opportun erscheint. Stets geht es in der Debatte darum, Grenzen ziehen - künstliche Grenzen. Dabei war die deutsche Debatte schon einmal viel weiter, schreibt Iskandar Ahmad Abdalla.
Kaum hatte er das Bundeskabinett übernommen, sorgte der neue Innenminister für Schlagzeilen. Für Horst Seehofer, das enfant terrible des deutschen Konservatismus, gibt es nichts Passenderes, um gleich zu Amtsantritt aufzufallen, als eine provokante Äußerung zum Islam zu machen. Besonders kreativ ist das jedoch nicht. Er wiederholt im Grunde nichts Anderes als das Mantra der vergangenen Jahre: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. Kreativität ist bei den Äußerungen in der deutschen Politik nicht immer das ausschlaggebende Kriterium. Denn egal wie abgedroschen die Debatte erscheinen mag: Mit der Frage, ob der Islam (nicht) zu Deutschland gehört, kann man weiterhin politisch punkten.
“Die deutsche Leitkultur ergibt sich eindeutig aus unserem Grundgesetz und vor allem aus den Werten, die Grundlage unserer Verfassung sind. Wir haben eine christlich geprägte Wertetradition mit jüdischen Wurzeln. Keine andere.” - Horst Seehofer im Oktober 2010.
Für Seehofer und andere Populisten scheint der Islam auf paradoxe Weise von großer Relevanz für das nationale Selbstbild zu sein. Das „Deutschsein“ wird bestimmt, indem man das, was „nicht dazu gehört“, herausstellt und immer wieder deklariert. Seit Generationen Leben Muslime zwar in Deutschland, betrachten sich als integrale Bestandteil des Landes und prägen sichtbar die deutsche Öffentlichkeit – aber es geht hier nicht um Fakten, sondern um Prinzipien.
Keine Frage des Rechts, sondern der Werte
Für Seehofer und seinesgleichen ist das Dazugehören weder räumlich noch rechtlich zu verstehen. Es ist vielmehr eine Wertefrage. Zu Deutschland gehört, wer bestimmte Werte teilt; nicht, wer hier lebt, sich deutsch fühlt oder de jure Deutsche*r ist. Werte definieren die Gemeinschaft, legen ihre Grenzen fest, bestimmen, wer etwas zu sagen hat und wer zum Ausschluss verdammt ist. Mit einer allgemeinen Auffassung der beanspruchten Werte gibt sich diese Rhetorik nicht zufrieden. Als christliche Werte werden diese noch konkretisiert. Die Berufung auf das Christentum macht sie nicht nur homogen, sondern einzig und exklusiv gültig. Denn „andere Religionen können nicht prägend für unsere gewachsene Werteorientierung sein.”
Dementsprechend können Muslime zwar als Außenstehende in Deutschland toleriert, doch nicht als gleichberechtigte Teilhaber der Gemeinschaft angesehen werden. Vielleicht erst dann, wenn sie den Islam komplett aufgeben? Alexander Dobrindt beispielsweise bestreitet, dass man einen fügsamen Islam von einem nicht integrierbaren unterscheiden sollte. Der Islam gehöre, „egal in welcher Form auch immer nicht zu Deutschland“, deklarierte der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe und überbot damit sogar seinen Parteivorsitzenden.
Kann es voneinander getrennte Kulturkreise geben?
Die Logik, die hier am Werk ist, ist nicht neu. Ihr zufolge besteht kein Zweifel daran, dass sowohl „Islam“ als auch „Deutschland” zwei wesensverschiedene Einheiten sind. Sie beruht auf der Vorstellung, es gäbe geschlossene Wertsysteme, distinktive Kulturkreise mit unverwechselbaren Zügen, die Gemeinschaften ihren Charakter verleihen und die (Un)Zugehörigkeiten bestimmen können. Kulturgemeinschaften können demnach in Kontakt treten, bleiben jedoch klar voneinander getrennt. Sie besitzen ihnen eigene Merkmale und Inhalte, und es kann folglich leicht unterschieden werden, wer dazugehört und wer nicht.
