02.09.2016
Gefangen auf einer Insel – Eindrücke aus Lesbos
Das provisorische Zeltlager des "No Border Social Center" am Strand von Lesbos. Foto: No Border Kitchen Lesvos (https://www.facebook.com/NBKLesvos/?fref=ts)
Das provisorische Zeltlager des "No Border Social Center" am Strand von Lesbos. Foto: No Border Kitchen Lesvos (https://www.facebook.com/NBKLesvos/?fref=ts)

Lesbos ist für viele fliehende Menschen zum Symbol für die Abschottungspolitik der EU geworden. Seit die „Balkanroute“ geschlossen und das EU-Türkei-Abkommen in Kraft ist, wird es für die Flüchtenden immer schwieriger, die griechische Insel in Richtung Europa zu verlassen. Teils harren sie monatelang unter widrigen Umständen aus. Valeria Hänsel berichtet.

Ahsan[1] sitzt mit ernster Miene auf einer Bank am Strand. Unter einem Sonnensegel macht er eine Pause und trinkt einen Tee, bevor er wieder sechs Kilometer in das Flüchtlingslager Moria zurücklaufen muss. Der vierzigjährige Pakistaner kommt von einem Arztbesuch in der nächstgelegenen Stadt Mytilene und trägt eine Tüte voller Schlafmittel und Psychopharmaka bei sich.

Vor uns liegt das Meer und die türkische Küste ist in Sichtweite. Ein idyllisches Bild, wäre da nicht das Kriegsschiff der Grenzschutzorganisation Frontex, das gerade an der Küste patrouilliert. Auch die griechische Küstenwache ist unterwegs, nur die türkische Flotte und das von der deutschen Bundeswehr bemannte NATO-Schiff, das Tag und Nacht die griechisch-türkische Seegrenze abfährt, sind von hier aus nicht zu sehen.

Ahsan ist wie so viele andere in einem labilen Schlauchboot über das Meer nach Lesbos gekommen. Dabei hat er Glück gehabt, denn das Boot ist nicht gekentert und wurde erst von der Küstenwache entdeckt, als es sich weit genug in griechischen Gewässern befand, sodass es nicht zurückgedrängt werden konnte. Seit drei Monaten wartet er nun im Flüchtlingslager Moria darauf, dass sein Asylantrag bearbeitet wird. Wie lange es noch dauert und was danach passieren wird, kann niemand sagen. Inzwischen muss er nicht mehr im abgeriegelten inneren Sicherheitstrakt des Camps leben und darf es wenigstens tagsüber verlassen. Doch seine Chancen auf Asyl stehen aufgrund seiner pakistanischen Herkunft sehr schlecht.

Der geplatzte Traum einer interkulturellen Begegnungsstätte

Hinter uns liegt eine Fabrik und kurz davor ein altes Gebäude, das jahrelang leer gestanden hatte, bis eine Gruppe von ungefähr zwanzig No Border Aktivist_innen es im Juli 2016 in wochenlanger Arbeit in ein buntes und einladendes Social Center verwandelte. Die Aktivist_innen kommen aus verschiedenen Ländern Europas und Amerikas. Einige von ihnen haben selbst Fluchterfahrungen gemacht. Sie alle teilen die Vision einer Welt ohne Grenzen, in der sich jeder Mensch unabhängig von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht frei bewegen darf. Auch ich engagierte mich im Social Center, obwohl ich als Mitglied des „Zentrums für Konfliktforschung Marburg“ ursprünglich für eine Forschung zum Thema „Illegalisierung von Geflüchteten“ angereist war.

Das No Border Social Center war ein Ort der Begegnung und des Austauschs, eine der vielen Initiativen, umMenschen auf der „Balkanroute“ zu unterstützen. Gleichermaßen von Geflüchteten und Aktivist_innen getragen, sollte hier eine offene Begegnungsstätte geschaffen werden; ein Ort in dem sich Menschen verschiedener Kulturen auf Augenhöhe begegnen, Geflüchtete grundlegende Lebensmittel erhalten und Abwechslung in ihre lange Wartezeit auf der Insel bringen können.

Das Center war ausgestattet mit einem Café, einem abgegrenzten Bereich für Frauen, Räumen für Sprachunterricht und Spielräumen für Kinder. Im Spielbereich hingen die selbstgemalten Bilder der Kinder, mit Alltagsszenen aus ihren Heimatorten. Einige der Bilder zeigten auch  Zelte und Stacheldrahtzäune aus Flüchtlingslagern oder überfüllte Schlauchboote auf der Überfahrt.

