Mit Meshaal Tammo wurde am Freitag vergangener Woche einer der bekanntesten und bedeutendsten kurdischen Oppositions-Politiker Syriens von Milizionären des Assad-Regimes getötet. Mit dem Tod der Symbolfigur könnten der kurdische Aufstand, aber auch die landesweite Protestbewegung langfristig eine neue Dynamik erhalten. Obwohl es in den vergangenen Monaten Demonstrationen in und um Qamishli, der größten Stadt im syrischen Teil Kurdistans gab, hat der Protest der größten ethnischen Minderheit Syriens bisher keineswegs seine volle Stärke gezeigt. Zu zurückhaltend waren die Reaktionen vieler kurdischer Oppositionsführer auf den landesweiten Protest, zu gering die Anzahl der Demonstranten.
Meshaal Tammo, Vorsitzender der Kurdischen Zukunftspartei und Mitglied im neugegründeten Syrischen Nationalrat, hatte sich hingegen schon frühzeitig für eine kurdische Beteiligung am gesamtsyrischen Aufstand eingesetzt. Seine Partei steht für eine neue Linie und Denkrichtung innerhalb der kurdischen Oppositionsbewegung in Syrien: Die Idee, den Kampf für die eigenen ethnischen Rechte in eine gesamtsyrische Demokratiebewegung einzubetten und nicht mehr gesondert für Partikularinteressen einzutreten.
Diese radikale Neuorientierung hatte sich im Rahmen des Damaszener Frühlings vor knapp 10 Jahren in drei kurdischen Parteien institutionalisiert: in Meshaal Tammos Kurdischer Zukunftspartei, der Azadi-Partei sowie der Yekiti-Partei. Diese drei Parteien arbeiteten eng zusammen, parallel dazu wurden Verbindungen zu anderen oppositionellen Gruppierungen und Persönlichkeiten des zivilen Widerstandes in Syrien aufgebaut. Diese Grundidee und Vorgehensweise stand dabei im krassen Gegensatz zu der Linie etablierter kurdischer Parteien. „Die alten Parteien wurden in den letzten Jahrzehnten immer stärker vom Mukhabarat, dem syrischen Geheimdienst, unterwandert und verfolgen nicht selten persönliche oder tribale Machtinteressen. Durch eine Beteiligung am gesamtsyrischen Aufstand sehen sie diese gefährdet.“ erklärt Sabir, ein im Exil lebender Kurde aus Qamishli.
Vor diesem Hintergrund lässt sich auch erklären, warum die Parteien der neuen Denkrichtung im Juni eine gemeinsame Erklärung veröffentlichten, in der sie ihre offizielle Unterstützung für die syrische Freiheitsbewegung erklärten, während die alte Garde weitestgehend für einen Dialog mit Assad und eine kurdische Zurückhaltung eintrat. Seit Beginn des syrischen Aufstandes im März, hatte das Assad-Regime diverse Zugeständnisse an die kurdische Bevölkerung gemacht. Unter anderem wurde zehntausenden bislang staatenlosen Kurden aus dem Nordosten Syriens die Möglichkeit gewährt, die syrische Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Zudem waren die Reaktionen der Sicherheitskräfte in den kurdischen Städten und Gebieten lange Zeit zurückhaltend und weitgehend gewaltfrei, während Demonstrationen in arabischen Städten, wie Daraa, Homs, Hama und Idlib brutal niedergeschlagen wurden. „Viele Kurden hat diese plötzliche Sonderbehandlung tatsächlich dazu gebracht, den Protesten kritisch gegenüberzustehen. Es ist eben verwirrend wenn man jahrzehntelang die unterdrückte Gemeinschaft war und dann ganz plötzlich die Möglichkeit bekommt, besser behandelt zu werden als der Rest des Landes.“ sagt Sabir.
„Wir sitzen alle im gleichen Boot“
Mit der Ermordung Tammos sieht er diese Zurückhaltung jedoch gebrochen. So habe sein Tod vielen vor Augen geführt, dass das Regime sich nicht plötzlich für die Kurden einsetze, sondern lediglich diejenigen in Ruhe lasse, die Repressionen und Freiheitsbeschränkungen akzeptierten. „Im Endeffekt sitzen wir eben doch alle im gleichen Boot und haben unter den gleichen Repressionen gelitten. Die Ermordung einer so bedeutenden Persönlichkeit wie Tammo stellt daher eine Provokation für jeden syrischen Kurden dar, auch wenn er grundsätzlich eher einer konkurrierenden Ideologie angehört,“ erklärt Sabir.
Der Trauerzug bei Meshaal Tammos Beerdigung, dem sich laut Augenzeugen am vergangenen Samstag etwa 50.000 Menschen anschlossen, breite Proteste in den kurdischen Bezirken in Aleppo und der Sturm auf fünf syrische Botschaften in Europa als klare Reaktion auf Tammos Ermordung scheinen diese Annahme zu bestätigen. Angesichts dessen dürfte sein Tod auch gegen den Willen verschiedener Parteiführungen langfristig zu einer breiteren kurdischen Partizipation an den gesamt-syrischen Aufständen führen.
Zusätzlich könnten die gewalttätige Reaktion der Sicherheitskräfte auf den riesigen Trauerzug bei seinem Begräbnis und die Tatsache, dass es dabei zu weiteren Toten kam, eine Art Dominoeffekt auslösen. Während die Teilnahme an einer Demonstration eine persönliche Entscheidung darstellt, gleicht die traditionelle Begleitung der Särge vielmehr einer sozialen Verpflichtung. Ein Umschlagen dieser Massenversammlungen in einen erneuten Protest gegen das Regime könnte wiederum zu weiteren Toten und damit weiteren Versammlungen führen. Ähnlich den Entwicklungen vor Monaten in Daraa, würde sich die kurdische Protestbewegung in Qamishli dabei verselbstständigen und bald ihre volle Stärke offenbaren.
