08.03.2007
Fahrt in den Südlibanon - Ait ash-Sha'ab, Bint Jbeil, Deir Mimas und mehr

Der Muezzin hat seinen Gebetsruf gestern Morgen um kurz nach halb fünf kaum beendet, da klingelt auch unser Wecker - wir haben viel vor, wollen in den Südlibanon an die Grenze zu Israel fahren. Wir nehmen uns einen Mietwagen und verlassen Beirut ueber die Küstenstraße in Richtung Saida, die Geburtsstadt Rafik Hariris und fahren am Mittelmeer entlang weiter gen Süden nach Tyros. Bananenplantagen säumen unseren Weg auf der Schnellstrasse, die wir mehrmals verlassen müssen, da sämtliche Brücken noch immer zerstört sind und die Autofahrer auf Behelfskonstruktionen ausweichen muessen.

In Tyros verlassen wir die Küstenstraße und biegen ab ins Landesinnere. Die Dominanz der schiitischen Bewegungen Amal und Hizbollah in der Region ist unübersehbar, die Straßen sind gesäumt von den bekannten Märtyrerfotos und Bildern Nasrallahs in Siegerpose. Auch Porträts von Ayatollah Khomeini sind häufig zu sehen, ebenso Plakate mit Sinnsprüchen wie "Die Waffe ist der Schmuck des Mannes" oder "Israel ist das absolut Böse".

Auf unserem Weg passieren wir Qana, jenen Ort, in dem Jesus der Legende nach Wasser in Wein verwandelt haben soll. In jüngster Zeit machte das Dorf traurigere Schlagzeilen. 1996 beschoss die israelische Armee einen UNO-Stützpunkt am Rande des Orts, in dem Flüchtlinge aus der Umgebung Schutz gesucht hatten, und tötete 106 Zivilisten. Bei einem israelischen Luftangriff am 30.Juli 2006 wurden 28 Menschen getötet, unter ihnen 16 Kinder, die in einem Haus im Ort Zuflucht gesucht hatten.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass wir uns im gesamten Gebiet frei bewegen können und weder die libanesische Armee, noch die UNIFIL oder die Hizbollah uns vom Besuch irgendeines Ortes abgehalten haben. Nur einmal müssen wir unsere Sondererlaubnis vorzeigen, die wir Tags zuvor vom libanesischen Geheimdienst in Saida erhalten haben.

Erheblich eingeschränkt wird unsere Bewegungsfreiheit jedoch durch mehr als 200000 Bomblets, die als Teile von Streubomben während des Krieges von der israelischen Armee abgeworfen wurden und nun darauf warten, Kinder, Frauen und Männer zu verstümmeln oder zu töten. Seit Abschluss des Waffenstillstands sind über 30 Menschen durch die Streumunition getötet worden. Nach UN-Angaben wurden 90% dieser Streubomben in den letzten 72 Stunden vor Inkrafttreten des Waffenstillstands über dem Libanon abgefeuert.

Auf Warntafeln werden die Einwohner in den Dörfern des Südens vor den Gefahren der Bomben und Minen gewarnt. Die glitzernden Farben der Sprengkörper und ihre verschiedenen Formen, die unter anderem an Telefone oder Spielzeug erinnern, lassen die Bomblets besonders für Kinder zur tödlichen Gefahr werden. Nach UN-Angaben wird es noch mindestens 2 Jahre dauern bis das Gebiet vollständig von der tödlichen Munition geräumt sein wird, ein Restrisiko wird jedoch ewig bestehen bleiben. Eine Armee, die diese Waffen einsetzt, zielt nicht auf Terroristen sondern auf die gesamte Zivilbevölkerung.

Unser erstes Ziel am heutigen Tag ist der mehrheitlich von Christen bewohnte Ort Rmeish wenige Kilometer vor der israelischen Grenze. Hier unterhält die renommierte Universite Saint Esprit de Kaslik eine Fakultät, in der 120 junge Libanesen aus der Umgebung Wirtschaft und Informatik studieren. Die Studentenschaft setzt sich in etwa zu gleichen Teilen aus Christen, zu meist Maroniten, und Schiiten zusammen. Waehrend des Sommerkriegs hatten tausende Flüchtlinge aus den umliegenden Dörfern im christlichen Rmeish Schutz vor den Kampfhandlungen gesucht. Der Ort selbst ist eine Hochburg der Lebanese Forces, deren Parteilogo an vielen Häuserwänden zu sehen ist, und wurde während des Kriegs weitgehend verschont.

