Mit der Trennung von Al-Qaida zielt die Al-Nusra-Front darauf ab, ein zentraler Akteur innerhalb der syrischen Oppositionsbewegung zu werden und vollzieht gleichzeitig eine Neufirmierung in Jabhat Fath al-Sham. Ob dieser Schritt Erfolg bringt ist fraglich, mehren sich doch die Stimmen, die diese Entscheidung als rein taktisches Manöver abtun. Von Alexander Möckesch
Die Ankündigung geisterte bereits seit rund einer Woche durch Twitter und arabische Fernsehkanäle, noch bevor Abu Mohammad al-Jolani am 29. Juli vor die Kamera tritt. Seine Erscheinung in Tarnuniform und weißer Keffiyeh erinnert dabei stark an diejenige von Bin-Laden in dessen Videobotschaften. Ein optischer Aspekt, der stutzig macht, wenn man bedenkt, dass der Führer der Al-Nusra Front in diesem Video die Trennung seiner Organisation von Al-Qaida bekannt gibt. Es ist das erste Mal, dass sich Al-Jolani klar erkennbar in den Medien zeigt, nachdem er bisherige TV-Statements lediglich verdeckt abgegeben hat. Die Botschaft, die mit dieser ersten Erscheinung einhergeht, ist deutlich: man bedient sich nach wir vor einer Al-Qaida-Optik. Zugleich zeigt Al-Jolani den Syrern das Gesicht der Organisation, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, künftig für das Wohlergehen der syrischen Bevölkerung zu kämpfen. Dass Al-Nusra den Kampf in und für Syrien noch stärker in die eigene Außendarstellung mit aufnehmen will, verdeutlicht auch der neue Name, den sich Gruppe gegeben hat: Jabhat Fath al-Sham, Front zur Befreiung der Levante.
Mehr pragmatischer Schachzug als ideologische Neuausrichtung
Die Entscheidung der Al-Nusra, sich von Al-Qaida zu trennen ist vor allem durch Pragmatismus und durch die aktuelle russisch-amerikanische Syrienpolitik geprägt. Ausdruck einer wirklichen ideologischen Neuausrichtung der Gruppe ist sie wohl nicht. Es erscheint fraglich, ob die Entscheidung allein auf Seiten der Al-Nusra-Front getroffen wurde. Stattdessen handelt es sich hier eher um ein strategisches Gemeinschaftsprojekt der Al-Qaida-Spitze um Ayman Al-Zawahiri zusammen mit der Al-Nusra-Führung. Das Ziel des gemeinsamen Schachzugs ist es, die neu geschaffene Fath al-Sham zentraler in die bewaffnete Opposition gegen das Assad-Regime einzugliedern. Die bisherigen Verbindungen zu Al-Qaida galten dafür als Hindernis. Diese Verbindungen waren es unter anderem, weshalb die Al-Nusra-Front 2012 durch das US-State Department als Terrororganisation eingestuft wurde.
Dass es sich hierbei mehr um eine organisatorische Trennung als um eine ideologische Distanzierung handelt zeigt sich daran, dass Al-Zawahiri eine Vorbedingung stellte: Er sei nur bereit die Trennung gutzuheißen, wenn sich die „Nachfolge-Organisation“ Fath al-Sham dazu verpflichtete, auch weiterhin die Ideologie von Al-Qaida zu vertreten. Auch dies ist ein Hinweis auf die stillschweigende Einwilligung Al-Qaidas: Denn ohne diese Verpflichtungen hätte Al-Zawahiri diesen Schritt nicht legitimieren können. Al-Qaida hat kein Interesse daran, Al-Nusra als Verbündete zu verlieren, stellt sie doch eine sehr effektive Einheit in Syrien dar, die Al-Qaida hohes Ansehen verschafft. Für Al-Qaida ist dies wichtig, in einer Zeit in der das dschihadistische Moment in den Händen des „Islamischen Staates“ liegt.