Der Einfluss einer solchen Entwicklung auf die gesamt-syrische Protestbewegung hängt entscheidend von der Reaktion des syrischen Regimes ab. So birgt eine rücksichtslose und langfristige Militäraktion, wie sie in Jisr al-Shughur, Daraa, Homs und Hama stattfand, in der Grenzstadt Qamishli das Risiko einer umfassenden türkischen Gegenreaktion. Sollte das syrische Regime mit einer ähnlichen Brutalität wie in Jisr al-Shughur reagieren, könnte dies auch hier Tausende zu einer Flucht in die Türkei bewegen. Während die Aufnahme von über 10.000 flüchtenden arabischen Sunniten auf eine breite Zustimmung innerhalb der türkischen Bevölkerung gestoßen ist, dürfte ein Ansturm durch kurdische Flüchtlinge wenig Sympathie finden. Die Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Staat und der eigenen kurdischen Bevölkerung sind in den letzten Monaten zunehmend eskaliert.
Auch wenn lediglich Teile der syrischen Kurden mit der türkischen PKK sympathisieren, könnte ihre bloße Anwesenheit daher die innenpolitischen Spannungen um ein Vielfaches verschärfen. Eine bereitwillige Aufnahme von mehreren tausend Flüchtlingen aus Qamishli erscheint daher kaum als akzeptables Szenario für den türkischen Ministerpräsidenten Erdogan. Vor diesem Hintergrund sind die zunehmenden Drohungen Ankaras mit einer militärischen Intervention in Syrien durchaus als Vorbereitung auf eine solche Entwicklung aufzufassen. Insbesondere die im Juni diskutierte Sicherheitszone innerhalb Syriens könnte Realität werden, sollte Erdogan Flüchtlinge aus Qamishli befürchten. Ein ähnliches Vorgehen hatte Ankara schon 1991 im Irak gewählt um einen kurdischen Flüchtlingsstrom Richtung Türkei zu stoppen.
Arabische Beduinen helfen bei der Niederschlagung des kurdischen Aufstands
Nicht nur angesichts dieser Gefahr einer umfassenden türkischen Reaktion erscheint eine breit angelegte syrische Militäraktion zur Unterdrückung der Proteste in Qamishli eher unwahrscheinlich. So hat die syrische Führung schon jetzt mit Kapazitätsproblemen zu kämpfen. Eine gesicherte Loyalität zum Regime besteht angesichts gehäufter Desertationen nur noch bei ausgewählten Militäreinheiten. Sollten diese in das abgelegene Qamishli im Nordosten des Landes entsendet werden, ergebe sich ein Zeitfenster von mehreren Tagen, in dem es zu einem erneuten Aufflammen der Proteste in den zurückgelassenen, arabischen Protesthochburgen wie Daraa, Homs oder Hama kommen könnte.
Da die Proteste der Kurden grundsätzlich einfacher als Separatisten-Aufstände und vermeintliche Gefahr für die arabische Identität des Landes dargestellt werden können, erscheint eine Prioritätensetzung auf die arabischen Aufstandszentren wahrscheinlicher. Auch gibt das Flachland in der Region keine Möglichkeit zum Aufbau guerillaähnlicher Strukturen, wie sie dem syrischen Regime in der bergigen Landschaft um Jisr al-Shughur drohten. „Solange es nicht zu Angriffen auf die lokalen Ölpipelines kommt, glaube ich nicht, dass das Regime einen radikalen militärischen Eingriff in Qamishli für notwendig hält. Eine Einschränkung von Demonstrationen durch ein gewalttätiges Eingreifen lokaler Kräfte dürfte ihnen vorerst genügen“ meint auch Sabir.
Zu den lokalen Kräften zählen dabei vordergründig die im Umland lebenden Beduinen. Von der Regierung in den 70er Jahren angesiedelt, um eine Arabisierung der Region zu fördern und eine zivile Kontrolle über die Kurden zu ermöglichen, stellen sie eine absolut regierungstreue Gemeinschaft dar. „Diese Stämme wurden auf enteignetem Land angesiedelt. Ohne die schützende Hand der Assads müssen sie damit rechnen alles zu verlieren. Ihre Loyalität zum Regime steht daher außer Frage. Diese Regierung hat 40 Jahre lang daran gearbeitet Kurden und Araber in der Region gegeneinander aufzuhetzen, das haben sie schon in der Vergangenheit genutzt und können sie auch jetzt nutzen“ sagt Sabir.
Die Errichtung dieses sogenannten „Arabischen Gürtels“ hatte dem Regime schon 2004 bei der Niederschlagung eines breiten Kurdenaufstandes geholfen. „Früher hat uns der Geheimdienst bei Demonstrationen festgenommen, heute schicken sie meinen arabischen Nachbarn, damit er mich verprügelt," kommentierte Meshaal Tammo diese Entwicklung schon vor Jahren in einem Interview.
Im Gegensatz zu dem plötzlichen und massenhaften Flüchtlingsansturm aus Jisr al-Shughur wäre daher eher mit andauernden aber kleineren kurdischen Flüchtlingswellen in Richtung Türkei zu rechnen. Offen ist, wie lange die türkische Regierung bereit ist, dem tatenlos zuzusehen. Auf lange Sicht wäre ein Eingriff durch die Türkei jedoch wahrscheinlich. Die desertierten Soldaten, die selbst ernannte Syrische Freiheitsarmee, könnten von einer solchen Intervention profitieren und auch weitere Soldaten oder Offiziere dazu bewegt werden, die eigene Position zu überdenken. Die Folge wäre eine verstärkte Militarisierung der syrischen Protestbewegung.