13.04.2018
Die unendliche Geschichte: Von Rassismen und Ablenkungen
Emine Aslan ist Studentin und Aktivistin. Grafik: Tobias Pietsch.
Emine Aslan ist Studentin und Aktivistin. Grafik: Tobias Pietsch.

Im Namen des Kindeswohls wird derzeit über ein Kopftuchverbot für junge Mädchen diskutiert. Dieser Verbotsansatz tritt die Selbstbestimmung junger Mädchen jedoch mit Füßen und steht symbolisch für ein immer und immer wiederkehrendes Motiv rassistischer Ausgrenzung, schreibt Emine Aslan.

Dieser Text ist Teil der neuen Alsharq-Kolumne „Des:orientierungen“. Alle Texte der Kolumne finden Sie hier.

„The function, the very serious function of racism is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being. Somebody says you have no language and you spend twenty years proving that you do. Somebody says your head isn’t shaped properly so you have scientists working on the fact that it is. Somebody says you have no art, so you dredge that up. Somebody says you have no kingdoms, so you dredge that up. None of this is necessary. There will always be one more thing.” – Toni Morrison

Als ich anfing, diesen Beitrag zu verfassen, tobten in Österreich gerade zum gefühlt tausendsten Mal Kopftuchdebatten im öffentlich-rechtlichen Sender. Ich wollte erklären, weshalb es für uns (gesamtgesellschaftlich) hier in Deutschland so wichtig ist, die Entwicklungen in Österreich kritisch mitzuverfolgen, und weshalb unsere (= muslimische) Erfahrungen über unterschiedliche „westliche” Länder hinweg so eng miteinander verwoben sind. Dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Politiker_innen in Deutschland diese Debatten ebenfalls zum tausendsten Mal aufgreifen. Als ich diesen Beitrag jedoch beenden wollte, waren die gleichen Debatten bereits nach Deutschland geschwappt. Touché! Almanya, ich kenne dich eben doch zu gut.

Ursprünglich entschied ich mich für das Thema dieses Beitrags aufgrund der gemeinsamen Instagram Live-Session der beiden Österreicherinnen Dudu Küçükgöl und Amani Abuzahra, die dort beide aufgrund ihrer politischen Arbeit wichtige muslimische Stimmen sind. Beides Frauen, deren Arbeit und Kämpfe ich mitverfolge. Überhaupt habe ich das Gefühl, dass die gegenseitige Sichtbarkeit zwischen Muslim_innen in Deutschland und Österreich in den letzten Jahren zugenommen hat. Je mehr Kontakte muslimische Aktivist_innen aus beiden Ländern zueinander pflegen, desto besser lassen sich die Entwicklungen von Islamophobie und antimuslimischem Rassismus nachzeichnen. Rechtspopulistische Politik in Österreich scheint uns hier in Deutschland immer eine Nummer voraus zu sein.

Zwangsentschleierungen und das koloniale Projekt

Mir war es ein Anliegen, die Debatten in Österreich aufzugreifen, weil wir hier in Deutschland mitbetroffen sind. Dass die Debatte hierzulande also unmittelbar aufgegriffen werden würde, war keine Überraschung. Aber gerade weil das so voraussehbar war, hegte ich die Hoffnung, dass dieses offensichtliche Affentheater den Politiker_innen hierzulande ein wenig peinlich sein könnte. This hope keeps us driving after all. Diese elende unendliche Geschichte, diese westliche Besessenheit mit der „Kopftuchdebatte”, hängt einem schon so zum Halse heraus, dass alle bereits vorgenommenen kritischen Analysen zu dem Thema nicht der Rede wert erscheinen. Der weiße, europäische Blick, dessen sich der rassifizierte, muslimische, „andere” Körper nicht entziehen darf. Deutsche Integrationspolitik als koloniale Praxis (Kien Nghi Ha), Disziplinierungsmaßnahmen der „wilden Orientalen”, die stetige Ausblendung der Tatsache, dass Muslim_innen in diesem Land in erster Linie Menschen mit Rechten sind. Die unglaubliche Ausdauer, mit der sich Politiker_innen an absolut verblödeten Argumenten festhalten.

