02.11.2011
Freiheitskampf in Syrien - Wie auch die Regierung eigentlich nur für Freiheit kämpft
Ein Gastbeitrag von Ansar Jasim

Jahrelang konnte sich das syrische Regime gegen die Einmischung des imperialistischen Westens schützen. Als fast einziges Land der Region hat es sich nicht durch Kredite von der Weltbank oder dem IWF an den Westen verkauft. Doch der Imperialismus, der Amerikanismus und der feindliche Zionismus haben Syrien seit seiner Unabhängigkeit in den Schoß ihrer Einflusszone holen wollen. Die besten Beispiele dafür, dass die westlichen Mächte ihre Hegemonie auf Syrien ausweiten wollen, sind die Annektierung des Golan seitens Israels und die amerikanische Besatzung des Iraks. Nachdem der Plan der USA nicht aufgegangen ist, dass mit der angeblichen Befreiung des Irak auch Syrien aufgeben und sich dem imperialistischen Feind ergeben würde, haben im April diesen Jahres mit den Angriffen bewaffneter Banden die Aktionen der USA und Israels zur Bekämpfung der syrischen Unabhängigkeit begonnen. 

So in etwa liest sich das Narrativ der syrischen Regierung seit März diesen Jahres, als Demonstrationen für den Sturz des Regimes in der Provinz Daraa beginnen. Für den ausländischen Betrachter scheinen diese Argumentation und der Versuch der Diskreditierung der syrischen Proteste lächerlich zu wirken. Dass sie das in der Realität nicht sind, sondern sich darin im Gegenteil die ideologische Überzeugung und somit auch das politische Handeln des Regimes widerspiegeln und erklären lassen, zeigt ein Blick auf den Ursprung der Baath-Partei.

 Die Baath-Partei wurde 1943 in Damaskus von Michel Aflaq und Salah ad-Din Bitar gegründet, im historischen Kontext der französischen Besatzung der Levante. Am 17. April 1946 wurde dann al-Jumhuriya al-Arabiya al-Suriya, die Arabische Republik Syrien, ausgerufen. Mit dem ersten Kongress der Partei in Damaskus 1947 werden durch die Parteisatzung, die drei bis heute geltenden anzustrebenden Grundsätze formuliert: Wiedererweckung des Araberseins, Wiedervereinigung der Araber und die Befreiung der „vereinten arabischen Nation mit ihrer ewigen Mission“: dem Umsteuern des Laufs der Geschichte.

Das Ziel des Sozialismus findet erst durch die Vereinigung mit Akram Hawranis sozialistischer Partei Einzug in die Ideologie der Baath-Partei. Auch wenn die Baath-Bewegung säkular ist, Aflaqs Argumentationsstrang ist es nicht: die Idee des Staates, der idealerweise alle Araber umfassen soll, geht zurück auf die idealisierte Vorstellung der Vereinigung der verstrittenen arabischen Stämme im Hidschaz zur Zeit der Gründung des Islam durch den Propheten Muhammad. Das starke und unabhängige, sein Umfeld dominierende Frühkalifat bildet die Blaupause für Aflaqs Verständnis einer Vereinigung aller Araber. Die Wiedergeburt, die Bedeutung des Wortes Baath, geschehe durch die Befreiung (tahrir) von den Ketten und Begrenzungen ausländischer Besatzung und aller Arten ausländischer Dominanz und Imperialismus. Die Freiheit, die hurriya, von der die Rede ist, ist eine Befreiung des Heimatlandes Syrien: hurriyat al-watan.

 Dass die heutige Baath dieses Konzept nicht als überholt ansieht, zeigt ein Blick auf die Internetseite der Partei. Die meisten Einträge, vorgestellten Bücher oder neusten Meldungen, beziehen sich auf die anzustrebende Befreiung Palästinas und Mauretaniens, sowie die Betonung, dass es erst die Baath-Partei gewesen sei, die Syrien vor gut 50 Jahren die Freiheit gebracht habe. Dabei werden Kritik und die Einwände des Auslands über die Lage der Menschenrechte als Einmischung in die innersyrischen Angelegenheiten abgetan.

Bouthaina Shaaban, die in Großbritannien ausgebildete politische Beraterin Bashar al-Assads, hat bereits 2005 in einem Text, der im Übrigen an der Universität Damaskus als Lehrtext für die ausländischen Studierenden dient, jegliche westliche Unterstützung für Freiheit im Nahen Osten als lächerliche Zweigesichtigkeit des Westens abgetan: wer zusehe, wie palästinensische Häuser in Jerusalem niedergerissen werden und aus wirtschaftlichen Gründen Diktatoren unterstütze oder Länder wie den Irak militärisch besetze, der habe nicht das Recht, den Arabern aus einer moralischen Überlegenheit heraus zu sagen, was Freiheit ist.

 Freiheit erscheint in der Rhetorik der Baath als Souveränität nach Außen, nicht jedoch als Souveränität des Volkes als sich selbst regierend. Souveränität des Volkes hieße auch, dass sich das Volk im rousseauschen Sinne eine eigene Gesetzgebung geben soll. Freiheit wird in der Baath-Ideologie jedoch nicht inhaltlich durch Rechte definiert, sondern lediglich als Befreiung von äußerer Einmischung.

Wenn ein syrischer Aktivist dieser Tage auf den Straßen von Damaskus, Homs, Daraa und anderen Städten demonstriert, ruft auch er: hurriya hurriya! Doch welches Verständnis von hurriya hat dieser Demonstrant?