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Am Eingang des Gebäudes hängt auch heute noch ein buntes „Welcome“-Schild, das in verschiedene Sprachen übersetzt ist – doch seit Ende Juli wurden im Social Center keine Geflüchteten mehr willkommen geheißen. Denn schon vier Tage nach der Eröffnung geriet der Traum einer dauerhaften hierarchiefreien Begegnungsstätte ins Wanken. Die Polizei erschien mehrfach und versuchte, das Gebäude zu schließen. Einige der Aktivist_innen harrten mehrere Nächte auf dem Dach aus und widersetzten sich der Räumung. Die von der Polizei versiegelte Tür wurde wieder geöffnet, und sie machten weiter wie zuvor.

„Die Menschen brauchen diesen Ort, wir fühlen uns alle so wohl hier“, erklärt eine junge Frau. Sie hatte zahlreiche Postkarten gesammelt, auf denen von geflüchteten Menschen aufgeschrieben wurde, warum das Social Center bleiben sollte. Die Postkarten waren für die Alpha Bank gedacht, der das Grundstück gehört und mit der die Aktivist_innen einen Kauf- oder Mietvertrag aushandeln wollten. Doch die Bank sperrte sich und die Karten landeten unbesehen im Müll.

Als die Polizei schließlich mit Festnahmen drohte, entschieden sich die Aktivist_innen, das Gebäude zumindest zeitweise für die Öffentlichkeit zu verschließen, denn die Gruppe wusste, dass die Polizei andere besetzte Häuser in Thessaloniki auf dem griechischen Festland vor kurzem gewaltsam geräumt hatte und einige der Aktivist_innen dort  wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“ zu mehreren Monaten Bewährungsstrafe und Schadensersatzzahlungen im fünfstelligen Bereich verurteilt worden waren.

Die Angebote des Social Centers auf Lesbos wurden dann – soweit es möglich war – in ein provisorisches Zeltlager an den öffentlichen Strand vor dem Gebäude verlegt. Auch dort wird noch Tee und einmal am Tag auch Essen und Kleidung ausgegeben. Aber selbst dieses Zeltlager ist ständig von einer potentiellen Räumung bedroht. Doch die Aktivist_innen  lassen keinen Zweifel daran, dass sie nicht aufgeben werden und bereit sind, jederzeit neue Aufenthaltsorte für geflüchtete Menschen herzurichten. Davon zeugen die Transparente an den Zelten, auf denen „You can't evict a movement“ und „For Humanity against Borders“ zu lesen ist.

„Du kannst nicht in Moria leben. Nicht mal Tiere können so leben.“

Ashan und ich sitzen am Strand unter einem Sonnensegel dieses neuen provisorischen Social Centers und schauen auf das Meer hinaus.  Stockend und in gebrochenem Englisch fängt er an zu erzählen. Er berichtet von den menschenunwürdigen Zuständen im Flüchtlingslager Moria: „Du kannst dort nicht leben, es ist unmöglich. Nicht mal Tiere könnten so leben. Ich bin seit drei Monaten dort. Komm vorbei, du würdest es keine drei Tage aushalten.“ Auf einem Handy zeigt er Fotos von seinem Wohnort: ein kleines Zelt direkt neben völlig verdreckten sanitären Anlagen und einem hohen Stacheldrahtzaun, der das Gelände wie ein Gefängnis umgibt. Von den vielen wütenden Protesten und internen Auseinandersetzungen der Eingeschlossenen hat er Videos gemacht.

Dann folgt der Schock. Er reicht mir sein Handy und wendet sich ab. „Hier, sieh dir das an. Ich kann es nicht anschauen.“ Auf dem Foto liegen eine junge Frau und ein kleines Mädchen blutüberströmt auf dem Boden. Seine Frau und seine Tochter. Sie sind tot, ermordet von Taliban, weil sich Ahsan entschieden hatte, zum Christentum zu konvertieren. Auch er wurde schwer verletzt und floh zusammen mit seinem Vater in die Türkei, wo jener von türkischen Grenzsoldaten erschossen wurde. Nun ist Ashan ganz alleine. „Ich bin immer wieder tagelang in einen Zustand völliger Erstarrung gefallen. Gestern bin ich aufgewacht und heute zum Arzt gegangen“, sagt er. „Ich bin froh, dass ich diesen Ort hier auf dem Weg gefunden habe. Moria ist überfüllt, aber ich bin ganz alleine. Es gefällt mir, dass die Menschen hier lachen. Und dass ich reden kann. In Moria kann ich mit niemandem reden. Wenn ich in Moria bin und an zu Hause denken muss, nehme ich diese Tabletten. Dann schlafe ich.“