Historische Entwicklungen und sich verändernde politische Gegebenheiten zeigen jedoch, wie mobil die Grenzen der beanspruchten Kulturgemeinschaft sein können. Bestimmte Elemente gehen verloren und werden durch andere ersetzt und als Folge als „schon immer“ zugehörig wahrgenommen. So spricht man heute von „jüdisch-christlichen Traditionen“ als stellten diese eine ewige Selbstverständlichkeit dar, wenngleich dies eine Behauptung ist, die – vor allem im deutschen Kontext betrachtet – einer ernsthaften historischen Auseinandersetzung nicht standhalten würde.
Eine jahrhundertealte Zugehörigkeitsdebatte
Der Islam ist in Deutschland seit fast einem Jahrhundert Gegenstand einer Zugehörigkeitsdebatte, also nicht erst als der damalige Bundespräsident Christian Wulff 2010 seinen berühmten Satz sagte, sondern bereits bevor es überhaupt ein repräsentatives muslimisches Leben in Deutschland gab. Schon 1922 stellte Carl Heinrich Becker (1876-1933), der als Gründer der Islamwissenschaft in Deutschland gilt, die These auf, dass „die islamische Welt zur europäischen (und) nicht zur asiatischen gehört.“[1]
Anders als Seehofer will Becker hier nicht zwecks Selbstvermarktung – oder um die abgewanderten AfD-Wähler*innen zurückzugewinnen – eine politische Kontroverse starten. Vielmehr handelt es sich bei ihm um eine Frage von Geschichtsschreibung: Soll der Islam als Teil europäischer Kulturgeschichte betrachtet werden? Becker stimmte der Vorstellung relativ geschlossener Kulturkreise zu, er verhandelt aber ihre Grenzen neu, um festzulegen, dass der Islam „unbedingt zur abendländlichen Entwicklungsreihe gehört.“[2]
Weder Geographie noch ethnische Unterschiede waren bei ihm das entscheidende Kriterium, sondern „die Verwandtschaft der kulturellen Grundlagen.“[3] Das Christentum und der Hellenismus sind für Becker zwar die Basis europäischer Kultur, doch der Islam gehöre mit zu ihren Erben und somit ist er mit der europäischen Welt „durch 1000 Fäden verbunden.“[4] Das taktische Kalkül hinter Beckers These bleibt nicht verborgen. Denn in dem Moment, in dem der Islam als Teil der eigenen Geistesgeschichte verstanden wird, lässt er sich mit denselben Referenzen und Wissensparadigmen, die sich in Europa entwickelt haben, erfassen und beurteilen.
Der Islam fungiert hier als ein Wissensfeld. Eines, das zugleich und auch auf eine paradoxe Weiße eine verherrlichende Erkenntnis über die eigene Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte liefern sollte. Selbst wenn die kulturellen Grundlagen übereinstimmen, die Früchte der Kultur sind demnach nur in Europa zu finden. Innerhalb weniger Zeilen wird dem Leser so bewusst gemacht, was die Bindung des Islams an Europa eigentlich offenbart, nämlich eine Diskrepanz in der Aufarbeitung des gemeinsamen kulturellen Erbes: Während es sich in Europa humanistisch entfalten konnte, kommt es im Islam zu seinem kulturellen Erliegen.[5]
Die Frage nach der Verortung des Islams ist also ganz und gar nicht neu. Sie selbst gehört längst zu Deutschland. Nur verändern sich die Rahmenbedingungen und die politischen Ansprüche, die sich hinter der Frage nach der Zugehörigkeit des Islams verbergen. Eins wird dabei klar: Wenn heute ein Staat, der sich selbst als modern und säkular versteht, die Zugehörigkeit seiner Subjekte zur staatlichen Gemeinschaft auf Grund ihrer religiösen Überzeugung immer wieder infrage stellt, dann scheint etwas fundamental falsch zu laufen.
Referenzen:
[1] Becker, Carl Heinrich: Der Islam im Rahmen einer allgemeinen Kulturgeschichte, in Zeitschrift der Deutschen Morgenländlichen Gesellschaft. (1922). S. 21.
[2] Ebd. S. 20.
[3] Ebd. S. 22.
[4] Ebd. S. 26.
[5] Ebd. S. 29-34.