…oder bringen dich zumindest auf andere Gedanken. Eine Auswahl unserer Lieblingswerke fernab von Naguib Mahfouz und Elif Shafak, zusammengestellt vom dis:orient-Team.
Ayelet Gundar-Goshen: „Löwen wecken“ (Israel)
Der israelische Arzt Etan sieht sich als weltgewandt und fortschrittlich: sozialisiert im säkularen Tel Aviv, verheiratet mit einer Mizrahi, Wähler der linken Meretz-Partei. Doch eines Nachts überfährt er während einer Spritztour im Negev einen geflüchteten Eritreer - und lässt ihn in der Wüste sterben. Für Reue bleibt Etan nicht viel Zeit. Am nächsten Tag steht Sirkit, die Ehefrau des Toten, an der Tür. Sie stellt ihm eine weitreichende Forderung.
„Die Frau an der Tür war groß und schlank und sehr schön, aber Etan achtete auf keine dieser Eigenschaften. Zwei andere Dinge beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit: Sie war eine Eritreerin, und sie hielt sein Portemonnaie in der Hand. (...) Das ist deins, sagte sie auf Hebräisch. Ja, sagte Etan. Das ist meins. (...) Die Frau sah ihn unverwandt an. Die hysterischen Stimmen in seinem Kopf machten einer anderen, eiskalten Stimme Platz: sie war dort gewesen.“
„Löwen wecken“ schildert eindrücklich die dunklen Seiten der israelischen Gesellschaft: Rassismus, Korruption und der menschenfeindliche Umgang mit afrikanischen Geflüchteten, die über den Sinai nach Israel kommen. Das Buch legt schonungslos offen, wie Menschen ihre Werte vergessen, um sich selbst zu retten. Gleichzeitig erzählt das Werk von Emanzipation: Von dem Moment an, an dem Sirkit vor Etans Haustür auftaucht, bestimmt sie über den weiteren Verlauf der Ereignisse. Dieser wirkungsvolle Bruch mit existierenden Machtverhältnissen macht das Buch ebenso spannend wie lesenswert.
Kein & Aber 2015 | Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama
Sinan Antoon: „Irakische Rhapsodie“ (Irak)
In weniger als 100 Seiten bietet der Roman „Irakische Rhapsodie“ vom irakisch-amerikanischen Autor Sinan Antoon einen bewegenden Einblick in die menschliche Erfahrung vom Leben unter Saddam Husseins Baath-Regime. Zeit- und raumübergreifend, mit bitterem Sarkasmus geschrieben, handelt der Roman von den Erfahrungen eines jungen Studenten im Gefängnis, aber auch von der Beziehung zur Großmutter und seiner großen Liebe Arîdsch:
„Ich stellte keine weiteren Fragen, und gemeinsam gingen wir zum Haupttor. Immer hatte ich genörgelt, wie lang die Strecke zwischen Tor und den Unterrichtsräumen war. Diesmal jedoch schien der Weg über den frühmorgendlichen Platz ausgesprochen kurz. Ich kam gern schon etwas früher, um dem großen Gedränge zu entkommen.
Auch an diesem Tag waren noch nicht viele Studierende da. Ich suchte nach einem bekannten Gesicht, in der Hoffnung, es werde mein Verschwinden registrieren. Auch an Arîdsch dachte ich und an ihre ständigen Warnungen, ebenso an meine Oma, an ihre inständigen Gebete und die Kerzen, die sie täglich in der Kirche für mein Wohlergehen entzündete.”
Lenos 2009 | Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich und Jinan Fierz
Mohsin Hamid: „Exit West“ (Fiktives Land)
Mohsin Hamid entwirft in seinem Roman „Exit West“ eine Parabel zur heutigen globalen Welt, in der er abwechselnd durch dystopische und utopische Szenen führt. Flucht ist das zentrale Motiv und Hamid ersetzt genau hier die Realität mit Fiktion: Statt den langen Wegen müssen die Menschen durch Türen gehen, die sie an einen anderen Ort versetzen:
„Saeed fragte, wo die Tür sei und wohin sie führe, worauf der Agent erwiderte, dass die Türen überall seien, das Kunststück sei, eine zu finden, die die militanten Extremisten noch nicht entdeckt hätten, eine unbewachte Tür (...)."
