12.10.2011
Gefangenenaustausch zwischen Israel und der Hamas – Hintergründe und Folgen
Von Christoph Sydow und Christoph Dinkelaker
Seit fast 2000 Tagen befindet sich Gilad Shalit in der Gefangenschaft der Hamas. Über fünf Jahre nach seiner Entführung im Juni 2006 während einer Patrouillenfahrt nahe des Gazastreifens haben sich Israel und die Hamas auf die Freilassung des Soldaten im Austausch gegen 1027 in israelischen Gefängnissen einsitzende palästinensische Häftlinge verständigt. Wieso wurde gerade jetzt der Durchbruch erreicht und welche Folgen hat die Einigung für die regionalen Akteure?
Über die Grundzüge des Abkommens – die Freilassung Shalits gegen etwa 1000 palästinensische Häftlinge – herrschte hinter den Kulissen bereits seit Jahren eine grundsätzliche Einigung. Die politischen Veränderungen der vergangenen Monate – die Umwälzungen in der Arabischen Welt und Mahmud Abbas' Initiative zur Anerkennung eines unabhängigen Staates Palästina – haben entscheidend dazu beigetragen, dass der Gefangenenaustausch in den nächsten Wochen Wirklichkeit wird. Nicht zuletzt spielte der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess: Schin Bet-Direktor Yoram Cohen hatte sich für die Übereinkunft ausgesprochen, da er eine militärische Befreiung Shalits als „unmöglich“ einschätzte.
Für Israels Regierung ist die Freilassung des israelischen Soldaten, an dessen Schicksal das ganze Land Anteil nahm, ein Achtungserfolg, der die Popularitätswerte von Premier Benjamin Netanyahu nach oben treiben dürfte. Meinungsumfragen zeigten, dass die Mehrheit der Israels einen Gefangenenaustausch begrüßt, auch wenn im Gegenzug Palästinenser freigelassen werden, die israelische Soldaten und Zivilisten töteten. Im Kabinett stimmten 27 der 30 Regierungsmitglieder für das Abkommen mit der Hamas.
Zwei prominente Häftlinge bleiben hinter Gittern


Hinter den Kulissen mussten die Befürworter des Abkommens für das klare Abstimmungsergebnis jedoch hart kämpfen. Verteidigungsminister Ehud Barak war es etwa vorbehalten, persönlich beim Spiritus Rector der sephardisch-orthodoxen Shas-Partei, Rav Ovadia Yosef, Überzeugungsarbeit zu leisten. Trotzdem stimmten sowohl Außenminister Avigdor Liberman von der säkular-nationalistischen Partei Yisrael Beiteinu, als auch Likud-Mitglied und Vize-Premier Moshe Ya'alon gegen den Gefangenenaustausch, ebenso wie Uzi Landau (Yisrael Beiteinu). Landau warnte, der Shalit-Deal sei „ein großer Sieg für den Terrorismus“ und werde weitere Anschläge und Entführungen nach sich ziehen.
Benjamin Netanyahu hält dem entgegen, dass einige der hochrangigsten palästinensischen Häftlinge weiter in israelischen Gefängnissen sitzen werden, auch wenn eine genaue Liste mit den Namen der Freigelassenen erst in den nächsten Tagen veröffentlicht werden soll. 450 von der Hamas benannte Insassen sollen in einem ersten Schritt freigelassen werden, weitere 550 soll Israel später selbst auswählen können.
Doch schon jetzt ist klar, dass prominente Häftlinge wie Marwan al-Barghouthi, Fatah-Mitglied und als Strippenzieher der Zweiten Intifada zu fünffach lebenslang verurteilt und der sich im Hungerstreik befindende Generalsekretär der PFLP, Ahmad Sa'adat, - zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt - nicht Teil des Austausches sein werden. Die Hamas hatte lange auf ihrer Freilassung beharrt um so den Anschein zu vermeiden, lediglich eigene Anhänger freipressen zu wollen.