Der syrischen Demokratiebewegung wird vieles vorgeworfen. Die Uneinigkeit und die schwammige Definition ihrer Ziele gehören dazu. Das Gegenteil dieser weitverbreiteten Annahme zeigen die oppositionellen Koordinationskomitees, die sich derzeit vielerorts bilden und ihre Position durchaus deutlich und präzise formuliert haben. Exemplarisch für ihre Bedeutung von Freiheit soll die Definition des Nationalen Koordinationskomitees zur Stärkung des demokratischen Wandels in Syrien gelten, welcher sich vor einem Monat in Berlin formiert hat. Zunächst einmal zeichnet die bloße Opposition dieser Kräfte zur syrischen Diktatur sie nicht als liberale Freiheitskämpfer aus, der Inhalt ihrer Ziele dennoch schon.

Klar wird formuliert, dass man einen demokratischen, liberalen, säkularen, parlamentarischen und pluralistischen Staat anstrebe, in dem die Kurden „ein natürlicher Teil der Nation“ sind - so die offizielle Sprachregelung. Die Bewaffnung der Opposition wird abgelehnt. Die Verantwortlichen für die Massaker an der syrischen Bevölkerung müssten zur gesetzlichen Verantwortung gezogen werden.

Die Konferenz betont die Wichtigkeit der Formulierung eines neuen Gesellschaftsvertrags. Zudem fordern sie eine öffentliche Diskussion über die Zukunft Syriens an der Mitglieder aller Segmente der Gesellschaft teilnehmen müssten. Die oppositionellen Kräfte, Individuen und Bewegungen, bestimmen ihren Freiheitsbegriff demnach inhaltlich. Sie fordern bestimmte liberale Rechte. Dies ist demnach eine ganz andere Auslegung von Freiheit, als jene die das syrische Regime beschwört. Es ist ein liberales, demokratisches Verständnis von hurriya.

Gleichzeitig lehnen die meisten, insbesondere die in Syrien selbst lebenden Oppositionellen, jegliche ausländische Einmischung ab. Sie wollen ihre Revolution nicht von außen vereinnahmen lassen. An dieser Stelle stimmt ihr Freiheitsbegriff mit dem des Regimes überein. Daraus ergibt sich auch die Problematik der ausländischen Unterstützung für die Proteste. Wenn der Westen aktiv in den Wandlungsprozess in Syrien eingreift, spielt er der Rhetorik des Regimes in die Hände, wonach es keine Freiheits- bzw. Demokratiebewegung in Syrien gibt, sondern Syrien von ausländischen vom Westen bezahlten Kämpfern infiltriert wird, die Syrien schwächen wollen und demnach darauf abzielen, das Regime zu stürzen. Im Sprachcode der Regierung werden die Demonstranten deswegen nicht nur als Banditen und Verbrecher bezeichnet, sondern insbesondere als mundessin. Ein mundes ist jemand, der in das Land eingesickert ist, also von außen kommt. Diese Umdeutung der Protestler ermöglicht es dem Regime für das baathistische Verständnis von Freiheit zu kämpfen und dabei die wirklichen Freiheitskämpfer brutal niederzuschlagen.

 Diese Auffassung des Regimes wurde im Mai diesen Jahres noch mal sehr deutlich. Als die syrische Regierung auf dem Zenith der eigenen Brutalität gegen die Demonstranten, die Palästinenser bzw. die politische Führung der palästinensischen Parteien dazu bewegte, am Tag der Nakba, dem 15.Mai, in Richtung des annektierten Golan zu marschieren, damit diese für ihre Freiheit zu kämpften.

 Diese beiden Interpretationen des Freiheitsbegriffs dürfen nicht verkannt werden. Sollte es zu einer verstärkten ausländischen Einmischung kommen, ist durchaus vorstellbar, dass sich viele Syrer hinter das Regime stellen werden, um die jahrelang propagierte Unabhängigkeit zu behalten. So haben die verhängten Sanktionen bereits Auswirkungen auf den Alltag der Zivilbevölkerung. Durch die Ölsanktionen etwa sinkt das Staatsbudget. Ein klientelistisch agierendes Regime wie in Syrien bindet die Loyalität des Volkes über Subventionen an sich. So bezuschusst die Regierung den Kauf des ansonsten für viele Familien unerschwinglichen Heizöls Mazot.

Fällt diese staatliche Unterstützung aufgrund der reduzierten Einnahmen des Staates durch wirtschaftliche Sanktionen weg, sind zwei Szenarien denkbar. Zum einen könnte sich das Volk vom Regime abwenden, da keine wirtschaftliche Abhängigkeit mehr bestünde. Zum anderen, und dies ist eher wahrscheinlich, könnte die Verschlechterung der sozialen Lage dazu führen, dass die Syrer sich erst recht hinter das Regime stellen, da sie die Verschärfung ihrer Lebensumstände, nicht ganz zu Unrecht, auf die ausländischen Sanktionen zurückführen.

Eine ausländische Einmischung, würde somit dazu führen, dass sich der neue liberale Freiheitsbegriff, den viele Syrer derzeit in den lokalen Koordinationskomitees entwickeln, diskutieren und erproben gegen den alten, vom Regime oktroyierten Freiheitsbegriff nicht durchsetzen kann.

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