Hamid schafft es, die persönlichen Geschichten des Paares Nadia und Saeed mit den globalen Zusammenhängen unserer Zeit zu verweben und den Lesenden dabei Einblicke in verschiedene Welten und Lebensrealitäten zu geben:
„Und als sie (…) vorschlug, von hier weg zu gehen und (…) stattdessen eine Tür in der Nähe zu durchschreiten, von der sie gehört hatte und die zu der neu errichteten Stadt Marin am pazifischen Ozean führte, in der Nähe von San Francisco, diskutierte er nicht mit ihr, versuchte auch nicht, es ihr auszureden (…), sondern sagte Ja, und beide schöpfen neue Hoffnung, die Hoffnung, dass es ihnen gelänge, ihre Beziehung wiederzubeleben, wieder dort anzuknüpfen, wo sie vor gar nicht langer Zeit gewesen waren (…)“
DUMONT Buchverlag 2017 | Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Yasmine El Rashidi: „Chronicle of A Last Summer“ (Ägypten)
In „Chronicle of a last summer“ nimmt uns Yasmine El Rashidi mit auf eine Zeitreise von 1984 über 1998 bis 2014, die die tiefgreifenden Veränderungen in ihrer Heimatstadt Kairo ebenso einfühlsam nachzeichnet wie das damit verbundene Schicksal ihrer eigenen Familie. Sie schreibt:
„Ich merke jetzt, dass es entweder eines größeren Traumas oder einer flüchtigen Euphorie bedarf, um das auszulöschen, was war. Nicht vorzustellen vermag ich mir jedoch, was die jüngsten Enttäuschungen überlagern kann, außer vielleicht die anhaltende Strahlkraft der Liebe.”[1]
So spürt sie dem Gewissen einer Generation nach, die mit den Folgen der Träume leben muss, die sie zu träumen wagte.
Tim Duggan Books 2016
Tschingis Aitmatov: „Der weiße Dampfer“ (Kirgistan)
Die Hauptfigur in der Novelle „Der weiße Dampfer“ aus dem Jahr 1970 ist ein siebenjähriger Junge, der mit seinen Großeltern und ein paar anderen urigen Gestalten inmitten einer Waldsiedlung im Naturschutzgebiet des Tian Shan-Gebirges in Kirgistan lebt. Von seinen Eltern nach deren Trennung verlassen, bleiben dem Jungen nur seine Phantasiewelt und die Vorstellung von seinem Vater, der als Matrose mit einem weißen Dampfer über den nahen Issyk-Kul-See schippern soll. Verwoben mit zwei Märchen, zeigt der Roman die raue Realität des sowjetischen Kirgistans in den 1970er Jahren:
„Er hatte zwei Märchen. Ein eigenes, von dem niemand wusste. Und ein zweites, das der Großvater erzählte. Am Ende blieb keines übrig. Davon handelt diese Erzählung. Er war sieben, ging ins achte Jahr. Zuerst wurde eine Schulmappe gekauft. Eine schwarze Kunstledermappe mit glänzenden Metallschnappschloss und einer aufgesetzten Tasche für Kleinigkeiten. Kurz, eine ungewöhnliche, ganz gewöhnliche Schulmappe. Damit hatte wohl alles begonnen."
z.B. Unionsverlag 1992 | Aus dem Russischen von Charlotte Kossuth
Simin Daneshvar: „Drama der Trauer“ (Iran)
„Einer muss aufstehen und nein sagen”. Simin Daneshvar, 1921 in Shiraz geboren, veröffentlichte 1969 mit „Drama der Trauer“ den ersten Roman einer iranischen Schriftstellerin und eröffnete damit ein neues Kapitel in der iranischen Literatur. Der Roman mit dem persischen Titel Savushun behandelt die gedanklichen und emotionalen Reflexionen einer sich emanzipierenden Frau während des Zweiten Weltkriegs in Iran, die zwischen den tradierten Rollenbildern und europäischen Einflüssen ihren Weg findet. Simin Daneshvar starb im März 2012 in Teheran und hinterlässt das einflussreichste literarische Erbe moderner Literatur iranischer Autorinnen.