Wir sitzen eine Weile schweigend beisammen. Dann kommt ein Auto von der ausgelagerten Küche des Social Centers an den Strand gefahren und die ersten 200 Mahlzeiten werden verteilt. Heute wurde von einer Gruppe Pakistaner gekocht, die selbst aus ihrem Land geflüchtet sind und eine Zeit lang in Moria gelebt haben. Weil sie kaum Chancen auf Asyl hatten, verließen sie das Lager, ohne einen Antrag zu stellen. Heute sind sie Teil der Aktivist_innen-Gruppe, ohne deren Engagement das Social Center seine Arbeit nur sehr eingeschränkt verrichten könnte. Munter springen sie aus dem Auto. Sie wissen, dass ihr Essen besonders beliebt ist und behalten weitere 300 Portionen ein, die sie in der Nähe des Hafens verteilen wollen. Eine Gruppe von Roma-Kindern, die mit einem Football durch das kleine Lager am Strand getollt sind, stürmt nun zur Essensausgabe. Sie wohnen mit ihren Familien in Zelten am Strand und sind direkte Nachbarn des Social Centers. Auch Ashan freut sich über seine Portion. Dann tritt er seinen Rückweg nach Moria an.

„Für den EU-Türkei-Deal wird eines Tages jemand vor Gericht angeklagt werden.“

Am Nachmittag ankert ein Frontex-Schiff vor der Küste. „Sie erwarten einen größeren Andrang an Menschen, jetzt, wo Erdoğan nach dem Putschversuch die Türkei in eine Diktatur geführt hat. Vielleicht halten sie uns auch für Schmuggler, dann müssen wir bald mit Polizeibesuch rechnen“, erklärt eine der freiwilligen Seenotretterinnen, die seit mehreren Monaten auf Lesbos arbeitet und die Ankunft zahlreicher Flüchtlingsboote begleitet hat. Ich frage sie, ob noch Menschen in die Türkei abgeschoben werden und sie erklärt:

„Der EU-Türkei-Deal wurde in vielen Fällen von einer griechischen Berufungsinstanz ausgesetzt. Die Gerichte wollen ihn nicht mittragen, denn sie wissen, dass der Tag kommt, an dem deshalb jemand für Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wird. Es ist bekannt, dass die meisten der rückgeführten Menschen in der Türkei inhaftiert werden, bis sie sich zur sogenannten ‚freiwilligen Ausreise‘ bereit erklären und damit wieder in Krisengebiete abgeschoben werden können.“

Um fünf Uhr beginnt im Zeltlager am Strand die Kleiderausgabe. Nacheinander treten die Menschen mit ihrer Wartenummer in das Kleiderzelt und suchen sich Hosen, T-Shirts und Schuhe aus. Einige der Geflüchteten helfen spontan mit. Sie übersetzen und bringen Ordnung in den Andrang von Menschen, der vor der Tür des Zeltes wartet. Nur drei Kleidungsstücke pro Person werden herausgegeben, damit alle etwas abbekommen. Eine junge Frau mit Kopftuch trägt ein lächelndes Baby auf der Hüfte und hat mit dem anderen Arm einen Berg voll Kleider und Schuhe gegriffen. Sie habe drei Kinder, ein Baby und einen Mann, erklärt sie. Sie brauche die Kleidung. Doch die Aktivist_innen, die  an diesem Tag die Kleiderausgabe betreuen, bleiben zunächst hart. Na gut, pro Kind noch ein Kleidungsstück. Hierarchiefreiheit sieht anders aus. Doch die Waren sind knapp und vor der Tür stehen noch über hundert Menschen mit Wartenummern, die nicht leer ausgehen sollen.

Ein Mann mittleren Alters bedankt sich herzlich für einen Rucksack, den er bekommen hat. Er trägt ein ordentliches Hemd, war Touristenführer in Teheran und spricht fließend Englisch. Er erzählt, dass er den Iran wegen politischer Verfolgung verlassen habe. Erst vor wenigen Tagen ist er auf der Insel Lesbos angekommen. Er scheint noch gar nicht fassen zu können,  dass er nun in den menschenunwürdigen Zuständen des Lagers Moria leben soll. Er würde sich für heute gerne ein Hotel nehmen und dann morgen nach Athen fahren und am besten direkt weiter nach Mitteleuropa, sagt er, Geld sei kein Problem. Die Umstehenden sind verlegen. Niemand traut sich zu sagen, dass dies ohne einen genehmigten Asylantrag nahezu unmöglich ist. Selbst bis ein Antrag gestellt werden kann, dauert es in manchen Fällen Monate. Sollte dem Antrag dann nach weiterer Wartezeit in Griechenland tatsächlich stattgegeben werden, bleibt die Weiterreise nach Mitteleuropa illegal. Nur sehr vorsichtig beginnen einige der Aktivist_innen von der schwierigen Situation auf der Insel zu berichten, denn ohne Hoffnung kann man in einem Lager wie Moria nicht leben.