Anders sieht es in Ayta ash-Sha'ab aus, das nur wenige Kilometer entfernt liegt. Nach dem Start der israelischen Bodenoffensive lieferten sich die Soldaten der IDF einen erbitterten Häuserkampf mit Hizbollah-Kämpfern, bei denen mindestens 13 israelische Soldaten und eine unbestimmte Anzahl an Hizbollah-Milizionären und Zivilisten umkamen. Sieben Monate nach Ende der Kämpfe steht in einigen Straßenzuegen kein Stein mehr auf dem anderen, fast jedes Haus zeigt Einschusslöcher, viele Gebäude sind zumindest teilweise zerstört. Ein junger Mann erklärt, dass 80% der Häuser im Ort beschädigt wurden. Gleichzeitig boomt das Baugewerbe - mit finanzieller Hilfe aus den Golfstaaten werden die ersten Häuser wieder aufgebaut.

Ähnlich schwere Zerstörungen sehen wir in Bint Jbeil, einem der Hauptschauplätze des Julikriegs. Tagelang bekämpften sich hier die israelischen Invasoren und die Kämpfer der Hizbollah. Auch hier sind in einigen Straßen die Häuser bis auf die Fundamente zerstört worden, selbst die Moschee am Stadtrand trug schwere Schäden davon. An vielen Häusern in der Kleinstadt weht die Fahne Katars, das einen Großteil der Kosten für den Wiederaufbau des Ortes schultert. Ungeachtet der immensen Schäden ist in dem Ort längst wieder Normalität eingekehrt, Kinder toben in der Pause auf dem Schulhof, auf der Hauptstraße findet zwischen den Ruinen ein Wochenmarkt statt.

Parallel zum Verlauf der libanesisch-israelischen Grenze setzen wir unseren Weg in Richtung Norden fort, unser nächstes Ziel heisst Nabatieh. Hinter dem Ort Addaisseh verläuft die Strasse nur wenige Meter vom israelischen Grenzzaun entfernt. Uns bietet sich ein malerischer Blick auf den Berg Hermon, die Shebaafarmen, die von Israel besetzten Golanhöhen und auf Metula, die nördlichste Stadt Israels. Nur etwa 15 Meter von uns entfernt ackern auf israelischer Seite Bauern in ihren Weinfeldern. Auf libanesischer Seite ist die Straße gesäumt von Fahnen der Hisbollah und Bildern ihrer "Märtyrer". In Höhe des libanesischen Dorfes Kfar Kila sind die ersten israelischen Häuser nur etwa 50 Meter vom Grenzzaun entfernt. Nur wenig deutet daraufhin, dass wir uns an hier einem der brisantesten Orte des Nahen Ostens befinden.

An einer Straßenkreuzung in Kfar Kila fragen wir einen Mann am Straßenrand nach dem Weg nach Nabatieh. Er will auch in die Hauptstadt des südlibanesischen Regierungsbezirks und so lassen wir den kräftigen Mittdreißiger mit Vollbart einsteigen. Er stellt sich uns als "Ghalib" vor, aber das ist sicher nicht sein richtiger Name, bedeutet aber "der Siegreiche". Ghalib erklärt er wohne in Nabatieh, arbeite aber für die Hisbollah in Kfar Kila. Auf unsere Frage nach seinem Tätigkeitsbereich innerhalb der Bewegung erklärt er kurz und knapp: "Ich bin Kämpfer. Ich töte Zionisten." Natürlich, so beeilt er sich hinzuzufügen, habe er überhaupt nichts gegen Juden, aber gegen die Zionisten müsse man sich verteidigen, andernfalls erginge es den Libanesen wie den Palästinensern und sie würden aus ihrer Heimat vertrieben. Er liebe seine Frau und die Wasserpfeifen viel lieber als das Töten, nur lasse ihm Israel keine andere Wahl.

Auf der knapp 20-minütigen Fahrt nach Nabatieh erklärt uns Ghalib, wann welcher Hizbollah-Kämpfer auf welchem der umliegenden Hügel zum "Maertyrer" geworden sei. Unter anderem zeigt er uns die Stelle, an der Hassan Nasrallahs Sohn Hadi Ende der 1990er von Israels Armee getötet wurde. Ich biete unserem Mitfahrer als Zeichen des guten Willens einen Kaugummi der im Libanon sehr beliebten Marke "Chiclets" an, doch Ghalib verzichtet, da Chiclets zu einem US-Konzern gehört und Ghalib US-amerikanische Firmen boykottiert. Einen Schluck von meiner Coca Cola biete ich ihm gar nicht erst an.