Möglicher Zusammenschluss mit lokalen Oppositionsgruppierungen
Al-Nusra agierte bislang in einer engen Kooperation mit der ebenfalls als extremistisch und salafistisch eingestuften (Oppositions-)Gruppierung Ahrar Al-Sham. Letztere ist nach dem „IS“ die zweitgrößte militante Gruppierung in Syrien und konnte sich zusammen mit Al-Nusra als effektiver Personalverbund am Boden einen Namen machen. Ahrar Al-Sham wird von den USA bislang nicht als Terror-Organisation eingestuft. Die Ahrar al-Sham profitierte in ihren Offensiven von den Selbstmordattentätern der personell deutlich kleineren Al-Nusra-Front, die den Weg freisprengten und den Weg für die zahlenmäßig deutlich größeren Verbände der Ahar al-Sham ebneten.
Durch die Trennung könnte die neue Fath al-Sham nun versuchen, noch enger mit Ahrar al-Sham zusammenzuwachsen, was ihr bislang verwehrt geblieben ist. Die Vereinigung beider Gruppierungen hatte Ahrar al-Sham im Januar 2016 mit der Begründung abgelehnt, man wolle die Al-Qaida-Vergangenheit der Al-Nusra nicht als Ballast in eine neue gemeinsame Gruppierung hineinholen. Das hätte die bisherigen Bemühungen Ahrar al-Shams unterminiert, sich dem Westen als strategischen Partner in Syrien gegen den „IS“ anzubieten.
Ob eine Vereinigung nun gelingen könnte bleibt jedoch fraglich. In der gemeinsam besetzten Stadt Idlib westlich von Aleppo herrschen deutliche Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Gruppen in der Frage, wer die Stadt verwalten soll. Das Ergebnis: beide Gruppierungen beherrschen voneinander getrennt unterschiedliche Stadtteile in Idlib. Ob Ahrar zukünftig näher an Fath al-Sham herantreten wird, gilt abzuwarten, da Ahrar bei dieser Entscheidung auch an den eigenen Rückhalt in der syrischen Bevölkerung denken muss. Während viele Mitglieder von Ahrar al-Sham aus Syrien stammen und entsprechende Kontakte zur dortigen Bevölkerung besitzen, sind die Kommandanten der Fath al-Sham mehrheitlich nicht-syrische Araber von der arabischen Halbinsel und aus dem Irak. Das erschwert eine Kontaktaufnahme zu lokalen Einwohnern und Entscheidungsträgern, erklärt zugleich aber die Attraktivität einer engeren Kooperation für Fath al-Sham mit Ahrar al-Sham und anderen syrischen Oppositionsgruppen.
Ein Störmanöver gegen die USA und Russland?
Jüngst haben sich die Vereinigten Staaten und Russland darauf verständigt, künftig stärker bei der Bekämpfung von dschihadistischen Organisationen in Syrien zusammenzuarbeiten. Neben dem „IS“ sollten von nun an auch vermehrt Einsätze gegen die Al-Nusra-Front geflogen werden. Bereits im Vorfeld dieser Entscheidung taten sich beide Länder schwer, die jeweiligen Akteure am Boden voneinander zu unterscheiden. Sollte Fath al-Sham nach ihrer Trennung eine engere Zusammenarbeit oder Zusammenschlüsse mit weiteren Aufstandsgruppen in Syrien eingehen, so würde die Trennschärfe der Gruppe zu anderen Gruppierungen weiter abnehmen.
Fath al-Sham kann mit ihrer Trennung auf zweierlei Weise vorübergehend einen Vorteil erlangen. Einerseits hofft Fath al-Sham mit diesem Schritt das Übereinkommen Russlands und der USA zeitweise ins Stocken zu bringen, was eine Intensivierung der Luftangriffe hinauszögern könnte. Dies würde Fath al-Sham mehr Zeit verschaffen neue Bündnisse auszuhandeln. Andererseits versucht sie die Verknüpfung der Syrien-Lösung mit einem stärkeren Engagement gegen dschihadistische Organisationen wie Fath al-Sham seitens der Russen und US-Amerikaner zu torpedieren.