Gemeinsames Tanzen am Strand – eine Ablenkung vom ständigen Warten

Als es dunkel wird, beginnt am Strand ein kleines Solidaritäts-Konzert von griechischen Musiker_innen mit traditionellen Instrumenten. Wegen des Konzerts fällt die abendliche Plenumssitzung aus, in der normalerweise der nächste Tag geplant und neue Ideen besprochen werden. Es wird sich nur kurz darüber verständigt, wer die Nachtwachen übernimmt. Denn eine Räumung des Lagers durch die Polizei kann jederzeit stattfinden und auch die Hakenkreuze, die in der näheren Umgebung an die Wände gesprayt sind, mahnen zur Vorsicht. Die Frauen und Kinder aus den Lagern Moria und Kara Tepe sind bereits zurückgegangen, denn den weiten Fußweg halten viele in der Dunkelheit für zu gefährlich.

Die Musik des griechischen Ensembles ist vielfältig und mitreißend. Bald kommt eine Gruppe Syrer von der Straße mit einer Trommel hinzu und stimmt mit ein. Die Band lässt sich darauf ein und begleitet die syrischen Lieder. Tische und Stühle werden beiseite geräumt und es wird gemeinsam zu arabischer, pakistanischer und gypsy-Musik getanzt.

Yusuf, ein junger Mann mit einem etwa sechsjährigen Jungen auf dem Arm tanzt besonders ausgelassen. Zwischendrin verteilt er fürsorglich Snacks an alle Umstehenden und bereitet seinem Sohn ein Bett am Strand. Als er sieht, dass ein kleines französisches Mädchen friert, hängt er ihr seinen Pulli um. Nach einer Weile setzt er sich zu mir und wir trinken zusammen ein Bier. Ich frage ihn, warum er hier ist und wo er hin möchte. Daraufhin zeigt er mir Brandwunden und weitere Narben an seinem Körper und lässt mich über seine gebrochene Nase fühlen. Er ist Kurde aus Damaskus und wurde eines Tages von der Straße entführt und in eines von Assads Foltergefängnissen gebracht. Er sei auf dem Weg nach Deutschland. Aber am liebsten wolle er so schnell wie möglich nach Syrien zurück. Denn Syrien sei viel schöner als Deutschland, auch wenn die deutsche Politik besser sei. Nur Amin, seinen Sohn, will er zu seiner Schwester nach Bayern bringen, damit der in Sicherheit ist.

Später in der Nacht legen sich die Crew des Social Centers und die Geflüchteten zur Übernachtung an den Strand. Nur einige wenige treten den Rückweg in die Lager an.

Die Reise auf der Fähre – Luxuskabine oder versteckt im Laderaum

Schon wenige Tage später muss ich die Insel verlassen. Bevor ich auf die Fähre steige, treffe ich eine Gruppe junger Männer aus dem Kongo und Äthiopien in Mytilene, die ab und zu ins Social Center gekommen waren. Sie lachen mir zu und begrüßen mich freudig. „My friend, where are you going?“ ruft mir einer von ihnen zu. Ich zögere und zeige dann wortlos auf die Fähre nach Athen. „Already now?“ Bedrückt nicken sie und sagen auf Wiedersehen. „I hope to see you in Germany!“, sagt einer von ihnen und wir wissen beide, dass dies wohl nie der Fall sein wird.

Auf der Fähre starre ich auf meinen roten Pass mit dem goldenen Adler. Ich kann nicht begreifen, warum dieses Stück Papier mich und den äthiopischen Mann so sehr unterscheidet, warum es mir so viele Rechte zuspricht und ihm nicht. Und ich muss an all die Menschen denken, die ich zurücklasse und an all diejenigen, die bald auf neuen Booten ankommen werden. Ich frage mich, warum so viele Milliarden in den Grenzschutz fließen und so wenig Geld in den Schutz von Menschen. Und warum es anscheinend so schwer ist, die Lebensumstände in Lagern wie Moria halbwegs erträglich zu gestalten. Dann denke ich an die Arroganz und Ignoranz einiger deutscher Politiker. Mir schwirrt Thomas De Mazières Aussage im Kopfe herum, der nach dem EU-Türkei-Abkommen und dem Bau der menschenverachtenden Stacheldrahtzäune erklärte, die Balkanroute sei nun erledigt und dies mit der Aussage „Ende gut, alles gut“ beschloss.

Unter mir fahren die Laster in den Schiffsrumpf. Einer von ihnen wird zur Seite gelotst und von Polizisten nach Menschen, die sich darin oder darunter versteckt haben könnten, durchsucht. Ich wende mich ab und hoffe inständig, dass sie niemanden finden.

  [1] Alle Namen sind geändert.  

 

 

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Artikel von Valeria Hänsel