Du hast einfach keine Lust mehr, deinen Intellekt und den Intellekt all jener, die solch wichtige Arbeit zu dem Thema geleistet haben, in den Dreck zu ziehen. Die Beteiligung an diesen Diskussionen wirkt schon seit Jahren wie eine einzige Farce. Wir dürfen hierbei nicht vergessen, dass Kopftuchdebatten und Kopftuchverbote bzw. Zwangsentschleierungen europäische Tradition sind. Dass Zwangsentschleierungen genauso zum kolonialen Projekt in Algerien gehörten wie zum britisch-imperialen Projekt in Ägypten, ist genauso wenig einem Zufall zu verschulden, wie die schon seit so vielen Jahren immer wieder aufkochenden Kopftuchdebatten in Europa.

Das Argument vom “Kindeswohl” ist Heuchelei

Ich kann mich wirklich seit meiner Schulzeit an diese Debatten erinnern, die regelmäßig wieder aufgerollt wurden. Meine Kindheit war von diesen stigmatisierenden und verandernden Diskursen geprägt. Mein Selbstbild als muslimisches Kind, das erst einmal seinen Platz in dieser Welt und dieser Gesellschaft zu finden versuchte, wurde bereits früh durch diese Diskurse und die dadurch ermutigten Lehrer_innen und ihre Übergriffigkeiten geschädigt. In dieser Hinsicht wirken diese Debatten um Kindeswohl geheuchelt. Mein elfjähriges Ich fühlt sich instrumentalisiert. Mein Wohl interessierte nämlich niemanden an meiner Schule, als ich mit meiner kindlichen Naivität und Unschuld den ersten Schultag der 5. Klasse mit dem Kopftuch beginnen wollte. Meine unbekümmerte Welt brach in mir zusammen, und ich vor meiner Mutter. Und das wurde sogar ganz ohne offizielles Verbot geschafft.

„In erster Linie geht es uns doch darum, unsere Schüler, Schülerinnen als freie, mündige, autonome Bürgerinnen heranzuziehen. Und wenn wir ihnen aber in der Schule bereits mit einer Verbotspolitik begegnen, ist das ein Widerspruch in sich.“ – Amani Abuzahra

Diese unendliche Geschichte signalisiert nämlich, dass junge muslimische Mädchen, denen es ähnlich wie mir damals ergeht, nicht relevant sind. Dass ihre Gedanken und ihre Entscheidungen per se nicht ihnen gehören können, weil sie in eine muslimische Familie hineingeboren wurden. Dass ihre Selbstbestimmung und ihr Selbstwertgefühl als Kollateralschaden mit Füßen getreten werden darf. Dass bereits die ersten Institutionen, in die sie sich hineinbegeben, ihre Körper inspiziert, bevormundet, für sie interpretiert und auslegt und gegebenenfalls auch „korrigiert”. Sie suggeriert, dass gesellschaftliche sowie familiäre Probleme mit Verboten gelöst werden könnten.  

Sie nimmt diesen jungen Mädchen ihr Anrecht darauf, sich auszuprobieren und kriminalisiert sie bereits für ihre Überlegung, das Kopftuch in der Schule zu tragen. Ihnen wird bereits moralisch vorgekaut, welche Art von Erziehung und Weltbild „neutral” und „akzeptabel” ist und demnach auch dem Kind mitgegeben werden darf, und welche Werte und Praktiken sie zu einer unerwünschten Bürgerin machen. Darauf zielen diese Argumentationen nämlich ab. Es scheint eine regelrechte Angst, ein Wahn vor jungen Mädchen zu existieren, die bereits so jung mit dem Tragen des Hijab beginnen.

Die politisch-symbolische Überladung dieses Stück Stoffes ist so gewaltig, dass es undenkbar erscheint, dass ein junges Mädchen sich in diesem Alter ausprobiert. Vielleicht trägt sie dieses Tuch dann für immer. Vielleicht nicht. Vielleicht tragen solche Verbotspolitiken dazu, dass junge Mädchen zu religiösen Extremen tendieren. Vielleicht nicht. Es gibt keine einfachen Antworten auf komplexe Lebensrealitäten.