Sowohl die Al-Qaida-Führung um Al-Zawahiri als auch Al-Jolani wissen, dass die Bekämpfung des dschihadistischen Terrors einer der wenigen gemeinsamen Nenner der russischen und U.S.-amerikanischen Politik in Syrien ist. Die Bewertung, welche Gruppierungen als terroristisch aufgefasst und somit angegriffen werden kann, unterscheidet sich jedoch zwischen den beiden Staaten. Sollte Fath al-Sham mit dieser Störaktion Erfolg haben, so hätte dies unter Umständen Auswirkungen auf das Finden einer Friedenslösung für den seit fünf Jahren andauernden Bürgerkrieg in Syrien.
Die russisch-amerikanische Abmachung, verstärkt gegen Fath al-Sham vorzugehen, ist Teil der Anstrengungen, eine landesweite Waffenruhe wiederherzustellen. Eine vorübergehende Feuerpause, die Aufhebung der Belagerungen sowie die Verteilung von Hilfsgütern gelten als zentrale vertrauensbildende Maßnahme zwischen den Konfliktparteien, bevor die Friedensgespräche erneut aufgenommen werden können. Die ehemalige Nusra-Front ist bislang, genau wie der „IS“, von einer landesweiten Feuerpause ausgenommen, wodurch auch weiterhin Angriffe gegen die Gruppen geflogen werden. Sollte sich Fath al-Sham nun neuen Gruppen zuwenden, so könnte dies eine Gefährdung der in der Vergangenheit ohnehin bereits brüchigen Waffenruhen bedeuten, da Al-Nusra bereits in der Vergangenheit ihre Bündnispartner wiederholt zu Verstößen gegen die Waffenruhe provoziert hat.
Fath al-Sham als neuer Heilsbringer für das syrische Volk?
Mit der organisatorischen Trennung will sich Fath al-Sham als neuer Heilsbringer für das syrische Volk inszenieren, das sie vor weiterem Leid bewahren wollen. Al-Jolani verweist dabei auf die Weisung von Osama bin Laden, der das Wohl der islamischen Gemeinschaft (´ummah) als erstrebenswerteres Ziel ansieht, als das Wohl der Gruppe, einer Organisation oder eines Individuums.
Das Wohl der syrischen Bevölkerung besteht in den Augen von Al-Qaida wie auch Fath al-Sham jedoch in der Etablierung einer islamisch-gerechten Ordnung nach konservativer-salafistischer Lesart, was im Widerspruch zu den ursprünglich säkularen, nationalistischen Forderungen der Demonstranten 2011 steht.
Daher ist es fraglich, inwiefern Fath al-Sham mit dieser Aussage auch das Wohl von nicht-muslimischen Minderheiten oder Schiiten im Blick hat. Das gleiche gilt für säkulare Oppositions-Gruppierungen, die den Freiheitskampf gegen das Assad-Regime weder unter dem Banner des Dschihad führen, noch sich Fath al-Sham anschließen oder unterordnen wollen.
Klar ist: Die Betonung des Wohls des syrischen Volkes ist mehr taktisches Argument zur Einflussgewinnung als ein humanitärer Anspruch.
Dies könnte sich negativ auf die gemäßigten säkularen Oppositionsgruppen in Syrien auswirken. Diese beklagen bereits mangelnde Unterstützung durch das Ausland und laufen Gefahr, zwischen den pro-Assad Gruppen (Hizbollah, von Iran ausgebildete schiitische Milizen; die reguläre syrische Armee) sowie den extremistisch-dschihadistischen Akteuren zerrieben zu werden.
Mit der Trennung von Al-Qaida hat Fath al-Sham die Möglichkeit, andere Oppositionsgruppen auch mit dem Verweis auf die eigene effektive Schlagkraft, auf sich aufmerksam zu machen. Gerade aber säkulare Gruppen werden dies angesichts des weiterhin bestehenden dschihadistischen Charakters von Fath al-Sham nicht tun können.