Netanyahu bestätigt damit das oft wiederholte Mantra, nach dem nur rechte israelische Regierungen in der Lage sind erfolgreich mit den Palästinensern zu verhandeln. Jedoch wirft das Abkommen die Frage auf, warum ein solcher Durchbruch im Fall Shalit mit der als radikal wahrgenommenen Hamas möglich ist, gleichzeitig aber die Verhandlungen mit der gemäßigten Fatah seit über einem Jahr stocken.
Netanyahu federt internationalen Druck wegen des Siedlungsbaus ab
Mit dem Schritt nimmt Netanyahu auch außenpolitisch das Heft des Handelns wieder in die Hand, das ihm nach dem palästinensischen PR-Erfolg im Zuge der UN-Initiative von Mahmud Abbas entglitten war. Dessen Pläne für einen eigenen Staat geraten nun fürs Erste in den Hintergrund. Gleichzeitig federt der israelische Regierungschef dadurch den internationalen Druck auf sein Kabinett ab. Selbst die engen Verbündeten USA und Deutschland hatten sich in den letzten Wochen verärgert über den Ausbau der israelischen Siedlungen im besetzten Ost-Jerusalem gezeigt. Jetzt kann sich Netanyahu als Staatsmann präsentieren, der sehr wohl zu schmerzhaften Zugeständnissen an die Palästinenser bereit ist. Damit dürfte auch das Streitthema Siedlungsbau in den nächsten Wochen in den Hintergrund treten. Für den Premierminister steht unter dem Strich ein diplomatischer Erfolg.
Gleiches gilt auf der anderen Seite für die Hamas. Ihr Politbüro-Chef Khaled Meshaal feierte die Einigung in einer TV-Ansprache am Dienstag Abend als „nationalen Erfolg für das gesamte palästinensische Volk“. Auch seine Organisation war durch die von der rivalisierenden Fatah angestoßene UN-Initiative, die von der Hamas abgelehnt wird, in die Defensive geraten.
Nun präsentiert sich Meshaal als palästinensischer Politiker, der Israel zu weitreichenden Zugeständnissen zwingt und dabei greifbare Ergebnisse vorweisen kann. Anders als sein Rivale Mahmud Abbas, der für seinen Antrag auf Anerkennung des palästinensischen Staates durch die Vereinten Nationen zwar international viel Zustimmung bekam, dessen Initiative realpolitisch bislang jedoch folgenlos geblieben ist.
Viele freigelassene Häftlinge müssen ins Exil
Im Westjordanland aber mehr noch im Gazastreifen war die Freude über die Einigung groß. Menschen feierten auf den Straßen, Familien zeigten sich überglücklich, ihre inhaftierten Angehörigen bald wiedersehen zu können. Zu den Freigelassenen gehören 280 Palästinenser, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden, einige sitzen seit Jahrzehnten hinter Gittern. Dies kann die Hamas als Erfolg verkaufen.
Der Gazastreifen, das Gebiet in dem Gilad Shalit gefangen gehalten wurde, litt schwer unter dem fünf Jahre währenden Kräftemessen. Die Entführung des Soldaten nahm Israel zum Anlass, den Küstenstreifen abzuriegeln und war auch eines der Motive für die Militäroperation „Gegossenes Blei“, bei der die israelische Armee 2008/09 1400 Palästinenser tötete und mehr als 5000 verletzte. Auch deshalb reagierten die Bewohner des Gazastreifens erleichtert auf den Verhandlungserfolg.
Doch nach der ersten Euphorie kehrt auf palästinensischer Seite langsam Ernüchterung ein. Ärger herrscht nicht nur darüber, dass die Symbolfiguren Barghouti und Sa'adat nicht freikommen, sondern auch über andere Bedingungen des Austausches. Nur die Hälfte der Freigelassenen darf in ihre Heimat zurückkehren, zum Teil unter der Auflage, ihre Städte und Dörfer nicht verlassen zu dürfen. Die andere Hälfte muss ins Exil gehen, zahlreiche Häftlinge aus dem Westjordanland werden zudem in den Gazastreifen geschickt.