Ich sehe den Bedarf innerhalb muslimischer Communities, eigene Debatten zum Hijab anzustoßen, die sich mehr darauf konzentrieren, dass dieses Experimentieren und Umentscheiden sozial enttabuisiert wird. Für die Selbstermächtigung dieser jungen Mädchen ist es jedoch von erheblicher Relevanz, dass sie sich selbst als Rechtssubjekte innerhalb dieser Gesellschaft erfahren und nicht als anonyme und doch auch über-sichtbare, homogenisierte Kollektive, die gesellschaftlich nur von defizitorientierter Relevanz sind.

Europas unendliche Geschichte

Diese unendliche Geschichte ist aber nicht meine, es ist Europas unendliche Geschichte. Nein, damit meine ich nicht, dass ich als Muslim nicht zu Europa gehöre. Damit meine ich vielmehr, dass sich das europäische imaginierte Selbstbild eines weißen, abendländischen Europa gerade in einer gewaltigen Identitätskrise befindet. Als Michael Ende nach einer Interpretation seiner unendlichen Geschichte befragt wurde, sagte er:

„Das ist nämlich die Geschichte eines Jungen, der seine Innenwelt, also seine mythische Welt, verliert in dieser einen Nacht der Krise, einer Lebenskrise, sie löst sich in Nichts auf, und er muss hineinspringen in dieses Nichts, das müssen wir Europäer nämlich auch tun. Es ist uns gelungen, alle Werte aufzulösen, und nun müssen wir hineinspringen, und nur, indem wir den Mut haben, dort hineinzuspringen in dieses Nichts, können wir die eigensten, innersten schöpferischen Kräfte wiedererwecken und ein neues Phantasien, das heißt eine neue Wertewelt aufbauen.“

Mal abgesehen davon, dass die Existenz Europas, zusammen mit dem Zeitalter der Aufklärung, nun einmal auch auf Kolonialismus und Imperialismus zurückblickt, ist eine europäische Auseinandersetzung mit diesem Nichts und den eigenen Werten längst überfällig. Integrationskrise, F.lingskrise, Kopftuchverbot… Mit einem Blick in die Debattenlandschaft der letzten Jahre bekommt man das Gefühl, dass die einzigen Probleme in Deutschland von ihren sogenannten „Anderen” innerhalb der Gesellschaft (Muslim_innen und migrantisierte Menschen allgemein) oder an ihren Außengrenzen verursacht werden. Deutschland, dir fehlt der Tiefgang.

Es ist natürlich intellektuell und moralisch bequemer, die Aufrechterhaltung der eigenen gesellschaftlichen Werte ganz oberflächlich an den Menschen abzuarbeiten, die man Jahrhundertelang über stigmatisierende Diskurse zu einer über-sichtbaren Projektionsfläche gemacht hat. Und ein jeder weiße Deutsche, der/die/es in mir eben den „Anderen” sieht, wird sich mit diesen Zeilen angegriffen fühlen. Weil es wie eine Kritik von „Außen” wahrgenommen wird – womit wir genau bei dem Problem wären. Ich sorge mich (langsam) wirklich um das Niveau, auf dem in diesem Land Probleme produziert und dann diskutiert werden.

Das alles lässt sich für mich nur noch mit dem üblichen Muster des Rassismus erklären. Dass es dieser kulturalistischen Ablenkungen von ökonomischen und politischen Problemen bedarf. Dass es eben kein Zufall ist, dass solche kulturalistischen Debatten gerade dann wieder aufkochen, wenn Widerstände von Hijabis auf rechtlicher Ebene gegen das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst immer erfolgsversprechender werden. Entwicklungen also, die zur politischen und ökonomischen Partizipation dieser Frauen beitragen. Ich möchte nämlich nicht glauben, dass so viele erwachsene Menschen in diesem Land mit politischer Entscheidungsmacht wirklich so kurzgegriffen und einseitig denken und argumentieren.

Emine Aslan ist Studentin und Aktivistin und veröffentlichte bisher sowohl in wissenschaftlichen, als auch essayistischen Sammelbänden. Ab und zu bloggt sie noch auf diasporareflektionen.wordpress.com