Fest steht, dem Wohl des gesamten syrischen Volkes, unabhängig vom politischen oder religiösen Bekenntnis, hat die Entscheidung der Al-Nusra nicht wirklich geholfen. Ihre Trennung macht die politische Gemengelage am Boden noch unübersichtlicher, was sich erschwerend für die dringend benötigte Friedenslösung und Einstellung der Kampfhandlungen auswirkt. Die ursprüngliche Aussage Bin Ladens, das Wohl der `ummah vor die Interessen der Gruppe zu stellen, wird damit auf dem Altar der Einflussvergrößerung der Fath al-Sham geopfert.
Ein vorbereitender Schritt für ein Syrien nach dem „IS“?
Die Neugründung der Fath al-Sham unter Beibehaltung einer dschihadistischen Ideologie kann auch als vorbereitender Schritt für eine Zeit nach dem „IS“ in Syrien interpretiert werden. Die militärischen Anstrengungen der Anti-„IS“-Koalition zeigen Wirkung. Allein in Syrien hat die Terrororganisation über 20% ihres ursprünglichen Herrschaftsgebiets eingebüßt. Mit der zunehmenden Schwächung des „IS“ werden die Einheiten der Al-Nusra zunehmend kampfstärker und werden in Aleppo bereits schlagkräftiger als der „IS“ eingeschätzt.
Diesen Vorteil versucht die Organisation beizubehalten, um im Falle eines Niedergangs des „IS“ in Syrien in das entstehende dschihadistische Vakuum zu stoßen. Al-Jolani hat in der Videobotschaft angekündigt, dass die Organisation an den ideologischen Zielen Al-Qaidas festhalten wird, beispeilsweise an der Etablierung einer islamischen Regierung, der Einführung der Herrschaft der shari´a sowie, als Fernziel, der Errichtung eines islamischen Kalifats.
In Idlib sind die ersten Ansätze dieser Fernziele sichtbar. Allerdings ist sich Fath al-Sham der Sensibilität dieses Ansinnens bewusst. Die Begriffe eines islamischen Staates und einer islamisch-gerechten Ordnung sind durch das blutig sektiererische Auftreten des „IS“ zu sehr negativ belegt, als dass Fath al-Sham sie bereits jetzt als Begriff eines Gegenmodells zum „IS“ benutzen könnte. Der Schritt, nun stärker für das syrische Volk einzutreten kann daher auch als ein Schritt angesehen werden, eine salafistisch-dschihadistische, wenngleich moderatere Alternative zu begründen. Die Etablierung eines Herrschaftssystems war für den „IS“ das identitätsstiftende Merkmal und Teil seiner Anziehung für internationale Dschihadisten. Sollte die Organisation durch die Anti-„IS“-Koalition zerschlagen werden, könnte Fath al-Sham darauf spekulieren, ehemalige „IS“-Kämpfer in ihre eigenen Reihen aufzunehmen, indem sie ihrerseits an der Gründung eines eigenen Staatswesens arbeiten.
Fath al-Sham – eine Terrororganisation?
„We judge a group by what they do, not by what they call themselves.“
Der Pentagon-Sprecher John Kirby zeigt mit dieser Aussage, dass die Taten von Fath al-Sham in der kommenden Zeit mehr Auskunft über den Charakter der neuen Gruppe sowie über die Qualität der organisatorischen Trennung der Gruppe von Al-Qaida liefern werden, als deren Worte.
Indem sie einen neuen Namen gibt, versucht sich die Gruppe zwar tendenziell neu zu erfinden, ihre dschihadistische Vergangenheit und ihre Angriffe innerhalb Syriens wiegen jedoch zu schwer, als dass eine Neufirmierung dieses Erbe überdecken könnte.
Mit der Entscheidung hat Fath al-Sham für eine kurze Zeit ein strategisches Moment um mit ihren Aktionen zu beweisen, dass man sich wirklich von Al-Qaida distanziert hat. Doch ganz gleich, wie Fath al-Sham dieses Moment nutzen wird, die Rechnung zahlt vor allem das syrische Volk.