Wir haben einen Termin an der Libanesischen Universitaet in Nabatieh und setzen unseren Begleiter in der Stadt ab. Hier sind weitaus weniger Kriegsschäden zu erkennen als in den Orten weiter südlich. Es ist früher Nachmittag und wir entschliessen uns in Richtung Süden zurückzukehren und steuern die alte Kreuzfahrerburg Beaufort Castle an. Während der israelischen Besatzung des Südlibanon von 1982 bis 2000 diente die Burg der israelischen Armee als Beobachtungsposten, heute wehen die Fahnen der Hizbollah und der Amal-Bewegungüber dem Areal, das vor dem Rückzug von der israelischen Armee nahezu vollständig zerstört wurde.

Wir haben die Ruinen ganz für uns und bei strahlend blauem Himmel bietet sich uns ein majestätischer Rundblick bis zum Mittelmeer im Westen, Nabatieh im Norden, die schneebedeckten Höhen des Hermonmassivs, die grünen Golanhoehen, die israelische Ebene und die sanften Hügel des Jabal Amel im Südlibanon. Tief unter uns bahnt sich der knapp 10 Meter breite Litani-Fluss in einer Schlucht seinen Weg in Richtung Mittelmeer.

Fuer den späten Nachmittag sind wir mit einem Bekannten in Deir Mimas verabredet, einem kleinen christlichen Ort auf der anderen Seite des Flusses. Vor dem Dorfladen in Deir Mimas ist ein UNIFIL-Panzer vorgefahren, die spanischen Soldaten die mit ihren Bärten auch als Hisbollah-Kämpfer durchgehen könnten genehmigen sich um kurz nach 16 Uhr ihr Feierabendbier. Ein Soldat aus Cadiz trägt schon eine beachtliche Alkoholfahne vor sich her.

Wir trinken Kaffee mit unserem Gastgeber und er erzählt uns vom Leben hier. Das Verhältnis zwischen Schiiten und Christen in der Region sei unproblematisch, die Beziehungen aber nicht besonders eng. Anders als in Beirut sind die Dörfer hier sehr homogen. Deir Mimas sei zu 100% christlich, der Nachbarort Kfar Kila werde zu 90% von Schiiten bewohnt, man kann sich also aus dem Weg gehen.

Nach Einschätzung unseres Bekannten war das Leben zu Zeiten der israelischen Besatzung besser. Ohne Probleme habe man eine Einreiseerlaubnis für Israel erhalten, viele Bewohner des Südlibanon hätten gutes Geld in Israel verdient. War man krank, habe man sich im Krankenhaus von Haifa kostenlos behandeln lassen können, zum Urlaub gings nach Elat ans Rote Meer. "Israel ist ein großartiges Land, sehr fortschrittlich, wie die USA oder Europa."

Sein Cousin lebt mittlerweile in Deutschland. Während der israelischen Besatzung war er Mitglied der South Lebanese Army, der libanesischen Vasallenarmee der Israelis. Aus Angst vor Racheangriffen siedelte er nach dem israelischen Rückzug nach Israel über und ging später nach Deutschland.

Während des Sommerkriegs seien praktisch alle knapp 1000 Einwohner des Dorfes nach Beirut geflohen. Dann sei die Hizbollah gekommen und habe von Deir Mimas aus Raketen auf Israel abgefeuert. Gemeinsam mit unserem Gastgeber fahren wir ein paar hundert Meter außerhalb des Dorfes zu einer Kirche oberhalb des Litani. Die Kirche ist schwer beschädigt, eine israelische Rakete hat das Dach durchschossen. Vom Haus daneben stehen nur noch die Grundmauern. Auch der Friedhof wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen, viele der kleinen Häuser in denen die Toten hier bestattet werden zeigen Spuren des Kriegs.

Dann sehen wir den Grund fuer die Zerstörungen. Wenige Schritte von dem Kirchengelände sehen wir eine Art Befestigung die inmitten eines Olivenhains errichtet wurde. Von hier aus habe die Hizbollah Katjuscha-Raketen auf Israel abgeschossen, berichtet unser Bekannter. Dann seien die israelischen Flugzeuge gekommen, hätten die Hizbollahstellung unter Beschuss genommen und dabei auch die Kirche und das nebenstehende Haus zerstört.

Unser Gastgeber hat nach eigener Aussage keine Probleme mit der Hizbollah und respektiert Hassan Nasrallah als einen charismatischen Führer, der sich positiv von den anderen Politikern des Libanon abhebe. Er habe jedoch kein Verständnis dafuer, dass die Hizbollah Unbeteiligte in ihren Kampf hineinziehe. "Die Hizbollah hat von hier aus geschossen, die Israelis haben zurückgefeuert und die Kirche zerstört. Keiner von beiden wird sie wieder aufbauen. Wer hat also den Krieg verloren? Wir haben verloren. Deir Mimas hat verloren. Der Libanon hat verloren."