Ein großer diplomatischer Erfolg für Kairos Militärführung
Auch der wachsende innenpolitische und internationale Druck auf die syrische Regierung hat den Durchbruch zum jetzigen Zeitpunkt erleichtert. Khaled Meshaal und ein großer Teil der Hamas-Führung sitzen in Damaskus und werden vom Assad-Regime unterstützt. Dadurch, dass ihr wichtigster Förderer immer mehr in Bedrängnis gerät, dürfte die Hamas eher zu einem Kompromiss bereit gewesen sein.
Zugleich verschafft sich Bashar al-Assad dadurch zumindest kurzzeitig eine Atempause. Wenn der Gefangenenaustausch mehrheitlich als Erfolg die Palästinenser wahrgenommen wird, fällt ein Teil des Glanzes auch auf ihn. Auf einer Großdemonstration für sein Regime in Damaskus feierten am Mittwoch Zehntausende ihren angeschlagenen Präsidenten – auch für seine Unterstützung für die Hamas.
Doch erste Beobachter mutmaßen, dass die Hamas-Führung mit der Einigung unter ägyptischer Vermittlung die Vorbereitungen für einen Umzug von Damaskus nach Kairo getroffen habe. Sollte das Assad-Regime stürzen, könnte die neue ägyptische Führung Meshaal und anderen Obdach bieten.
Die erfolgreiche ägyptische Vermittlung unter dem neuen Geheimdienstchef Murad Muwafi zeugt jedenfalls von den verbesserten Beziehungen zwischen der Hamas und der Regierung in Kairo. Für die Militärspitze in Ägypten ist der erzielte Kompromiss der größte diplomatische Erfolg seit Mubaraks Sturz. Die ägyptische Staatsführung zeigt damit, dass sie auch in Zukunft eine Schlüsselrolle in der Region einnehmen will und kann. Die internationale Kritik nach der blutigen Niederschlagung einer koptischen Demonstration am Sonntag in Kairo wird fürs Erste verstummen. Die ägyptische Regierung gewinnt verlorengegangenen Kredit bei den westlichen Verbündeten zurück.
Mahmud Abbas steht als Verlierer da
Ganz nebenbei beweisen Israel und Ägypten, dass sie trotz der jüngsten Spannungen in der Lage sind, miteinander vertrauensvoll zu verhandeln und zu greifbaren Ergebnissen zu kommen. Gerade als die ersten Meldungen über den Austausch am Dienstag Abend öffentlich wurden, erklärte das israelische Verteidigungsministerium, dass man sich für den Tod ägyptischer Grenzsoldaten im August entschuldigen werde. Auch dies ist ein Zugeständnis an die ägyptischen Vermittler und ein Erfolg, der dem in die Kritik geratenen Obersten Militärrat innenpolitisch gelegen kommt.
So gibt es in dieser Gemengelage derzeit nur einen wirklichen Verlierer: Palästinenserpräsident Mahmud Abbas. Seine UN-Initiative trug maßgeblich zu dem Durchbruch bei, gerät nun aber fürs Erste in Vergessenheit. Abu Mazens Rivalen von der Hamas können sich für die Freilassung der palästinensischen Gefangenen feiern lassen und erhöhen dadurch auch ihre Siegchancen vor den Wahlen im kommenden Jahr. Abbas muss zu alldem gute Miene machen und gratuliert zu dem Erfolg, ohne jedoch dabei den Namen der konkurrierenden Partei in den Mund zu nehmen.
Aus machtpolitischer Sicht dürfte der farblose Technokrat Abbas erleichtert sein, dass der charismatische Marwan Barghouti bis auf weiteres in israelischer Haft bleibt. Der populäre 52-Jährige würde als freier Mann zwar der Fatah neue Unterstützung unter den Palästinensern sichern, aber zugleich dem gealterten Fatah-Chef Konkurrenz machen und dessen Führungsanspruch bedrohen.
Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...