Der Schuldspruch gegen die Türkei durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am vergangenen Dienstag hat es in alle Schlagzeilen geschafft – trotz der anhaltenden Aufregung um das erst einige Tage zurückliegende Verfassungsreferendum. Der Staat wurde für schuldig befunden, dem am 19. Januar 2007 ermordeten armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink den Schutz des Rechtes auf Leben, auf Meinungsfreiheit und Rechtshilfe nicht gewährt zu haben.
Die Verurteilung durch den EGMR zu einer Geldstrafe von 105.000 Euro wird als „Schande“ für die Türkei, jedoch einhellig als gerechtfertigt bewertet. Es gilt als bewiesen, dass staatliche Stellen vom Mordplan gegen Hrant Dink wussten. Der Journalist hatte sich als Chefredakteur der Zeitung Agos für Aufarbeitung und Versöhnung im türkisch-armenischen Verhältnis eingesetzt. Nachdem er trotz Todesdrohungen keinen Schutz durch den Staat erhielt und im Zusammenhang mit seiner Verurteilung aufgrund von „Herabwürdigung des Türkentums“ Opfer von Medienhetze wurde, hatte er zwei Tage vor seinem Tod selbst die Klage beim EGMR eingereicht. Umur Talu beschreibt in Haberturk das Zustandekommen des Mordes mit den Worten eines Kinder-Abzählreimes: „Eins hat gehalten, eins hat geschnitten, eins hat gerupft, eins hat gegessen und eins hat zugeschaut!“
Die Zaman gibt dem Statement von Feride Çetin, einer der Anwältinnen der Dink-Familie, Raum: „Das war ein geplanter Mord. Er wurde ab Februar 2004 geplant und Schritt für Schritt umgesetzt. Der EGMR hat dies durch seine Entscheidung bestätigt.“
Cumhuriyet zitiert die Worte von Außenminister Ahmet Davutoğlu, der sich mittlerweile rhetorisch voll und ganz hinter Dink stellt – spätestens seit Bekanntwerden der türkischen Verteidigungsschrift im EGMR-Prozess. In dieser wurde der Journalist als Staatsfeind und Volksverhetzer dargestellt und mit dem deutschen Neonazi Michael Kühnen verglichen. Reagierend auf die Empörung über diese Rechtfertigung der Tat kommentiert Davutoğlu den Ausgang des Prozesses nun mit den Worten: „Wie auch immer das Urteil lautet, es bringt uns diesen kostbaren Intellektuellen nicht zurück.“ Gleichzeitig suggeriert er, dass die von Dink geforderte Veränderung längst stattgefunden habe: „Wenn er nur heute an seinem Geburtstag unter uns sein könnte, wenn er nur sehen könnte, dass das türkische Volk vor deri Tagen eine Verfassungsreform angenommen hat, die seine Freiheiten erweitert und auf den Menschenrechten fußt.“
Auch Cengiz Çandar in der Radikal beschreibt – mit ähnlich feierlichen Worten - die Verfassungsreform als einen demokratischen Fortschritt im Sinne Hrant Dinks. Die Reaktionen aus dessen Umfeld drücken jedoch aus, dass zur noch einiges mehr geschehen muss: das Nachrichtenportal bianet zitiert die Anwältinnen der Dink-Familie, die Auswirkungen der EGMR-Entscheidung auf den Mordprozess, der in der Türkei noch andauert, ankündigen. „Der EGMR ist aufgrund der selben Dokumente [, die auch der türkischen Justiz vorliegen,] zu diesem Beschluss gekommen. Wir erwarten einen solchen Beschluss nun auch von der türkischen Justiz.“ Man werde die Einbeziehung der Sicherheitsbehörden in die Ermittlungen beantragen.
Die Regierung hat erklärt, keinen Widerspruch gegen die Entscheidung einlegen zu wollen. Man werde darauf hin arbeiten, in Zukunft nicht mehr durch Beschneidung des Rechtes auf freie Meinungsäußerung in die Schlagzeilen zu geraten, erklärte Außenminister Davutoğlu. Indessen wurde die Akte des Journalisten Kemal Göktaş, der ein Buch zur Verstrickung von Staat, Justiz und Medien im Mordfall Hrant Dink verfasst hat, ans Strafgericht für schwere Verbrechen weitergeleitet.