Glaré Verlag 1997 | Aus dem Persischen von Mohammad H. Allafi, Jutta Himmelreich und Sabine Allafi
Rabih Alameddine: „Der Engel der Geschichte“ (Jemen, Ägypten, Libanon, USA)
Pfützen zieren die Straßen San Franciscos, als ein Mann in seinen 50ern in ein Taxi steigt und zur Psychiatrie fährt. Jacob, der eigentlich Yaqub heißt, hört die Stimme Satans in seinem Kopf. Als wäre das nicht genug, reißt ein US-Drohnenangriff im Jemen, den er im Fernsehen sieht, alte Wunden auf. Dabei wollte er nur vergessen. Doch in der Klinik erinnert er sich: An seine Mutter, eine jemenitische Magd, die ihn mit dem Sohn ihrer libanesischen Hausherren auf einem Perserteppich zeugte. Oder an glückliche Kindertage in einem Kairoer Bordell, wo seine Mutter zwischen Pepsi und 7UP die Wollüste ihrer Freier stillte:
„Erst dann, wenn der Österreicher oder Australier aufhörte, meine Mutter zu ficken, […] wenn der Russe in den Salon zurückkehrte, um auf seine Freunde zu warten, die Rechnung zu zahlen oder wieder zu Verstand zu kommen, dann bemerkten sie mich, wie ich bei Tante Badeea saß. Was für ein süßer Bengel, sagte der Deutsche oder der Schwede, bewundernswert. Der Mann sah nicht mehr ganz so gepflegt aus wie bei seiner Ankunft, er war gesättigt, Selbstvertrauen und Ich-hab-deine-Mutter-gefickt strömte aus jeder Pore, er lächelte mich an, ein Lächeln, länger als das Schicksal, was für ein hübsches Kind, solch ein süßer Junge. Ich liebte Tante Badeea, ich liebte meine Mutter, aber ich verehrte den Mann. Ich machte ihn zu meiner Religion.“
Kaum angekommen im San Francisco der 1980er Jahre, rafft die AIDS Epidemie alle Freunde des homosexuellen Jacobs hin. Genauso wie seinen Lebensgefährten. Allein Jacob überlebt und muss sich nun, über zwanzig Jahre später, seinem unterdrückten Schmerz stellen. – Ein Meisterwerk, das Raum und Zeit durchbricht und bitterbösen Humor mit Sanftmut vereint.
Albino Verlag 2018 | Aus dem Englischen von Joachim Bartholomae
Abdul Rahman Munif: „Salzstädte“ (Fiktiver Ort in Saudi-Arabien)
In filigrane Alltagsszenen seziert Abdul Rahman Munif die Verwerfungen der entstehenden Petrostaaten am Arabischen Golf. Bilder von Familiengeschichten und Oasenidyllen kommen in den Fokus und verschwimmen wieder. Mit ethnographischer Präzision zeichnet „Salzstädte“ Sozialsysteme und Lebensweisen, um sie dann wie beiläufig in den Niedergang zu senden. Angesiedelt an fiktiven Orten und dem Lokalen verpflichtet, erzählt dieser monumentale Gesellschaftsroman eine wahrhaftige Geschichte des Öls mit einem Horizont des Globalen.
Wer hier jedoch eine romantisierte Beduinengesellschaft von der Moderne überrollt sehen will, überliest die Hoffnung und den progressiven Willen, die stets zwischen den Zeilen lungern. Wie wahrscheinlich kein anderer Roman schafft es „Salzstädte“, die tragische Geschichte des Golfes im 20. Jahrhundert einzufangen. Bleibt zu hoffen, dass bald auch die anderen vier Bände ins Deutsche übersetzt werden und damit ihrem Kultstatus in der arabischen Literatur Rechnung tragen.
z.B. Heyne Verlag 2005 | Aus dem Arabischen von Magda Barakat und Larissa Bender
Mustafa Khalifa: „Das Schneckenhaus-Tagebuch eines Voyeurs“ (Syrien)
Mustafa Khalifas „Das Schneckenhaus-Tagebuch eines Voyeurs“ ist ein Roman mit autobiographischen Zügen. Zwar ohne Zeit und Ortsangaben geschrieben, spielt es im Syrien der 1980er Jahre. Es ist ein Zeugnis aus der Hölle, eine Dokumentation über die Realität in Syriens berüchtigtstem Gefängnis Tadmur. Auf würdevolle Art vermag Khalifa, den Alltag samt Folter und Erniedrigung durch das Gedanken-Tagebuch des Protagonisten zu erzählen: ein syrischer Christ und Atheist, der nach seiner Rückkehr von seinem Filmstudium aus Paris am Flughafen in Syrien festgenommen wird, weil er für ein Mitglied der verbotenen Muslimbrüderschaft gehalten wird.
15 Jahre lang lebt er in unmenschlichen Bedingungen und erlebt den Abgrund der Gewalt des syrischen Regimes. Khalifa beantwortet mit dem Roman auch, was es heißt, so einen Ort überlebt zu haben:
„Es gab auch eine kreative Seite der Folter!
Vor mehr als einem Jahr stand einer der Feldwebel während des Hofgangs vor einer der Zellen im Schatten der Mauern. Als eine Maus vorbeilief, zermalmte er sie mit seinem Militärstiefel, die Maus starb. Der Feldwebel holte ein Papiertaschentuch hervor, packte die Maus mit einem Taschentuch am Schwanz, ging zu den Gefangenen, die ihre Runden im Hof drehten, griff sich irgendeinen heraus und zwang ihn, die Maus zu verschlucken. Der Gefangene schluckte sie.“
Bis 2006 hatte Khalifa ein Ausreiseverbot. Erst nachdem er das Landverlassen konnte, erschien der Roman 2008 bei einem libanesischen Verlag. Beim Versuch das Buch in Syrien bei der Buchmesse zu veröffentlichen, wurden alle Exemplare konfisziert und das Werk verboten. Der Roman ist nicht nur Zeugnis der Abscheulichkeiten des syrischen Regimes, es ist auch ein wichtiges Werk für die syrische Revolution.
Weidle 2019 | Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Fawwaz Haddad - Gottes blutiger Himmel (Irak)
Ein linker syrischer Intellektueller, der gegen religiösen Extremismus anschreibt - und eines Tages feststellen muss, dass sein Sohn für al-Qaida kämpft. Er reist ihm hinterher in den irakischen Wahnsinn, wenige Jahre nach dem US-Einmarsch. Soweit die Rahmenhandlung von Fawwaz Haddads Buch „Gottes blutiger Himmel". Brutal schildert der Erzähler die allgegenwärtige Grausamkeit - und fragt damit subtil: Ist es nur eine Frage der Perspektive, wer Terrorist ist und wer Befreier? Und welche Verantwortung sind wir bereit, für unsere Handlungen zu übernehmen?
„Ich bekam kaum Luft, blieb aber bei Bewusstsein. Der Kofferraum war so eng, dass er mich kaum fasste. (...) Ich bereute meinen Wagemut nicht. Mich beruhigte der Gedanke, dass ein unabwendbares, unnennbares Schicksal sich gegen meine Skepsis stellte. Die Grüne Zone zu verlassen war unumgänglich gewesen, und es wäre zwecklos gewesen, meinem Leben eine andere Richtung geben zu wollen als die ihm vorgezeichnete. Selbst meine Entführer waren nicht Herr ihres Tuns, sondern Geiseln meines Geschicks."
Aufbau Taschenbuch 2014 | Aus dem Arabischen von Günther Orth
[1] Übersetzt von der dis:orient-Redaktion, da das Buch bisher nur auf Englisch und Arabisch erschienen ist.